Wie Charts die Buchbranche steuern

Kolja Mensing im Gespräch mit Joachim Scholl |
Es ist eine literarische Institution, die jeder Leser kennt: die Bestsellerliste. Mittlerweile bringen zahlreiche Medien ihre eigenen Listen heraus. Doch wie kommen die heute zustande und wie groß ist ihre Bedeutung für Verlage und Publikum, in Zeiten von E-Books und Online-Bestellungen?
Joachim Scholl: Alle großen Zeitungen und Magazine veröffentlichen sie regelmäßig, aber auch Radiosender, etwa der Südwestrundfunk gibt eine heraus, und der geschätzte Kollege vom Deutschlandfunk, Dennis Scheck, tritt sie in seiner TV-Sendung "Druckfrisch" sogar wortwörtlich in die Tonne – die Bestsellerliste. Immer wieder diskutiert, oft geschmäht. Jeder schaut drauf, und wir wollen jetzt mal dahinter schauen. Kolja Mensing, Literaturredakteur in unserem Sender, er ist bei uns im Studio – ich grüße Sie!

Kolja Mensing: Hallo, Herr Scholl!

Scholl: Wir hier im Deutschlandradio Kultur bilden uns ja etwas darauf ein, dumme Anglizismen zu vermeiden, aber dieser ist so was von eingedeutscht: Bestseller. Es gibt kein deutsches Wort, nicht wahr?

Mensing: Nein. Es ist verrückt, aber es gibt das wirklich nicht. Und das ist auch nicht dem Zeitgeist geschuldet oder dem bösen Internet. Es ist tatsächlich so: In den 20er-Jahren hat es dieses Problem schon gegeben. Damals hat die literarische Welt die erste Bestsellerliste in Deutschland eingeführt. Und die haben damals ein Preisausschreiben veranstaltet, um ihre Leser zu fragen, wie man das denn jetzt, den Bestseller, auf Deutsch nennen kann – ergebnislos. Das heißt, seit 100 Jahren heißen die Dinger, Bücher, die sich gut verkaufen, heißen auf Deutsch Bestseller, auch im Deutschlandradio Kultur.

Scholl: Und wie der Begriff kommt auch die Bestsellerliste aus dem englischsprachigen Raum. Es begann mal wieder in Amerika, wann genau denn?

Mensing: Tatsächlich. Und das ist auch ganz gut belegt. Also Ende des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt 1895, hat eine amerikanische Literaturzeitschrift, "The Bookman" heißt die, eine kleine Liste mit Bestsellern eingeführt und abgedruckt. Man kann sich natürlich vorstellen, Ende des 19. Jahrhunderts in den USA, da gab es gar keine zeitnahen Verkaufszahlen. Ob sich ein Buch gut verkaufte, wusste ein Verleger erst, wenn die ganze Auflage weg war, und ob die Autoren das je erfahren haben, das weiß man überhaupt nicht. Das heißt also, die Bücher, die auf diese Liste kamen, das waren Bücher, von denen die Redakteure der Zeitschrift nun hofften, dass sie sich gut verkaufen würden. Und das hat sich eigentlich bis heute gehalten: Bestsellerlisten haben auch immer sehr viel mit Wünschen und Hoffnungen zu tun.

Scholl: Das ist sozusagen eine Bestenliste nach Empfehlungen.

Mensing: Tatsächlich, ja.

Scholl: Kommen wir mal zur populärsten und vielleicht auch bekanntesten hierzulande. Das ist die Bestsellerliste des "Spiegel", sie wird auch abgedruckt in Buchhandlungen, es richten Buchhandlungen sogar ihr Sortiment nach dieser Bestsellerliste – wie kommt die zustande?

