Wie Darwin beeinflusst wurde
Keiner hat die Idee vom göttlichen Schöpfungsplan der belebten Welt oder (wenigstens) der Zielgerichtetheit der natürlichen Prozesse so gründlich zersetzt wie der britische Naturforscher Charles Darwin. Mit seinem Hauptwerk "Die Entstehung der Arten" (1859) etablierte er die Vorstellung, dass die Natur von stetem Wandel, Zufall und Unvollkommenheit geprägt ist. Die Evolutionstheorie rechnet den Menschen zur Ordnung der Primaten - was bis heute geknickte Gemüter hinterlässt und Kreationisten zum Gegenschlag motiviert.
In ihrer brillanten Studie "Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837-1874" zeigt Julia Voss, dass Abbildungen, Zeichnungen und Diagramme die Theoriebildung immens beeinflusst haben. Es entsteht ein tiefenscharfes Panoptikum jener wissenschaftlichen und populären Bildwelten bzw. visuellen Techniken des 19. Jahrhunderts, mit denen Darwin, selbst ein mäßiger Zeichner, in effektiver Wechselwirkung stand.
Es ist auch eine Mode: Allenthalben weisen Kulturwissenschaftler nach, dass Bilder im wissenschaftlichen Denken nicht bloße Illustrationen, sondern Aktivposten sind, ohne die Erkenntnis anders oder im Sande verliefe. In "Darwins Bilder" geht Julia Voss jedoch über jeden intellektuellen Schnickschnack hinaus. Sie zeigt durch Intensivstudien von vier berühmten Bildzeugnissen – das Bild der Galápagosfinken aus "Reise eines Naturforschers" (1845); das Evolutionsdiagramm aus "Die Entstehung der Arten" (1859); eine Bildreihe zu Flügelornamenten des Argusfasans aus "Abstammung des Menschen" (1871); das Bild des lachenden Makaken (-Affen) aus "Ausdruck der Gemütsbewegung" (1872) –, dass Darwin mit der Arbeit am Bild die Arbeit am Text vorwegnahm, überholte und manchmal gleich ganz ersetzte.
"I think" schrieb Darwin ins "Notebook B" von 1837. Es folgten keine Worte, es folgte ein Diagramm von ausgefingerten Linien, das von der möglichen Variation der Arten im Zusammenhang der Generationen handelt. Die unscheinbare Zeichnung – nur ein Krickelkrakel, könnte man glauben – ist praktisch das Leitmotiv aller folgenden, jahrzehntelangen evolutionstheoretischen Überlegungen.
Julia Voss hat sich in sämtliche Darwinschen Arbeitsmethoden eingearbeitet und zeigt den Privatgelehrten in bester archäologischer Manier als Genossen seiner Zeit, seiner Kollegen, seines Wissenshorizontes, seiner Medien. Das Galápagosfinken-Kapitel erzählt etwa von der effektiven Zusammenarbeit Darwins mit dem Tier-Präparator und Taxonomen John Gould, der durch seine Heimarbeit in London viel mehr Vögel untersuchen konnte, als Darwin je auf seiner Weltreise mit dem Expeditionsschiff Beagle. Während aus Vögeln Bälge, aus Bälgen Typusexemplare, aus Typusexemplaren Skizzen, Zeichnungen und Lithographien werden, wird plötzlich Erkenntnis frei. Darwin bemerkt: Die zahlreichen Abweichungen in den Finken-Bildern, zumal die Variationen des Schnabels sind am besten zu erklären, wenn man keine kunstvolle, womöglich göttliche Ordnung oder eine andere Zweckmäßigkeit annimmt, sondern Zufall und Unordnung in die Theorie von der Entwicklung integriert. Weil auf diesem Erkenntnisweg die Lithografie eine Rolle spielt, erklärt Voss en passant die Eigenheiten dieser (ehemals) fortschrittlichen Illustrationstechnik. So funktioniert gute Wissenschaftsgeschichte.
Durch "Darwins Bilder" werden alte Klischees – etwa das vom einsamen Genie – ein weiteres Mal widerlegt, aber auf ein revolutionär verändertes Darwin-Bild geht Julia Voss nicht aus. Sie zeigt den Naturforscher als Virtuosen des Sehsinns und wie er durch neuartige Bild-Collagen die naturhistorische Tradition des 19. Jahrhunderts hinter sich ließ. Dabei missbraucht sie das Darwinsche Werk niemals zum bloßen Beleg steiler medientheoretischer Thesen (von der Art, dass das Bild selbst der Träger des Denkprozesses ist) und hält sich fern von gesinnungspolitischen Grabenkämpfen zwischen Schöpfungs- und Evolutionsgläubigen. Die Attraktivität der Lektüre verdankt sich nicht zuletzt der vorzüglichen Bebilderung, der humorvollen Zitat-Auswahl und einer bestimmten geistigen Atmosphäre. Der Dichter Ossip Mandelstam hat Charles Darwin dafür gelobt, dass in seinen Büchern "anregende Klarheit" und "gutes Wissenschaftswetter" herrsche. Das gleiche lässt sich von Julia Voss’ "Darwins Bilder" sagen.
