Wie die Rütli-Schule zum Schülermagneten wurde
Einst galt die Rütli-Schule in Berlin Neukölln als Synonym für Jugendgewalt und gescheiterte Integration. Doch seitdem hat sich eine Menge getan, heute gibt es mehr Anmeldungen als freie Plätze. Rektorin Cordula Heckmann spricht im Interview über die Gründe für diesen Erfolg.
Ulrike Timm: Terror- und Chaosschule wurde sie genannt: Vor knapp sechs Jahren erregte die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln bundesweit Aufsehen. Die Lehrer gaben auf, schickten einen Brandbrief. Sie hatten resigniert gegenüber Gewalt unter ihren Schülern, aber auch gegenüber einer Schulverwaltung, von der sie sich nicht unterstützt fühlten. Die Hauptschule wurde über Nacht zum Synonym für Jugendgewalt und gescheiterte Integration. Eine Schule, in der Lehrer Angst hatten zu unterrichten, weil schon mal Tische aus dem Fenster flogen und Knallkörper gezündet wurden.
Viel ist seitdem passiert, gerade hat die "Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli" bekanntgegeben, sie habe mehr Anmeldungen als Plätze. Die Arbeit des Kollegiums wurde mit Bestnoten bewertet. Wie ist das geschafft worden, und was steht dennoch noch aus? Darüber sprechen wir jetzt mit Cordula Heckmann, der Rektorin der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Frau Heckmann, ich grüße Sie!
Cordula Heckmann: Ich grüße Sie auch!
Timm: Es ist ja viel passiert. Es wurden beieinanderliegende Schulen zusammengelegt. Sie hatten die Rütli-Schule immer ganz wörtlich im Auge. Sie haben gegenüber an der Realschule unterrichtet, sind jetzt Direktorin des neuen Campus. Trotzdem, abzüglich von Schulabgängern und pensionierten Kollegen: Sind das immer noch die gleichen Menschen, die da täglich in die Schule kommen?
Heckmann: Ja, grundsätzlich sind es die gleichen Menschen. Es sind Menschen geblieben, die ganz klar gesagt haben, sie wollen an diesem Schulstandort bleiben, sie wollen dort was Neues beginnen, und es sind neue hinzugekommen.
Timm: Die Schülerschaft ist im Grunde immer noch dieselbe?
Heckmann: Die Schülerschaft ist immer noch die gleiche, in der Zusammensetzung, das ist richtig.
Timm: Es hat ein Bündel von Veränderungen gegeben. Nennen Sie uns ein paar besonders wichtige.
Heckmann: Also, ich fange einfach mal damit an, dass der Brandbrief ja geschrieben worden ist 2006, in dem sehr deutlich gemacht worden ist, dass die Hauptschule als Schulform, als ein Auffangbecken für Schüler, die, in welcher Form auch immer und aus welchem Grund auch immer, gescheitert sind, eigentlich nicht erfolgreich ist. Das wurde in dem Brief deutlich, und wir haben uns an diesem Schulstandort, die drei Schulen, die dort waren, entschieden, vor der Schulstrukturreform den Schritt zu gehen und zu sagen: Ja, wir wollen eine Schule sein, in der länger gemeinsam gelernt wird, in der gemeinsam gelernt wird, lange gelernt wird, die Schule von eins bis zehn, inzwischen sind wir eine Schule von eins bis elf. Das war der erste Schritt. Der zweite, für uns auch ganz wesentliche Schritt ist zu sagen, wir lernen ganztägig. Das heißt, wir verstehen ein Freizeitangebot immer auch als ein Bildungsangebot. Der dritte Schritt war, dass wir ausgesprochen deutlich Eltern eingeladen haben als unsere Erziehungspartner, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten, dass wir gemeinsam einen Blick auf ihre Kinder nehmen. Das ist uns mit verschiedenen Mitteln gelungen. Und der letzte Punkt ist, dass wir auch gesagt haben, Bildung in den Stadtteil hinein, also wir öffnen die Schule. Wir gehen Kooperationen an. Über die Kooperationen, hier seien mal die Türkisch-Arabisch-Kurse erwähnt, die wir anbieten, war es möglich, den Schülern ein Angebot zu machen, das über das Schulische hinausgeht.
