Wie der Punk aufs Land kam

Von Knut Benzner |
Es muss Mitte der 70er Jahre gewesen sein. Vielleicht 1976, 1977. In der Bundesrepublik Deutschland fanden die ersten Punk-Konzerte statt. In Hamburg, in Berlin, in Düsseldorf. Die Öffentlichkeit war entsetzt. Junge Männer, Frauen beziehungsweise Mädchen waren auch darunter, aber wenige, junge Männer also mit Löchern in Jeans und Jacken, mit kaputten Stiefeln und, wenn es sein musste, mit Sicherheitsnadeln im Ohr.
Punks nannte man sie. Er kam aus England, der Punk. Die Musik gleichen Namens sowie die soziale Bewegung. Gegen alles bürgerliche, gegen Thatcher, gegen Rock and Roll. Doch Punk war nicht nur in den Großstädten - Punk war auch in der Provinz. In Timmendorf etwa. Und Thomas Sehl war ein Punk.

"Also wenn’s um das Thema geht, bin ich Landpunker."

Punk.

"Also wir waren, wir waren, als ich Teenager war, waren wir schon so die ersten Figuren da auf’m Land."

Punk. Deutschland. Westdeutschland wohlgemerkt. Die BRD.
Die 70er Jahre. 1976, 1977, 1978. Die bleierne Zeit, Deutschland im Herbst – aber darum geht es nicht. Und wenn, nur am Rande.

Im April 1976 veröffentlicht eine Band namens The Ramones ihre erste LP. Zwei der 14 Songs heißen "Blitzkrieg Bop" und "Judy Is A Punk Rocker".

"Ich hatte ne kurze Zwischenphase bei Hamburg, in so ner Vorstadt, aber bin dann die meiste Zeit in Timmendorf gewesen. Also wenn’s um das Thema geht, bin ich Landpunker."

Im Schatten – oder im Licht – des New Yorker Clubs CBGB’s, Country, Bluegrass, Blues and Other Music For Uplifting Gormandizers, entstehen Bands wie die Heartbreakers, Television und Blondie.

"So mit 14, da war man dann, 78/79 kann ich mich an dieses Thema erinnern so. Also wir waren, als ich Teenager war, waren wir schon so die ersten Figuren so auf’m Land."

Im September 1976 treten im Londoner Club 100 The Clash, die Vibrators, The Damned und die Sex Pistols auf.
Ein Auftritt der Vibrators im Februar 1977 im Kant-Kino bringt Punk inoffiziell nach Westberlin.
Im Publikum waren auch einige Ketten schwingende Biker.

Timmendorfer Strand.

"Also wenn’s um das Thema geht, bin ich Landpunker."

Von Herbst bis Frühjahr ist Timmendorf, mit Verlaub, ein völlig toter Ort.

"Ja, kann man so sagen."

Von Frühjahr bis Herbst wiederum ist Timmendorf sehr belebt.

"Im Sommer ist es dann so, und das hat tatsächlich `ne Tradition in Timmendorf, dass da schon von den Halbstarken ab und dann über so Hippie-Leute, also ich weiß, dass Juliane Werding und Les Humphries und so Menschen da um die 70er rum waren. Also das hat so ne Tradition, dass man da so an dem Platz rum hängt in diesem, in diesem Badeort."

Und wie kann man sich das bei Thomas Sehl, als Punker, vorstellen?

"Ja schon so am Platz rum hängen und gucken, was da kommt, ne. Und dann fährt man eben rum."

Man fährt rum. In dem Auto eines Freundes, auf dem Sozius eines Mopeds, mit dem Bus – wie auch immer, man fährt rum. Durch Timmendorf, was recht schnell gegangen sein muss, vielleicht mal nach Göhl oder Gremersdorf, nach Gremitz oder Grube – man fährt rum.
"Wir hatten in dem Fall das Glück, dass da jemand ´77 in London war und die ersten Platten mitbrachte. Und so hat sich das denn gestreut."

Timmendorf. Nördlich von Lübeck. Direkt an der Ostsee. Wie viele Einwohner wird Timmendorf in jener Zeit gehabt haben? Etwa knapp 9000. Einer davon war Thomas Sehl. Zur Welt gekommen, in Bad Schwartau.

"Man wird ja dann in seinem Dorf irgendwie gar nicht mehr geboren, ne. Da geht das schon los, das Problem."

Weil es in Timmendorf kein Krankenhaus gab.

"Ganz recht, ja."

