"Land der aufgehenden Sonne, das wir lieben und schätzen / Geliebte Heimat unserer tapferen Helden /Wir müssen unser Leben verteidigen oder untergehen"
So heißt es in der Nationalhymne von Biafra. Basierend auf dem Choralteil der Finlandia von Jean Sibelius, beschwört die Hymne den Freiheitswillen des neuen Staates. Sein Name leitet sich von alten Seefahrerkarten her, auf denen die Region "Biafar" verzeichnet ist. Auf der Flagge strahlt eine aufgehende Sonne.
"Heil dir Biafra, geheiligte Nation / O Vaterland, dies sei unser feierliches Gelübde: /
Deiner Verteidigung sei all unsere Hingabe gewidmet."
Die Macht der Bilder
29:59 Minuten
Mit drastischen Bildern von hungernden Kindern warben Aktivisten 1968 um Unterstützung für Biafra. Geliefert wurden sie größtenteils von einer PR-Agentur. Und so ist die Geschichte Biafras auch ein Lehrstück über die Macht der PR in Krisen und Konflikten.
Sommer 1968. Nachrichtenagenturen wie Associated Press erschüttern die Welt mit Filmen, Fotos und Berichten von spindeldürren Kindern mit ballonförmig aufgeblähten Bäuchen, die irgendwo im fernen Westafrika dem Hungertod ausgesetzt sind.
"In Biafra leben auf engstem Raum zusammengedrängt 14 Millionen Menschen", heißt es am 15. Juli im ARD-Fernsehmagazin Panorama:
"14 Millionen Menschen, die seit einem Jahr von der Außenwelt abgeschnitten sind – 14 Millionen Menschen, für die es keine Milch, kein Fleisch, keine Eiweiße gibt. Man sieht überall in Biafra Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen, mit verfärbten Haaren und verfärbter Haut, Zeichen von akutem Proteinmangel."
"Viele, vor allem die Jüngsten, sehen aus wie die schlimmsten Opfer von [Bergen-]Belsen", kommentiert am 4. Juli die Londoner Times die Ereignisse.
"Die Erinnerung an den Holocaust ist eine ganz zentrale Referenz für die Art und Weise, wie Biafra im Westen durch diese Bilder angekommen ist", sagt Lasse Heerten, Zeithistoriker an der Ruhruniversität Bochum.
"Erstmals wird ein Völkermord im Fernsehen gezeigt", schreibt der Spiegel am 19. August 1968 in seiner Titelgeschichte. "Menschen, die Biafra vor wenigen Monaten noch für ein neues Waschmittel hielten, spenden und demonstrieren für die Ibo[*]-Republik, einige riskieren sogar ihr Leben."
Letztlich ein Konflikt um Öl?
Was war im fernen Westafrika geschehen? Die Antwort führt zurück in die Kolonialzeit. 1862 hatten die Briten Lagos und die Umgebung der Stadt zum Protektorat erklärt und in den Jahren darauf das Gebiet des heutigen Nigeria unterworfen. Wie man es von Kolonialmächten kennt, hatten auch die Briten bei der Grenzziehung keine Rücksicht auf kulturelle oder ethnische Gegebenheiten genommen – mit dem Ergebnis, dass verschiedene Volksgruppen auf engem Raum zusammengezwängt wurden: im Norden die muslimisch geprägten Hausa und Fulani, im Westen die gemischtkonfessionellen Yoruba sowie in der südöstlichen Küstenprovinz die überwiegend christlichen Igbo. Letztere hatten sich unter dem Einfluss vor allem irischer Missionare zu einer bildungsbeflissenen Elite entwickelt, deren Angehörige immer mehr Schlüsselstellungen im ganzen Land errangen.
Am 1. Oktober 1960 erlangt Nigeria die Unabhängigkeit. Es erhält eine föderale Verfassung und bleibt Mitglied im British Commonwealth. Von nationaler Einheit kann jedoch keine Rede sein. Stattdessen entbrennt ein erbitterter Machtkampf um die Hegemonie. Erst putscht die weitgehend von Igbo-Offizieren geführte Armee gegen die von Hausa dominierte Zentralregierung. Dann erobern die Hausa die Macht zurück. In den Städten des Nordens richten aufgehetzte Hausa-Bauern ein Blutbad an, dem mindestens 30.000 Igbos zum Opfer fallen. Die Überlebenden flüchten in ihr Stammland zurück.
