Wie die Nachfahren der alten Inka heute leben

Von Gottfried Stein |
Nicht alle profitieren von dem Tourismus rund um den Macchu Picchu, der sagenhaften Festung auf einem Bergplateau inmitten der peruanischen Andenkette. Viele Indios rund um die ehemalige Inka-Hauptstadt Cusco leben in bitterer Armut und ruinieren sich als billige Lastenträger für Trekkingtouristen die Gesundheit.
Choquecancha liegt nur etwa zwanzig Kilometer vom heiligen Tal entfernt. Antike Gebäude zeugen von der einstigen Hochkultur, aber Fremde verlaufen sich selten in das abgelegene Dorf. Hier leben etwa 300 Familien, Menschen, die vom Massentourismus kaum profitieren - die Nachfahren der alten Inka: Hirten, Bauern, und Weberinnen.

Die primitiven Häuser von Choquecancha sind in den steilen Berghang gebaut: Mit sonnengetrockneten Ziegeln aus Lehm und Stroh, Holz und Schilfdächern. In einem Innenhof kauern ein Dutzend Frauen auf der blanken Erde – Weberinnen, die hier im Kollektiv arbeiten und Tücher, Teppiche und Strickwaren herstellen:

"Wir sind vierzehn Frauen, wir stellen alles selber her. Wir haben Kurse gemacht, um bessere Ware herzustellen. Früher wurden wir betrogen, wenn jemand kam und uns irgendeinen Preis anbot, aber jetzt wissen wir, was unsere Produkte wert sind, wie viel Zeit wir für die Herstellung brauchen und wie viel wir für jedes Stück verlangen können."

Deliah ist die Sprecherin der Frauen. Wie die meisten spricht sie nur Quechua, eine Indiosprache. Alle tragen traditionelle Kleidung: Weite rote Röcke, bunt bestickte Blusen, Westen aus Alpacawolle, ein Lasttuch um die Schultern geknotet, in dem die Jüngeren ihre Babys einwickeln, und auf dem Kopf tellerförmige Hüte aus Filz, die gegen Wind und Sonne schützen. Und Gummisandalen, hergestellt aus alten Autoreifen, in denen Füße stecken, deren Schwielen und wie Leder gegerbte Hornhäute von den Qualen der Natur und der eiskalten Winter zeugen:

"Wir sind zufrieden mit dem Leben hier. Es ist nicht ganz leicht, in dieser Gegend zu leben, aber wir sind es gewohnt. Wir haben hier alle Kräuter, alle Materialien die wir für die Stoffe brauchen. Das einzige was wir dazukaufen ist der Koschinelle, ein roter Farbstoff, der aus Feigenkaktus gewonnen wird. Aber sonst, die Wolle, die Farben, alles andere haben wir hier. Deshalb ist es für uns etwas einfacher, hier zu leben."

Die Arbeit der Frauen ist faszinierend: Die einen spinnen mit Holzspindeln Wolle, andere rühren auf der offenen Feuerstelle den Blumen- und Kräutersud für die Farben, wieder andere stricken oder bedienen mit wieselflinken Händen ihre selbst gebastelten Webstühle, die nur aus in den Boden gerammten Stöcken bestehen. Deliah sagt, durch das Textilgeschäft habe das Dorf enorm profitiert:

"In Choquecancha gibt es jetzt eine Schule, sogar eine Oberschule in der Gegend, es gibt eine medizinische Versorgungsstation, früher gab es das nicht, jetzt mit dem Tourismus entwickelt sich die Gemeinde. Wegen der Schule und dem Zustrom der Touristen interessieren sich auch die Kinder schon für die Textilherstellung und lernen sie von Kindheit an zu schätzen, das ist anders als früher."

Deliahs Mann ist der Bürgermeister des Dorfes. Die Region ist das Ursprungsgebiet des ehemaligen Inkareiches, das sich in seinen Hochzeiten zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert bis nach Ecuador, Chile und Argentinien ausdehnte. Deliahs Mann arbeitet schon seit 12 Jahren im Tourismus, als Koch einer Raststätte am Inka-Trail, der entlang der alten Ruinenstätten bis nach Machu Picchu führt: Eine atemberaubende Route, schon von den Inkas über weite Strecken gepflastert, mit Treppenstufen, Tunneln, Stegen und Schwindel erregenden Hängebrücken – ein Paradies für Treckking-Touren, auf denen viele Männer aus der Region sich als Lastenträger etwas dazu verdienen. Aber das Geld reicht nicht:

"Hier sind alle Bauern, sie bauen verschiedene Sorten von Mais an und auch Kartoffeln in den höheren Gebieten. Und die Jungen helfen den Frauen beim Färben, beim Kräutersammeln und arbeiten so an der Herstellung der Textilien mit."

