Wie das Leben so spielt

Peter Stamms Roman kreist um Zufälligkeiten. In scheinbar festen Bahnen verlaufende Leben geraten aus der Spur. Der Autor hat für fast jedes seiner Bücher nationale Auszeichnungen erhalten. Vermutlich ist das bei seiner jüngsten Veröffentlichung wieder zu erwarten.
Ein Autounfall verändert Gillians Leben radikal. Ihr Mann Matthias, der am Steuer des Unfallwagens saß, konnte einem Reh nicht mehr ausweichen – es war Zufall oder eine Laune des Schicksals. Bei diesem Unfall verliert Matthias sein Leben und Gillian ihr Gesicht. Das ist die tragische Ausgangssituation in Peter Stamms Roman "Nacht ist der Tag", der aus drei Teilen besteht.

Gillians Gesicht war ihr Label. Nun muss die einst erfolgreiche TV-Journalistin damit leben, dass es weder dieses Gesicht noch dieses Leben weiterhin gibt. Im Rückblick erscheint Gillian, die sich in einer ihrer E-Mail Adressen "Fräulein Julie" nennt, ihr früheres Leben wie eine Inszenierung. Etwas musste an diesem Leben, so scheint es ihr, falsch gewesen sein, wenn es so leicht zu zerstören war. Mehrfach finden sich in Peter Stamms Roman Bezüge zu August Strindbergs Skandalstück "Fräulein Julie" (1888), das vom Untergang einer jungen Frau handelt. Im Vorwort zu diesem Stück spricht Strindberg vom "rauen, zynischen, herzlosen Schauspiel des Lebens" und der "Ausnahme", auf die er sich in seinem Stück beziehen will, um die "Regel" zu zeigen.

Peter Stamm inszeniert in seinem Roman ein modernes Trauerspiel Strindbergscher Provenienz, in dem die Katastrophe durch Nacktfotos von Gillian ausgelöst wird, die Matthias kurz vor dem Unfall entdeckte. Der Künstler Hubert Amrhein hat die Fotos von Gillian gemacht. Zu ihm fühlte sich Gillian damals hingezogen, ohne dass Hubert ihre Zuneigung erwidert hätte. Peter Stamm hätte diesen Plot zu einer bemerkenswerten Geschichte verdichten können. Angesiedelt zwischen Schein und Sein wäre der Zufall als unberechenbarer Daseinsregisseur in Erscheinung getreten. Doch dabei wollte es Stamm nicht belassen.

Im zweiten Teil des Romans verfolgt Peter Stamm Huberts Entwicklung, der einst ein gefragter Künstler war. Früh wurde er Professor, aber bald versiegten seine künstlerischen Inspirationen. Durch einen Zufall finden diese beiden Verlorenen nach Jahren erneut zueinander. In einem kleinen Bergdorf, wo er seine neuesten künstlerischen Arbeiten zeigen soll, trifft er Gillian erneut, die sich jetzt Jill nennt, und als Entertainerin in einem Hotel arbeitet.

Zweimal lässt Peter Stamm die Lebenswege seiner beiden Protagonisten sich kreuzen. Ein erstes Mal begegnen sie sich, als beide erfolgreich sind. Jahre später treffen sie sich erneut wieder, doch nichts erinnert mehr an das erfolgreiche Leben, das sie einst geführt haben. Während es Gillian gelingt, aus der Katastrophe als eine Andere hervorzugehen, erweist sich das unspektakuläre Leben, das Hubert führt, als Katstrophe.

Peter Stamms Roman kreist um Lebenszufälligkeiten. Scheinbar in festen Bahnen verlaufende Leben werden aus der Bahn geworfen. Gillian hat einmal in ihrem Leben eine vermeintliche Grenze überschritten, als sie sich nackt fotografieren ließ. Als eine schicksalhafte Antwort muss sie daraufhin die nackte Wahrheit über ihr bisheriges Leben zur Kenntnis nehmen.

Besprochen von Michael Opitz

Peter Stamm: Nacht ist der Tag
Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
252 Seiten, 19,99 Euro
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