Verschärft wurde der Konflikt dadurch, dass im Nigerdelta, nahe dem Siedlungsgebiet der Igbo, Erdöl entdeckt worden war. Am 27. Mai 1967 verabschiedete die Zentralregierung eine Gebietsreform, bei der die administrativen Grenzen so gezogen wurden, dass die Igbo keinen Zugriff auf das Erdöl und keinen Zugang zum Meer gehabt hätten. Um dem drohenden Kontrollverlust über den wirtschaftlich florierenden Teil Nigerias zuvorzukommen, rief der Militärgouverneur der Südostregion Emeka Ojukwu, selbst ein Igbo, am 30. Mai 1967 die Unabhängigkeit der Republik Biafra aus.
In den frühen Morgenstunden des 6. Juli 1967 überschreiten nigerianische Truppen die Grenze Biafras. Was als eine auf 48 Stunden anberaumte Polizeiaktion gedacht ist, weitet sich zum ersten blutigen Bürgerkrieg Afrikas nach dem Ende der Kolonialzeit aus. Im Westen treffen erste Meldungen von der sich anbahnenden humanitären Katastrophe ein, auch erste Schreckensbilder von verhungernden Kindern.
"Ich sehe jetzt nicht, dass Caritas und Diakonie sich in Biafra engagiert haben, weil die Medien mit drastischen Bildern – und das war sicherlich erstmals in so einer Katastrophe der Fall – darauf hingewiesen hatten", sagt Oliver Müller, Leiter der katholischen Hilfsorganisation Caritas International:
"Im März 1968 hatten sich die nigerianischen Bischöfe in einem dringenden Appell an die deutschen Bischöfe gewandt und um Hilfe gebeten. Und über die irischen Missionare, die schon während der britischen Kolonialzeit in Biafra waren, hatten wir sehr genaue Vorstellungen über die Notsituation dort."
Als Informationsquelle tat sich unter anderen Francis Akanu Ibiam hervor. Er war einer der sechs Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf, auch "Weltkirchenrat" genannt – und er war selbst ein Igbo. Monatelang reiste er quer durch Europa, warb für die Anerkennung Biafras und verbreitete die griffige These vom Christenmord in seiner Heimat.
Auch die Sowjetunion und China mischten mit
Diese Vereinfachung des Konflikts erleichterte zwar das Einsammeln von Spenden für Hilfslieferungen, überging aber die Tatsache, dass sich christliche Volksgruppen wie die Yoruba auf die Seite der nigerianischen Zentralregierung geschlagen hatten, deren Präsident Yakubu Gowon selbst Christ war.
Kriegstreibend waren weniger Taufscheine als Nigerias Ölvorräte. Sie gehörten zur Domäne der britischen Gesellschaften BP und Shell. Und so schickte London sofort Gewehre, Haubitzen, Panzerfahrzeuge und Militärberater, als Präsident Gowon um Hilfe bat. Auf der Gegenseite bekundete Frankreichs staatliche Erdölgesellschaft Safrap beträchtliches Interesse an Schürfrechten, sodass Paris Waffen nach Biafra lieferte. Und dann waren da noch die Sowjets, die nach diversen Misserfolgen endlich wieder Fuß in Afrika fassen wollten und Migs, Iljuschins, Bomben, Geschütze und Techniker nach Nigeria entsandten – woraufhin Biafra Waffen von China erhielt. Aber die nigerianischen Truppen erwiesen sich als stärker. Im Mai 1968 eroberten sie die Hafenstadt Port Harcourt und schnitten Biafra von der Versorgung ab. 14 Millionen Menschen waren eingekesselt.
"Während in Biafra die Niederlassungen britischer Firmen in Flammen aufgehen, sorgt eine amerikanische Werbeagentur in Genf dafür, dass die Welt auf das Schicksal der Ibo aufmerksam wird", so das NDR-Magazin Panorama am 15. Juli 1968. Die Agentur hieß "MarkPress", ihr Gründer und Besitzer war der Amerikaner H. William Bernhardt.
Im November 1967 waren zwei biafranische Minister nach Genf geflogen, um Bernhardt zur Zusammenarbeit zu bewegen. Der willigte ein und präsentierte im Februar 1968 ein Konzept mit dem Titel "Fight for Survival" – "Überlebenskampf" –, das zur Grundlage der PR-Kampagne wurde, mit der MarkPress den europäischen Pressemarkt bearbeitete.