Gut vier Autostunden von Choquecancha entfernt, im Hochplateau der peruanischen Anden, liegt Cusco. Der ehemalige Königssitz ist der Knotenpunkt des Inkatourismus: Hierher fliegen von der gut dreihundert Kilometer weiter nordwestlich gelegenen Hauptstadt Lima jährlich hunderttausende von Touristen ein. Hier starten sie ihre Ausflüge in die Kultstätten des Inkareiches. Hauptattraktion ist natürlich die sagenhafte Ruinenstadt Machu Picchu, mit den immer noch gut erhaltenen Tempeln, terrassenförmigen Hausanlagen und Brunnensystemen. Gut 90 Prozent ihrer Einnahmen erzielt die staatliche Tourismusindustrie allein mit der ehemaligen Fluchtburg. Aber auch Cusco selbst ist mit seinen architektonischen Meisterwerken ein touristisches Kleinod.

Etwas abseits vom historischen Zentrum Cuscos liegt die "Casa Campesina" – das "Haus der Menschen vom Land". Hierhin verlieren sich nur wenige Touristen. Hier versuchen Entwicklungsdienste aus Europa, einen "fairen Tourismus" zu entwickeln. In einem Laden im Innenhof können Weberinnen aus den Dörfern ihre handgemachten Textilien direkt verkaufen: Tischdecken, Ponchos, Teppiche, Schals, Mützen, und so weiter. Jeder Artikel ist mit einem Schild ausgezeichnet, das genau Auskunft über Hersteller – und Preiskalkulation gibt, wie dieser Tischläufer:

"Das hier kommt aus der Gemeinde Chari, das hat unser Mitglied Margarita Cauascanco hergesellt, die Produktionskosten sind 150 Soles, der Verkaufspreis beträgt plus 40 Prozent, die allgemeine Verkaufssteuer liegt bei 19 Prozent, der Gesamtpreis beträgt also 233 Solis."

233 Solis, das sind umgerechnet etwa 55 Euro, und wahrscheinlich bekommt man ein vergleichbares Stück in einem der großen Geschäfte an der Plaza de Armas für 50 Euro. Die dortige Ware allerdings wird meistens von Zwischenhändlern in den Dörfern zu Schleuderpreisen eingekauft. Mit Projekten wie der "Casa Campesina" wird Aufklärungsarbeit geleistet. Und Leyla, die als Coordinadora, also Kontaktperson für ihr Dorf arbeitet, ist an ihrem stolzen Gesichtsausdruck das wachsende Selbstbewusstsein förmlich anzusehen:

"Wir erlauben nicht mehr, dass uns die Zwischenhändler betrügen. Wir wissen jetzt gut Bescheid. Aber es gibt natürlich viele Dörfer, in denen sie die Leute weiter betrügen, weil die nicht Bescheid wissen. Aber wir verkaufen in Cusco und wissen, wie es geht."

Zurück in den Bergen, im Cuencatal, in einem Dorf auf fast viertausend Metern Höhe:

Ana Ochoa, eine resolute ehemalige Schuldirektorin, ist heute mit einem Ärzteteam aus Cusco ins Dorf Palqa gekommen. Dutzende Indios aus den Nachbardörfern strömen auf den schmalen Trampelpfaden der umliegenden Hänge herbei, die sechzigjährige Ana runzelt die Stirn:

"Diese Leute sind von den Behörden vergessen, sie haben fast keine Infrastruktur, keine Straße, sie leben in großen Entfernungen von einander und haben nicht genug zu essen, denn sie bauen nur Kartoffeln an, und manchmal geht durch Witterungseinflüsse die gesamte Ernte verloren; wenn es hagelt, haben sie nichts zum Essen."