Mensing: Das hat sich stark gewandelt. Es gibt diese Liste seit den 60er-Jahren, und am Anfang war das so, dass ausgewählte Buchhändler in Deutschland Listen mit Titeln lieferten, die sich nach ihrer Einschätzung gut verkauften. Daraus wurde dann die "Spiegel"-Bestsellerliste generiert. Wenn man sich aber mit Buchhändlern aus dieser Zeit unterhält, dann weiß man: Besonders genau waren diese Angaben nicht. Das waren quasi so gefühlte Zahlen. Genaue Zahlen gibt es eigentlich erst, seit Buchhandlungen Warenwirtschaftssysteme eingeführt haben, das heißt Computer, die im Laden stehen und die verzeichnen, wie viele Bücher sind verkauft worden, wie viele haben wir noch auf Lager. Das ist in den großen Ketten seit den 90er-Jahren, also Thalia, Hugendubel oder so, und die kleinen Buchhandlungen ziehen da so seit zehn Jahren etwa nach. Und seitdem hat man genauere Zahlen, und seitdem wird die Spiegel-Bestsellerliste aus einem Sample von 400 Buchhandlungen hochgerechnet. Ganz wichtig, das muss man dazu sagen: Es gibt eine Konkurrenzliste, GFK Media Control, das ist ein Marktforschungsunternehmen, die erheben ebenfalls auf ähnlicher Basis Zahlen, haben aber einen viel größeren Sample, und man sagt, dass diese Zahlen genauer sind. Das sind die Listen, die in "Focus", "Stern" und "Gong" stehen.

Scholl: Weiß man eigentlich, wie viele Bücher genau verkauft wurden oder werden müssen, um, sagen wir, auf Platz eins zu kommen?

Mensing: Ja, das ist ja irgendwo auch was Putziges. Bei Verlagen ist man natürlich total superglücklich, wenn ein Titel aus dem eigenen Haus auf der Bestsellerliste landet. Aber über genaue Zahlen will dann eigentlich niemand so richtig reden. Aber nur mal so zur Einschätzung: Jussi Adler-Olsen, der ist zurzeit mit drei Büchern auf den Bestsellerlisten vertreten. Diese Bücher verkaufen sich offenbar aus dem Stand heraus mit 80.000 Exemplaren. Wenn man auf diese Liste will, reichen heute 25.000 verkaufte Exemplare. Das waren früher viel mehr. Vor 20, 30 Jahren hätte man 100.000 Exemplare gesagt.

Scholl: Das heißt also, wenn man auf die Liste überhaupt drauf kommt, auf Platz 20 geht es, glaube ich, los – dann hat man schon 25.000 Exemplare verkauft?

Mensing: Nein, nein. Die Größenordnung ist eher so: Es gibt natürlich Bücher, die ganz schnell in großen Mengen verkauft werden. Aber wenn man insgesamt von einem Buch 25.000 Exemplare verkauft hat, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass man auch auf der Bestsellerliste war. Genauer kriegt man es nicht.

Scholl: Also wenn der Autor morgens am Montag den "Spiegel" aufschlägt: Ich bin auf der Bestsellerliste! – dann kann er nicht sagen: Ach super! 50.000 Exemplare verkauft!

Mensing: Nein. Vor allem ist das Ziel des Verlags natürlich immer, dass man auf diesen Listen lange bleibt. Die haben ja so eine selbstverstärkende Funktion, sie sind ein Umsatzverstärker. Wenn ich erst mal drauf bin, dann will der Verlag auch – da soll ich jetzt drauf bleiben mit meinem Buch. Das heißt, sie organisieren für den Autor neue Marketingaktionen und so weiter. Das ist ganz wichtig. Man will einen Longseller schaffen.

Scholl: Das ist wahrscheinlich automatisch auch ein Verkaufsinstrument. Das heißt, sowie ein Titel auf der Liste steht, nach oben klettert, ziehen die Zahlen wahrscheinlich automatisch an, so gewissermaßen als Selffulfilling Prophecy, weil Kunden das Buch sehen, sich erinnern, ach ja, das ist ja ein Bestseller, den kaufe ich mir jetzt mal.