Der Holocaust als Referenzrahmen
25 Mitarbeiter beliefern täglich fünf große Presseagenturen wie dpa, Reuters und Agence France Presse mit Hintergrundinformationen, stündlich werden 7.000 Abzüge an Zeitungen, Funk und Fernsehen verschickt, außerdem stehen auf der Verteilerliste etwa 3.000 Mitglieder europäischer Parlamente. Damit sie sich selbst ein Bild machen können, schleust MarkPress während des gesamten Kriegsverlaufs zahlreiche Journalisten nach Biafra ein.
In einer ersten Phase hieß das wesentliche Stichwort in den Agenturmeldungen von MarkPress – und damit auch in den von der Genfer Werbeagentur versorgten Medien – "Völkermord", "genocide", "génocide".
"Wenn man sich jetzt noch mal die Bilder aus Biafra anguckt, wird man feststellen, dass diese von Unterernährung gezeichneten Körper fast durchweg nackt gezeigt wurden, dass es offensichtlich kurz vor dem Tod stehende Körper – nicht-westliche Körper – in den Medien gab", sagt Lasse Heerten von der Ruhr-Universität Bochum. In seiner Dissertation, die kürzlich bei Cambridge University Press erschienen ist, hat er analysiert, wie aus dem nigerianischen Bürgerkrieg ein globales Medien- und Protestereignis wurde.
"In der Art und Weise, wie Biafra repräsentiert wurde, stehen die Opfer sehr klar im Fokus als eine anonyme Masse. Was häufiger passiert, sind Bildunterschriften wie: "Er ist Ibo. Er ist 8 Jahre." Das reicht sozusagen, mehr brauchen wir nicht über ihn zu wissen. Er ist ein Biafra-Kind – und damit ist sein Schicksal klar."
In ihrer Apathie erinnerten die Biafra-Kinder an die Figur des "Muselmanns" in den deutschen Konzentrationslagern: Menschen, die zu lebenden Toten geworden waren.
"Das ist ganz wichtig, sich vor Augen zu führen, dass Bilder entgegen unserer Meinung nicht einfach für sich selbst sprechen, sondern erst durch bestimmte Referenzen beispielsweise zu anderen Bildern, die wir kennen, sinnhaft gemacht werden müssen", sagt Heerten. "Und die Referenzen, die bei Biafra ganz zentral waren, waren die auf den Holocaust, dass beides genozidale Verbrechen sind, die auf bestimmte Opfergruppen abzielen."
"Wie können Sie nur ruhig schlafen, Mr. Wilson?"
"A wie Auschwitz – B wie Biafra", war zum Beispiel auf einem Flugblatt der von den Studenten Tilman Zülch und Klaus Guercke in Hamburg gegründeten "Aktion Biafra-Hilfe" zu lesen. Aus der "Biafra-Hilfe" ging später die Gesellschaft für bedrohte Völker hervor. Tilman Zülch sagte 1995 in einem Interview mit dem Saarländischen Rundfunk:
"Durch die Einschließung Biafras verhungerten jeden Tag 10.000 Kinder. Und wir hatten dann die Vorstellung, wir müssen die Waffenlieferungen aus Großbritannien beenden und die Regierungen Europas müssen der britischen Regierung sagen, so etwas geht nicht."
Am 12. Februar 1969 berichtete der Südwestfunk (SWF) anlässlich des Besuchs des britischen Premierministers Harold Wilson in Bonn:
"Die Demonstranten, fast durchweg Studenten, trugen Plakate mit sich, auf denen zu lesen war: 'Wilsons Waffen – Biafras Tod. Wie können Sie nur ruhig schlafen, Mr. Wilson? 5 Millionen vom Hungertod bedroht. Wer schweigt, mordet mit'. (...) Die englischen Gäste blieben knapp 20 Minuten im Rathaus. Während dieser Zeit sangen die biafranischen Studenten einheimische Lieder. Einer zog eine kleine Handtrommel hervor, andere Ibos schlugen mit Hölzchen den Takt."