Einmal im Monat kommt Ana Ochoa mit anderen Mitarbeitern des Hilfsvereins Yachaq in das Dorf. Ana Ochoa ist die Vorsitzende des Vereins, und ihr Team sind eine Handvoll ehrenamtlich arbeitender Ärzte und Helfer aus Cusco:

"Wir sind eine Institution und kümmern uns seit fast 17 Jahren um die Gemeinden in den Hochanden, die sich immer noch in extremer Armut befinden. Wie Sie sehen, kommen die Leute aus großen Entfernungen, um ihre Medikamente zu bekommen und sich untersuchen zu lassen."

Auch Palqa liegt nur wenige Kilometer von den spektakulären Touristenzielen entfernt. Auch hier leben die Indios unter primitivsten, und härtesten Bedingungen. Gut ein Viertel der peruanischen Bevölkerung sind Indios, der Großteil lebt in den Andenregionen. Heute ist Sonntag, und ein Lastwagen aus der Bezirkshauptstadt Ollantaytambo bringt Lebensmittel. Ein Dutzend Indios steht an, um ein paar Kilo Reis, Mehl oder Milch zu erhaschen.

Überall auf dem Hof kauern Familien, die in stundenlangen Fußmärschen aus anderen Dörfern hergekommen sind. Das Team von Yachap hat drei Ärzte dabei, denn das Bezirkskrankenhaus in Olllantaytambo ist für die meisten zu weit entfernt. Zwischen zwei Hütten zieht Alexandra, die Zahnärztin, einer Patientin einen Zahn – zwei umgedrehte Flaschenkisten dienen als Behandlungsstuhl:

"Seit dem Beginn des Tourismus in dieser Gegend schenken die Leute den Kindern Bonbons, Süßigkeiten, Schokolade. Es sind einige Fälle von Karies aufgetreten, vor allem bei Kindern. Bei den Erwachsenen ist eher die Abnutzung durch das Kokakauen ein Problem. Aber ihre Zähne an sich sind recht robust, sehr gut."

Die Indios hier sprechen Quechua, die wenigstens können spanisch. Auf den Kieswegen der umliegenden Berghänge strömen sie wie Ameisen herbei. Die Älteren leiden vor allem an Schäden der Wirbelsäule, wegen der beschwerlichen Fußmärsche und Lasten, die sie dabei tragen. Die Lebensbedingungen seien schwierig, sagt der Bürgermeister von Palqa:

"Es sind alles Bauern, sie betreiben auch Viehzucht und seit neuestem etwas Tourismus. Die meisten arbeiten als Lastenträger auf dem Inka-Trail oder auch als Maultiertreiber, und das nimmt zurzeit immer mehr zu. Das ist harte, sehr schwere Arbeit. Ich habe gerade dort oben mit dem Pflug gearbeitet, mit mehr als 30 Personen, alle Gelegenheitsarbeiter. Es ist hart, ziemlich hart, aber sie sind daran gewöhnt."

Das Klima in der Höhe verlangt den Menschen viel ab. Im Sommer brennt die Sonne unbarmherzig herunter, im Winter halten die einfachen Lehmhütten die klirrende Kälte kaum ab. Die Kindersterblichkeit liegt bei fast 50 Prozent. Der 26 jährige Bernardino lebt hier mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in einem winzigen Hüttenraum, mit einer Feuerstelle in der Mitte, die als Herd dient:

"Wir hier in den Anden sind meistens Bauern und Viehzüchter, wir exportieren nicht, wir bauen nur für die Familie, zur Selbstversorgung an. Wir sind daran gewöhnt, das ist unsere gewohnte Umgebung, daher ertragen wir den Frost, den Wind, alles, die Unbilden des Wetters. Wir beklagen uns nicht, wir überleben eben."

Es ist ein beschwerliches Leben im Schatten der Inka. Manchmal, sagt Bernardino, habe er sich schon überlegt, sein Dorf Palqa zu verlassen und mit seiner Familie in die Stadt zu ziehen, schließlich spreche er gut spanisch und sei ein guter Schüler gewesen. Aber was soll er in der Welt dort unten? Den Gedanken habe er schnell verworfen, er sehe seine Zukunft hier oben:

"Ich habe immer gern an Kursen und Fortbildungsseminaren teilgenommen. Ich fange gerade an, meine eigene Küche aufzubauen, ein Schlafzimmer, ein eigenes Wohnzimmer und dann die Grundstruktur für sanitäre Installationen. Später möchte ich eine kleine Touristenherberge aufbauen. Das ist mein Traum."
Mehr zum Thema