Thomas Sehl, der Landpunker, ist Jahrgang 1963, und groß geworden in und am Timmendorfer Strand. Und sah als Landpunker aus, wie man vielleicht als Landpunker aussah:

"Eben vielleicht noch nicht ganz so uniform, was ich dann auch immer so’n bisschen bedauert hab’. Also man fing an mit so Schlafanzuggeschichten, weil man nichts anderes hatte und machte die kaputt. Oder man drehte so Jacketts um und hat da hinten was drauf geschmiert, also es war noch nicht so ganz uniform. Wir wussten auch gar nicht genau, wie das geht, Punkoutfit, das wusste eben keiner so genau. Vielleicht in London auf der Kings Road oder wie das da heißt, aber wir wussten es eben noch gar nicht so genau."

Wie hätte man ausgerechnet in Timmendorf wissen sollen, wo der Punk her kam.

"Und deswegen musste man improvisieren, und das, was man so hatte, hat man dann genommen. Aber wir hatten eben gar nicht so’n Geschäft. Heute kann man ja zu H&M gehen und sich wahlweise als Hippie, Raver oder Punker verkleiden."

Das war damals nicht möglich.

"Nein."

Das darauf geschmierte auf den erwähnten Jacken?

"Ja da stand dann so was drauf wie eben so ne Ahnung davon, dass das vielleicht die richtige Richtung sein könnte, erst mal so Slogans aus Punk, irgendwie so Sex Pistols oder The Damned."

Die Bands, die Punk waren: Die Sex Pistols, The Damned – die einen waren, frei übersetzt, die "Sex-Pistolen", die anderen "Die Verdammten".

"Und dann aber auch ‚anarchy in the U.K.’, war ja so’n Titel von den ... Sex Pistols, und dann fand man eben Anarchie ganz toll."

"Also ich weiß, dass ich überhaupt keinen fundierten background hatte, was jetzt da so das Ideal jetzt so genauer umreißt, aber ich bin am Strand rum gerannt und hab’ ‚anarchy’ gebrüllt und hab’ irgendwie so geahnt, dass das mit meinem Lebensgefühl vielleicht übereinkommen könnte, in so ner autoritären Welt, die dann eben wirklich nicht ging, aus der ich so komme."

Gutbürgerliches Haus. Mittelstand. Stiefvater. So kam der Punk nach Timmendorf.
Das Lebensgefühl? Einerseits verschwommen. Andererseits recht klar: Gegen die autoritäre Welt. Punk war rebellisch, nonkonformistisch und subkulturell.
Im Sinne der Konform und Kultur war ein Punker ein Kleinkrimineller, ein Landstreicher, Abschaum und Dreck.
Gegen diesen Dreck richteten sich die Punker. Punk sein war gegen Rechts. Gegen die Konventionen, gegen die Konsumgesellschaft, respektlos, bisweilen nihilistisch, gegen die politische Linke mit ihrer Staatsgläubigkeit, somit ihren Étatismus. Punk kannte keine Ideale.

"Die Sicherheitsnadel."

Die Sicherheitsnadel.

"Genau. Ja damit hat man den Krempel zusammen gehalten, ne. Man hat es kaputt gemacht und dann aber, dass es nicht ganz vom Leibe fiel, wurde das wieder so zusammengehalten. Und man hat sich das auch in die Wangen, in die Wangen gemacht und äh, ja, um sich irgendwie so zu verrotten, nach Johnny Rotten."

Johnny Rotten war der Sänger der Sex Pistols gewesen.
Die Sicherheitsnadel hielt nicht nur die Kleidung, sondern auch Geist und Körper zusammen.

"Ja es war schon so die Verletzung, also tatsächlich das Signal: Ich bohr’ mir jetzt hier völlig sinnlos erst mal für Euch erscheinend was durch die Wange und es schon was selbst zerstörerisches, ganz bewusst eben, ne. Der Slogan war ja ‚no future’ also wir glauben eh nicht daran, dass es so weiter gehen kann, dann können wir es auch jetzt mit dem Tanz auf dem Vulkan, was ja so’n Titel von Hansaplast aus Hannover dann war, irgendwie dann auch endgültig kaputt machen. Also jetzt bereits."

Das funktionierte.

"Wo man ja heute vergebens nach sucht, nach nem Ausdrucksmittel, wenn man nun der Meinung ist, ja hier passt mir irgendwas nicht, aber wie zeige ich das, und das hat bei Punk noch mal ganz gut funktioniert, gerade in so’m Bürgertum und gerade eben auch auf’m Land, ne, also die haben uns wirklich gehasst da."