"Es war ein breites Spektrum von Menschen, die da zusammenkamen. Sie waren einfach aufgewühlt von den Bildern, die sie sahen", sagt Ulrich Delius, Direktor der Menschenrechtsorganisation "Gesellschaft für bedrohte Völker" und Nachfolger von Tilman Zülch, mit dem er Jahrzehnte zusammengearbeitet hat:
"Man muss da immer wieder sehr stark berücksichtigen, was für eine Generation das ist. Die sind im Krieg quasi aufgewachsen als kleine Kinder, waren davon traumatisiert, waren oft von Flucht traumatisiert. Und dann waren diese Bilder für sie ein Wiedersehen dieser Schrecklichkeiten, die ihr Leben beeinflusst haben. Und sie haben dann so ein ganzes Netzwerk aufgebaut von Unterstützungsgruppen in 95 Städten in Deutschland – das war schon beeindruckend – und zum Beispiel nächtliche Aktionen gemacht, wo dann auf Bahnhöfen in mehreren hundert Städten plötzlich Plakate geklebt wurden: 'Tut was gegen die Hungerblockade in Biafra!'"
Kein Thema für die 68er-Studenten
Eigentlich hätte es nahe gelegen, dass auch die 68er-Studenten, die gegen den Vietnamkrieg und den US-Imperialismus auf die Straßen gingen, Teil der Biafra-Unterstützer gewesen wären. Aber, sagt Ulrich Delius: "Bei vielen der orthodoxen Bewegungen passte das nicht so richtig ins Weltbild rein, eine ethnische Gruppe, die für einen unabhängigen Staat kämpft und Kolonialismus anprangert, gleichzeitig aber die Sowjetunion die Gegenseite direkt mit Waffen und auch politisch unterstützt. Und das war das Problem, dass man sehr schnell auf Granit biss, wenn man das kritisierte und ausgegrenzt wurde als Revisionist oder Ewiggestriger, weil man nicht die Führungsrolle der Sowjetunion anerkennen wollte."
Lasse Heerten von der Ruhr-Universität meint: "Das ist wiederum andererseits auch einer der Gründe, warum wir jetzt nicht mehr so viel über Biafra nachdenken oder warum Biafra nicht wirklich Teil unseres Bildes der 60er-Jahre ist: In der Folge wurde 68 vor allem über ehemalige Beteiligte der 68er-Studentenproteste erzählt. Und dabei sind dann andere Proteste, die vielleicht nicht revolutionäre linke Proteste waren, ein Stück weit in Vergessenheit geraten."
"Photos, Berichte, Zahlen gehen tagtäglich ein. Fernsehberichte tragen den unmenschlichen Prozeß in jede Familie." So Günter Grass während einer Demonstration der "Aktion Biafra-Hilfe". "Nach dem Abendessen schauen wir zu, wie in Biafra gehungert und gestorben wird."
Inzwischen war die Genfer PR-Agentur MarkPress in die zweite Phase ihrer Kampagne übergegangen, in der das Stereotyp vom Völkermord um die Formel "Hunger" ergänzt wurde. Die Emotionalisierung der Deutschen durch die Berichte über das "Hungergespenst" in Biafra war enorm.
"Weder Vietnam noch die Ereignisse in der Tschechoslowakei haben die Menschen so bewegt wie das Hungern der Ibos", sagte damals Harald Graf von Posadowsky-Wehner, damals Afrika-Referent im Auswärtigen Amt. Die Bundesregierung spendete mehrere Millionen Mark, während das Auswärtige Amt eine distanzierte Haltung bewahrte und das Regime des nigerianischen Präsidenten Gowon als einzige legitime Regierung ansah. Umso mehr bereiteten die Demonstrationen und Proteste dem Amt Unbehagen. Auch war man von der Afrikaberichterstattung in der deutschen Presse irritiert, denn da gab es auffallend wenig Unterschiede.
Die Argumente wurden nicht überprüft
Woher kamen plötzlich die ganzen Berichte über den Bürgerkrieg in Nigeria? Die Frage wurde Günter Kieslich unterbreitet, der an der Universität Salzburg Publizistik lehrte und zuvor Referent der deutschen Kultusministerkonferenz gewesen war. Kieslich reichte die Frage an seinen Studenten Gernot Zieser weiter, der sie zum Thema seiner Dissertation erhob, die er 1970 abschloss. Es ist die erste europäische Fallstudie, die sich mit der Rolle von PR-Agenturen in Konfliktsituationen befasst. Zieser besuchte nicht nur MarkPress und andere Agenturen. Noch 50 Jahre später erinnert er sich besonders an die jungen Leute, die er in den zahlreichen Biafra-Komitees befragte:
"Ich habe des Öfteren gehört, sie wollen nicht den Fehler machen wie ihre Eltern, die in der NS-Zeit die Augen zugemacht haben und nichts gesagt haben. Sie müssen was unternehmen. Und das ging dann sehr, sehr schnell ohne genaue Prüfung, welche Argumente von Biafra eigentlich der Realität entsprechen. Das Kuriose dabei ist, die Komitees haben gesagt, MarkPress habe gar nichts gemacht, mit denen haben sie nichts zu tun, sondern sie haben sehr intensiv Nachrichten aus Zeitungen gesammelt oder Rundfunkstationen abgehört usw., um eigene Flugzettel oder Zeitschriften produzieren zu können – und dass diese Komitees gar nicht gewusst haben, dass sie eigentlich Material von MarkPress verwenden.