Rezensiert von Arno Orzessek
Julia Voss:
Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 – 1874
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main,
Juni 2007, 379 Seiten, 79 Abbildungen, 12,95 Euro.
Es ist auch eine Mode: Allenthalben weisen Kulturwissenschaftler nach, dass Bilder im wissenschaftlichen Denken nicht bloße Illustrationen, sondern Aktivposten sind, ohne die Erkenntnis anders oder im Sande verliefe. In "Darwins Bilder" geht Julia Voss jedoch über jeden intellektuellen Schnickschnack hinaus. Sie zeigt durch Intensivstudien von vier berühmten Bildzeugnissen – das Bild der Galápagosfinken aus "Reise eines Naturforschers" (1845); das Evolutionsdiagramm aus "Die Entstehung der Arten" (1859); eine Bildreihe zu Flügelornamenten des Argusfasans aus "Abstammung des Menschen" (1871); das Bild des lachenden Makaken (-Affen) aus "Ausdruck der Gemütsbewegung" (1872) –, dass Darwin mit der Arbeit am Bild die Arbeit am Text vorwegnahm, überholte und manchmal gleich ganz ersetzte.
"I think" schrieb Darwin ins "Notebook B" von 1837. Es folgten keine Worte, es folgte ein Diagramm von ausgefingerten Linien, das von der möglichen Variation der Arten im Zusammenhang der Generationen handelt. Die unscheinbare Zeichnung – nur ein Krickelkrakel, könnte man glauben – ist praktisch das Leitmotiv aller folgenden, jahrzehntelangen evolutionstheoretischen Überlegungen.
Julia Voss hat sich in sämtliche Darwinschen Arbeitsmethoden eingearbeitet und zeigt den Privatgelehrten in bester archäologischer Manier als Genossen seiner Zeit, seiner Kollegen, seines Wissenshorizontes, seiner Medien. Das Galápagosfinken-Kapitel erzählt etwa von der effektiven Zusammenarbeit Darwins mit dem Tier-Präparator und Taxonomen John Gould, der durch seine Heimarbeit in London viel mehr Vögel untersuchen konnte, als Darwin je auf seiner Weltreise mit dem Expeditionsschiff Beagle. Während aus Vögeln Bälge, aus Bälgen Typusexemplare, aus Typusexemplaren Skizzen, Zeichnungen und Lithographien werden, wird plötzlich Erkenntnis frei. Darwin bemerkt: Die zahlreichen Abweichungen in den Finken-Bildern, zumal die Variationen des Schnabels sind am besten zu erklären, wenn man keine kunstvolle, womöglich göttliche Ordnung oder eine andere Zweckmäßigkeit annimmt, sondern Zufall und Unordnung in die Theorie von der Entwicklung integriert. Weil auf diesem Erkenntnisweg die Lithografie eine Rolle spielt, erklärt Voss en passant die Eigenheiten dieser (ehemals) fortschrittlichen Illustrationstechnik. So funktioniert gute Wissenschaftsgeschichte.
Durch "Darwins Bilder" werden alte Klischees – etwa das vom einsamen Genie – ein weiteres Mal widerlegt, aber auf ein revolutionär verändertes Darwin-Bild geht Julia Voss nicht aus. Sie zeigt den Naturforscher als Virtuosen des Sehsinns und wie er durch neuartige Bild-Collagen die naturhistorische Tradition des 19. Jahrhunderts hinter sich ließ. Dabei missbraucht sie das Darwinsche Werk niemals zum bloßen Beleg steiler medientheoretischer Thesen (von der Art, dass das Bild selbst der Träger des Denkprozesses ist) und hält sich fern von gesinnungspolitischen Grabenkämpfen zwischen Schöpfungs- und Evolutionsgläubigen. Die Attraktivität der Lektüre verdankt sich nicht zuletzt der vorzüglichen Bebilderung, der humorvollen Zitat-Auswahl und einer bestimmten geistigen Atmosphäre. Der Dichter Ossip Mandelstam hat Charles Darwin dafür gelobt, dass in seinen Büchern "anregende Klarheit" und "gutes Wissenschaftswetter" herrsche. Das gleiche lässt sich von Julia Voss’ "Darwins Bilder" sagen.
Rezensiert von Arno Orzessek
Julia Voss:
Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 – 1874
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main,
Juni 2007, 379 Seiten, 79 Abbildungen, 12,95 Euro.