Mensing: Das ist auf jeden Fall so. Und darum ist das für einen Verlag natürlich das Ziel, auf diese Listen zu kommen. Und es gibt – darüber wird tatsächlich nur unter der Hand, hinter vorgehaltener Hand geredet: Es gibt immer wieder Versuche gezielter Einflussnahme. Bestimmte Titel werden aussortiert von den Listenredakteuren, weil sie formalen Kriterien nicht entsprechen. Verlage rufen dann an, machen Druck und wollen trotzdem drauf. Gleichzeitig, und das finde ich interessant, weil das ist gerade, was auf dem Markt eigentlich passiert: Gleichzeitig sind die Leser und Kunden selbstbewusster geworden. Die wünschen sich, heute offenbar viel mehr als nur eine so große Liste mit Belletristikbestsellern, eine mit Sachbüchern. Die wollen eigentlich differenzierte Listen, die nach Genres aufgeschlüsselt sind – und das ist so der Trend. "Amazon.de2 macht uns das vor mit eigenen Rankings für amerikanische Krimis oder für Kinderbücher für Kinder im Vorschulalter und so weiter. Und interessant: Die kleinen Buchhändler in der Provinz da draußen, die versuchen das auch, mit ganz eigenen Listen, persönliche Empfehlungen oder regionale Bestseller.

Scholl: Die Bestsellerliste. Rund um sie spricht mit uns Literaturredakteur Kolja Mensing hier im Deutschlandradio Kultur. Stichwort Genres. Wenn man heute auf eine beliebige Bestsellerliste schaut, dann dominiert eigentlich immer die Unterhaltungsliteratur, also Krimis stehen oft ganz oben, Jussi Adler-Olsen haben Sie gerade genannt. Der räumt zurzeit alles ab, hat man das Gefühl. War das eigentlich immer so? Ich bin auf eine Statistik gestoßen, die die "Spiegel"-Bestsellerliste der 60er-Jahre analysierte, und da stand etwa doch der sehr anspruchsvolle Roman "Hundsjahre" von Günter Grass mal 48 Wochen auf den vorderen Plätzen. Sind das dann Ausnahmen oder war früher alles besser.

Mensing: Nein, früher war es genauso. Dieser Streit ist so alt wie die Bestsellerliste selbst, also Qualität oder Quantität – worum geht es? Es war tatsächlich so, dass in den 60er-Jahren diese Listen extrem geschönt waren. Da tauchten viele Bücher auf, die eigentlich eher Empfehlungen waren als echte Bestseller. Heute ist die Datenerhebung objektiver, und das heißt natürlich, Romane und Unterhaltungsromane, Krimis und so weiter verkaufen sich gut, und darum stehen sie eben auf den Listen. Interessant ist, und das finde ich wichtig, trotzdem liefern auch heute die Bestsellerlisten ein ganz verzerrtes Bild vom Buchmarkt. Ich habe in den letzten Wochen immer mal wieder Buchhändler gefragt, was denn jetzt eigentlich die Titel sind, die sich bei ihnen am besten verkaufen, was geht denn am besten? Die zeigen dann immer ganz leicht verschämt hinten in die Ecke mit den Geschenkbüchern. Das sind dann so kleine Büchlein mit Sinnsprüchen, mit romantischen Aphorismen, kleine Blumenfotos dazu, so Titel wie "Du bist das Beste, was mir je passiert ist" – das sind die eigentlichen Bestseller in den Buchläden heute. Die tauchen auf keiner Liste auf. Zusammen mit den Non-Book-Artikeln, das kennen Sie. Diese kleinen LED-Leselampen, Frühstücksbrettchen, lustig verpackte Schokoladentafeln, das geht im Buchladen wahnsinnig gut.

Scholl: Ist die Bedeutung von Bestsellerlisten für den Buchmarkt, die Verlage heutzutage größer als früher? Oder ist das so wie bei den Titeln, es ist eigentlich immer dasselbe?