Es hat auch Aktivitäten gegeben, wo das Nichtwissen der westlichen Welt ausgenutzt wurde. Es gibt ein Foto vom Markt, wo Rattenfleisch gekauft wird, weil die Hungersnot so groß ist. Dieses Foto ist um die ganze Welt gegangen. Wenn man die Verhältnisse in Nigeria besser kennt, dann weiß man, dass Rattenfleisch eine Delikatesse ist und den höchsten Preis hat. Und das ist erstaunlicherweise von niemandem angeschnitten worden."
Schwierige Bedingungen für internationale Hilfe
"Das Echo war überaus erfreulich und hat es uns ermöglicht, eine große Helfergruppe nach Nigeria-Biafra zu entsenden, die in den letzten Monaten viele Hunderttausende von Flüchtlingen betreut hat. Aber der Krieg geht weiter und die Vorräte leeren sich." So Walter Bargatzky, der damalige Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, am 28. Juli 1968 im Weltspiegel der ARD. "Wie groß die Not ist, mögen Sie daraus ermessen, dass das Internationale Komitee den Bedarf für die nächsten Monate allein auf 100 Millionen Mark bemisst.
Im August und September 1968 hatte das DRK Ärzte, Krankenpfleger, Techniker und Fahrer nach Nigeria geschickt. Auch zahlreiche andere Rotkreuzgesellschaften – zum Beispiel aus den Niederlanden, der Schweiz und Frankreich – entsandten Hilfsmannschaften. Vorausgegangen waren zähe Verhandlungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Genf mit der nigerianischen Regierung in Lagos: Nur unter strengster Einhaltung der Neutralitätspflicht gemäß der "Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten" war es dem Roten Kreuz erlaubt, Notleidende auf beiden Seiten des Krieges mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen.
Nigeria selbst hielt sich jedoch nicht an die Konvention und bombardierte gezielt Krankenhäuser und belebte Marktplätze. Präsident Gowon machte überdies klar, dass seine Truppen nicht für die Sicherheit der weißen Flugzeuge mit dem international bekannten Logo des roten Kreuzes garantieren können. Und tatsächlich: Im Juni 1969 wurde eine Maschine abgeschossen, woraufhin das Internationale Rote Kreuz seine Hilfsflüge einstellte und sich die Versorgungslage in Biafra weiter verschlechterte.
Eine Luftbrücke für Biafra
Am Morgen des 24. Juli 1968 startet eine DC-7 vom Frankfurter Flughafen. Es ist das erste gemeinsam von Caritas und Diakonie gekaufte Flugzeug. An Bord befinden sich 12 Tonnen Fleischkonserven, Milchpulver und Medikamente. Es ist der Beginn des wohl aufwendigsten Projektes in der Geschichte der zivilen humanitären Hilfe: die Luftbrücke nach Biafra.
Das Problem war: Die Republik Biafra war international kaum anerkannt, nämlich nur von Tansania, Gabun, Zaire, der Elfenbeinküste und Haiti. Die UNO hielt den Krieg für einen internen Konflikt und stand damit hinter der nigerianischen Regierung. Das tat auch die Organisation für Afrikanische Einheit OAU, die befürchtete, Biafra könne in ihren eigenen Mitgliedsstaaten Schule machen und Sezessionsgelüste wecken. Und westliche Länder hüteten sich, zwischen die Fronten von Großbritannien und Frankreich beziehungsweise Russland und China zu geraten. Eine humanitäre Intervention gegen den Willen Nigerias verletzte demnach die Souveränität des Landes – zumindest haftete ihr der Ruch der Parteilichkeit an. Oliver Müller, Leiter von Caritas International:
"Ich denke nicht, dass man das Engagement von Caritas und Diakonie als Parteinahme sehen kann. Das ist der Auftrag von Hilfsorganisationen: hungernden Menschen, Menschen in Not beizustehen. Und das wurde damals gemacht. Es ist in dem Zusammenhang auch wichtig darauf hinzuweisen, dass nicht nur den Menschen in Biafra geholfen wurde, sondern auch sehr viele Hilfstransporte nach Nigeria gingen."