"Die" waren wer?

"Die sind eigentlich alle. Also alle drum herum."

Mit völligem Unverständnis - die Rockerbande, die Cafébesitzer, die Dorfpolizei.

"Eigentlich komplett alle und unsere Eltern natürlich, Lehrer und was da so dazu gehört. Also wenn man da Schwierigkeiten hatte, dann war das tatsächlich die beste Möglichkeit, um da so anzugreifen."

Thomas Sehls Haarfrisur war strubbelig und seifig. Über ein Jahrzehnt arbeitete er mit Seife. Auf’m Kopp.

"Auf’m Kopp."

Seife hielt die Haare zusammen.
Sehl ging, natürlich, in Timmendorf zur Schule, jeden Tag.
Das erste Punk-Konzert:

"Als wir nach Kiel fuhren, wo eine Band spielte, die tatsächlich RAF hieß, und die spielte in so nem Schweinestall. Und von da an war’s denn auch alles anders an dem Wochenende."

Timmendorf. Im Unterschied zu Kellenhusen, Dame, Neustadt, Scharbeutz, Haffkrug ein vornehmeres Bad. Mit Villen und Gästehäusern aus der Gründerzeit gilt Timmendorf heute als eines der mondäneren Ostseebäder. Der Ortskern ist historisch gewachsen, Seebad seit 1880.
Und seine Eltern?

"Ja also ich hab’ da zu dem Zeitpunkt wirklich ´n sehr gebrochenes Verhältnis mit meinen Eltern gehabt, also es war dann auch wirklich eben: Ich wollte dann auch was anderes als die wollten. Ganz klar. Und es gab ein gegenseitiges völliges Missverständnis."

"Ja, jaja, wie das so ist, ne. Also man hat da versucht, ne Zeit lang noch, diese Sachen, die man da trug, morgens weg zu nehmen und in den Mülleimer zu werfen, aber irgendwie war das ja dann doch sehr einfach, sich wieder herzustellen als Punker."

Aus dem Konfirmationsunterricht flog Sehl raus – nachdem er dem Pastor gesagt hatte, er, also Sehl, sei nur wegen des Geldes da. Was zu erwarten war mit der Einsegnung. Einige kauften sich damals ein Tonband, ein Radio oder was auch immer. Sehl wollte ein Mofa.

"Und der hat mich dann eiskalt raus geworfen. Das war ein echter Schlag in’s Kontor sozusagen."

Kein Mofa.

"Kein Mofa. Schade."

Und seine erste Timmendorfer Freundin?

"Man muss sich das vorstellen, dass Punk-Luck zu dem Zeitpunkt absolut attraktiv war. Das glaubt man so vielleicht heute nicht mehr, aber durch die Neuerfindung und durch dieser Frische hatte man so ne Ausstrahlung von was ganz Besonderem und was Modernem und so. Ob man da nun Mädchen war oder Junge, da wirkte man schon auf die anderen. Von daher war es da gar nicht so schwer eine Freundin zu finden in der näheren Umgebung. Also ich denke, mit 15 hatte ich dann auch meine erste Freundin - eine Punquette."

Was ist aus der geworden?

"Die hat mittlerweile ein erfolgreich laufendes Friseurgeschäft in Lübeck."

Hmm.

"Ja. Die macht dann noch weiter sozusagen am Äußeren."

Thomas Sehl heißt schon lange nicht mehr Thomas Sehl. Thomas Sehl ist Schorsch Kamerun. Sänger der "Goldenen Zitronen", einer Hamburger Punkband, Mitinhaber des "Golden Pudel Klubs" in Hamburg, Kamerun ist Theaterregisseur und –autor in Hannover, in Hamburg und in Zürich, hat Hörspiele für den WDR gemacht und lebt inzwischen in München.
Versöhnt mit den Eltern?

"Ähm, was diese Dinge angeht, ausgesprochen und ähm, un ähm, aber eigentlich bis zum Schluss nicht so ganz, also da gibt’s, glaube ich, immer noch ne Art von ähm, ja, da ist man noch anderer Meinung und auch ein Wertesystem ist da noch unterschiedlich, würde ich sagen. Also meine Politisierung hat da angehalten und auch meine Ideale sind da soweit existent, glaube ich, und äh, aber trotzdem ist man, kann ,man sich ja durchaus versöhnen, äh und man man macht da richtige Kompromisse, denke ich, im Zusammensein."