Mensing: Nein, ganz klar: Wir haben pro Jahr 90.000 deutschsprachige Neuerscheinungen. Das heißt, einen Platz auf der Bestsellerliste ist immer noch die beste Chance, ein Buch nicht nur gut zu verkaufen, sondern sehr, sehr gut. Gleichzeitig aber nehmen zurzeit andere Marketingstrategien zu. Wenn man einen richtigen – jetzt gebrauche ich das Wort auch mal – einen richtigen Megaseller landen will, dann reicht so ein Platz auf der "Spiegel"-Liste eigentlich nicht aus. Man braucht da so eine permanente mediale Aufmerksamkeit, und das geht am besten mit Titeln, die an Film- und Fernsehproduktionen angedockt sind. Stichwort ist hier Cross-Media-Marketing. Ein ganz aktuelles Beispiel hierzu: In zwei Wochen läuft hier in Deutschland dieser Fantasyfilm "Tribute von Panem – Tödliche Spiele" – die Plakate hängen schon überall in den Städten. Dazu gibt es natürlich ein Buch zum Film, das ist bereits in den Charts von "Focus" und "Stern". "Spiegel" hat es irgendwie aussortiert. Außerdem gibt es Fan-Bücher und einen Haufen Non-Book-Artikel. Schmuckstücke für Kinder, Notizbücher im Buchladen. Mit dem, was wir in der Literaturredaktion als Literatur behandeln, hat das alles ganz wenig zu tun, aber so wird Kasse gemacht, tatsächlich.

Scholl: In diesem Zusammenhang ist übrigens auch ein Streit ganz interessant, Herr Mensing, der sich zurzeit um eben diese "Spiegel"-Bestsellerliste dreht. Der Spiegel hat im letzten Jahr begonnen, Taschenbücher wie gebundene Bücher zu behandeln, also die Hardcover nicht mehr zu trennen. Jetzt aber wollen sie zum alten Modell zurückkehren, und die Verlage protestieren heftig dagegen. Wie ist das zu verstehen?

Mensing: Es ist furchtbar kompliziert. Es geht auch nicht wirklich um Taschenbücher und Hardcover, sondern um Hardcover und sogenannte Softcover-Bücher. Das ist kompliziert. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie man eigentlich am besten, am meisten Umsatz im Buchhandel machen kann. Ein paar Verlage, allen voran "dtv" haben Bücher auf den Markt gestellt, die einen weichen Umschlag haben wie ein Taschenbuch, aber insgesamt so ein bisschen aufwendiger gemacht sind. Flexycover, Softcover nennt man das. Jussi Adler-Olsen ist das beste Beispiel dafür. Kunden haben das extrem bereitwillig angenommen. Nun hat der Spiegel diese Bücher von der Hardcover-Liste genommen, hat gesagt: Die haben doch gar kein Hardcover, die sind nicht gebunden. Darauf gab es großen Streit mit dem vorläufigen Ergebnis, im Herbst soll es eine eigenständige Softcover- oder Flexycover-Liste geben. Das finden die Buchhändler aber wieder zu verwirrend für ihre Kunden, und die Sache ist einfach noch nicht entschieden. Und aus meiner Sicht muss ich sagen, das ist ein Streit, der eigentlich zehn Jahre zu spät kommt. Wir haben schon gesagt, wir sind durch das Internet längst auf dem Weg zu vielen verschiedenen kleinen Listen statt der einen großen Liste.

Scholl: Zum Schluss, Kolja Mensing, es gibt ja nun, und seine Bedeutung wächst stetig, das E-Book, das Buch als Download. Das wird vermutlich die nächste Bestsellerliste sein, oder?

Mensing: Ja natürlich. Der E-Book-Verkauf hat in den ersten Monaten des Jahres stark angezogen. Das ist so die Marktnachricht, die man um Leipzig herum hören wird, und während der Buchmesse werden tatsächlich Gespräche geführt, offenbar zwischen Verlagen und GFK Media Control. Es soll so eine Liste realisiert werden. Das Problem ist dabei wieder das Zählen. Es gibt so viele verschiedene Verkaufswege, Onlinebuchhandel, aber auch direkt beim Verlag – man weiß einfach im Moment noch nicht, wie man es zählen soll.

Scholl: Rund um das Phänomen der Bestsellerlisten. Das war Kolja Mensing. Er ist Literaturredakteur hier im Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen für das Gespräch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links auf dradio.de:

Magie und Marketing Wie Bücher Bestseller werden
Die Spiegel-Bestsellerliste Belletristik. Der literarische Menschenversuch im Deutschlandfunk
Viel literarische Mehlpampe. Denis Scheck kommentiert die Spiegel-Bestsellerliste "Belletristik"
Mehr zum Thema