Ludwig Geißel, damals Direktor der evangelischen Hilfsorganisation Diakonisches Werk, sagte am 20. August 1968 im Südwestfunk:
"Man kann ohne Übertreibung sagen, dass jede Maschine, die Waren in Biafra abgeliefert hat, die Lebenserhaltung und Lebenssicherung für 1.000 Menschen im Zeitraum von 20 Tagen sichert."
Hungerbilder, die an den Zweiten Weltkrieg erinnerten
Die Berichte aus Biafra waren so aufrüttelnd, dass sich mittlerweile kirchliche Organisationen aus aller Welt an der Hilfsaktion beteiligten. Um diese ökumenische Bewegung zu koordinieren, lud Geißel Vertreter der christlichen Hilfswerke Europas und Nordamerikas nach Frankfurt am Main und unterbreitete ihnen einen Organisationsplan, der einen Monat später in Kraft trat. Die "Joint Church Aid" – "Gemeinsame Kirchenhilfe" – war geboren. Ihr Logo waren zwei Fische.
Als Standort entscheidet man sich für São Tomé, eine Atlantik-Insel vor der Küste Nigerias, die noch unter portugiesischer Kolonialherrschaft steht. In Biafra dient eine Dschungelpiste bei Uli als Landeplatz. Die von den Skandinaviern neu gegründete Nordchurch übernimmt die Verantwortung für die Flüge. Caritas internationalis mit Sitz in Rom koordiniert die im Krisengebiet eingesetzten Hilfskräfte.
Den Hilfsgüter-Nachschub organisieren Diakonie und Caritas. Reedereien gewähren Wohltätigkeitsrabatte für Hilfsgüter, in West- Europa, Kanada und den USA drucken Zeitungen Gratisanzeigen mit Spendenaufrufen. Fluggesellschaften wie Air France und Germanair stellen Piloten frei, Krankenhäuser bewilligen Ärzten Sonderurlaub für ihren Einsatz in Biafra, Regierungen von über 40 Staaten spenden in Millionenhöhe.
Insgesamt beteiligten sich 37 kirchliche Organisationen aus 32 Ländern an der Luftbrücke. Mit von der Partie war auch das American Jewish Committee, nachdem irische Missionare in New York vorstellig geworden waren. Lasse Heerten:
"Die Missionare zeigen dort die Fotografien der Biafra-Kinder, und die Leitung des American Jewish Committee fühlt sich dann auch direkt an Bilder aus den 1940er-Jahren erinnert und meint: 'Dieses Mal müssen wir aktiv werden. Jetzt ist das wie die Stimmen, die aus den Vernichtungslagern geflohen sind und denen damals nicht genug Glauben geschenkt wurde.' Und das ist das erste Mal, dass sich die Organisation für eine nichtjüdische Sache aktiv einsetzt. Das heißt, die Missionare liefern auch eine Deutung der Ereignisse mit, dass jetzt geholfen werden muss, um eine Art zweiten Holocaust zu verhindern."
"Also diese Hungerbilder: Sie sind ja real gewesen!", die damals im Auftrag des Diakonischen Werkes als Sekretärin auf São Tomé und in einem Kinderdorf bei Libreville in Gabun arbeitete. "Ich konnte diese Kinder nicht mehr sehen. Da haben einen Säuglinge angeschaut, die waren 100.000 Jahre alt so ungefähr. Und die Not - na klar, irgendwie muss man sie tatsächlich auch zeigen!"
Kinder wurden aus dem Kriegsgebiet geflogen
Später wurde Hannelore Hensle die Nachfolgerin von Ludwig Geißel.
"Das ist natürlich eine Wahnsinnsleistung gewesen, was da vollbracht worden ist. Die Piloten haben ja praktisch jede Nacht ihr Leben riskiert. Und es ist immer in Staffeln geflogen worden, alle 20 Minuten eine Maschine raus. Man hat kein schweres Gerät gehabt zum Entladen, aber es musste alles zack-zack ganz schnell ausgeladen werden. Und dann wieder zurück nach São Tomé, und die nächste Staffel."
Oliver Müller, Leiter von Caritas International, bestätigt: "Die Bilanz ist ja, sagen wir mal, beeindruckend. In 5.300 Flügen wurden rund 60.000 Tonnen Hilfsgüter nach Biafra gebracht. Das geschah ja unter enorm schwierigen Umständen. Dort gab es keine Lagerkapazitäten, auch die mussten aufgebaut werden. Es konnten keine großen Schiffe anlegen. Es gab keine Telefonverbindungen nach São Tomé.
Und schließlich: Es musste genügend Maschinen geben, um diesen Transport – der ausschließlich nachts stattfand, um das Risiko durch Beschießung zu vermeiden – entsprechend durchzuführen. Und so sind die Maschinen nachts, ohne jede Art von Beleuchtung, auf einer provisorischen Landepiste in Biafra gelandet. Viele Maschinen wurden auch beschossen. Also das ist ja auch die traurige Seite an dieser eigentlich fantastischen Hilfsaktion, dass 122 biafranische und 35 internationale Helfer ums Leben kamen, darunter 17 Piloten. Also es war schon ein sehr, sehr gefährliches Unternehmen."
Die Piloten transportierten allerdings nicht nur Lebensmittel und Medikamente nach Biafra. Auch in umgekehrter Richtung hatten sie eine kostbare Fracht an Bord: Kinder. Um sie vor dem Hungertod zu retten, entstanden auf São Tomé und bei Libreville in Gabun eigene Dörfer für sie mit Krankenhäusern und Schulen.
Heute sind Schockbilder verpönt
"So könnte man heute nicht mehr operieren", sagt Martin Keßler, Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, dem humanitären Hilfswerk der Evangelischen Kirche. "Heute wären andere Akteure am Start. Diese großen logistischen Aktivitäten liegen normalerweise bei den Vereinten Nationen. Wir arbeiten komplementär dazu."
Dazu gehört nicht nur das Gebot strikter Neutralität. Inzwischen wurden auch Richtlinien für die Ethik in Spendenaufrufen festgelegt. Darin heißt es, dass die Bilder die reale Situation widerspiegeln und die Arbeit der Organisationen in den Mittelpunkt stellen sollen. Auf Schockwirkung ist zu verzichten.
"Mittlerweile haben wir uns dazu entschlossen, nicht mit dem Elend der Menschen Geld zu generieren", betont Keßler. "Wir glauben, dass jeder Mensch eine Würde hat. Das ist ja in unserer christlichen Überzeugung auch niedergelegt. Und wir werden Bilder des Elends nicht vorführen, weil, niemand auf der Welt würde gerne ein Bild von sich beim Verhungern irgendwo in einer Zeitung oder in einem Fernsehen sehen. Und mit welchem Recht nehmen wir uns raus zu sagen, wir brauchen dieses Bild, um damit Geld zu sammeln, dass wir dieses Elend verhindern?"
Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker meint:
"Wir unterliegen dem deutschen Spendensiegel. Und die Standards legen ganz klar fest, keine falschen Erwartungen zu wecken, dass nicht jede Mitgliedsorganisation mit weinenden Kindern arbeitet etc. Also, da hat sich viel getan. Das heißt nicht, dass die Welt besser geworden ist. Sie ist definitiv nicht besser geworden."
Im Dezember 1969 begannen die nigerianischen Truppen mit der Schlussoffensive gegen die militärisch zunehmend geschwächten Sezessionisten. Zu diesem Zeitpunkt waren die "Biafra-Kinder" längst aus den Schlagzeilen verschwunden. Der Einmarsch der Sowjets in Prag bewegte nun die Weltöffentlichkeit. Als am 15. Januar 1970 Biafra kapitulierte, hatte sich der frühere Regierungschef Ojukwu bereits ins Ausland abgesetzt. Die Angaben über die Anzahl der Opfer des Krieges gehen weit auseinander, sie schwanken zwischen 30.000 und zwei Millionen Toten. Etwa eine Million Menschen konnten dank des internationalen Einsatzes von Hilfsorganisationen vor dem Verhungern gerettet werden.
[*] Die veraltete Schreibweise von "Igbo" ist "Ibo", die damals in den Medien noch verwendet wurde und entsprechend auch hier in den Zitaten. Allerdings wird das "g" in "Igbo" nicht ausgesprochen, sodass beide Schreibweisen gleich klingen.