Timm: Das ist der technische Teil, und der ist sicherlich wichtig. Aber kein Schüler, kein Siebt- oder Achtklässler, der dazu neigt, zu prügeln, der schwer Deutsch versteht, interessiert sich wirklich für Schulverwaltung. Wie haben Sie da zumindest große Veränderungen erreicht. Musterschüler haben Sie ja heute auch noch nicht. Aber wie haben Sie große Veränderungen erreicht?
Heckmann: Gut, wir haben die Schüler mit einbezogen in unser Tun, ganz ausdrücklich, das heißt, wir haben gesagt – das gab es allerdings auch vorher schon, die Streitschlichtung. Wir haben darüber hinaus gesagt, in all unseren Klassen von Klasse Eins bis Zehn gibt es einen Klassenrat, in dem die Schüler die Gelegenheit haben, einmal in der Woche über ihre Probleme zu sprechen, auch Gelegenheit haben, eigene Regeln zu finden und Begründungen sich auch gegenseitig zu geben, warum sie Dinge wie tun wollen. Ich denke, dass der Umstand, dass sie ein gutes Angebot haben, das auch an ihren Interessen und Möglichkeiten anknüpft, auch etwas ist, was zum Wohlbefinden in der Schule beiträgt.
Timm: War das der entscheidende Punkt, die Schule mehr als Lebensort auch mit Lehrern, die schon mal sagen: Hier wird nicht geprügelt. Oder wenn jemand Müll wegschmeißt: Den wolltest du sicher gerade aufheben. Die sich also auch wieder neu Autorität verschaffen.
Heckmann: Na ja, das braucht ja immer zwei Seiten. Das eine ist, dass man klar die Grenzen nennt, und ein Punkt ist: Gewalt ist nicht geduldet. Das ist eine klare Aussage sowohl von den Schülern, den Eltern und den Lehrern. Das ist die eine Seite. Die andere Seite heißt, dass wir auch gute Angebote machen, dass wir sie mit einbeziehen, dass wir ihre Wünsche hören, dass man auch über ihre Schwierigkeiten redet. Dass man das Angebot macht: Ihr seid willkommen und wir wollen mit euch gemeinsam gucken, dass wir erfolgreich sind.
Timm: Und was kam da? An Wünschen, an Beschwerden, an Vorschlägen von den Schülern?
Heckmann: Die Schüler sind bei uns. Sie sagen, sie wollen in einer Schule lernen, in der es keine Gewalt gibt, da gibt es gar keinen Dissens. Und sie sind auch bereit, ihren Teil dazu beizutragen, dass es eine nette Lernatmosphäre gibt, und von daher war das von Anfang an angelegt als keine Sache, die nur von den Lehrern ausgeht, sondern eben auch von den Schülerinnen und Schülern und auch von den Eltern.
Timm: Meint Cordula Heckmann, Direktorin der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli in Berlin-Neukölln, so heißt das jetzt, kurz heißt es immer noch Rütli-Schule. Frau Heckmann, die Schule stand 2006 am Pranger. Was hat eigentlich bei den Schülern den Ruck bewirkt? Die Tatsache, so negativ bemerkt zu werden, oder die Tatsache, überhaupt mal bemerkt zu werden?
Heckmann: Sie waren natürlich schon überrascht über diese Medienwirksamkeit. Es wurde auch heftig diskutiert, und auch die Darstellung, wie sie in den Medien dargestellt wurden, das hat schon aufgerüttelt, und da waren schon sehr viele Schülerinnen und Schüler schockiert. So wollten sie das nicht verstanden wissen und fühlten sich auch nicht gut dargestellt. Das ist das eine, und das andere ist natürlich auch, dass die Öffentlichkeit – und wir haben sehr viel Öffentlichkeit – ja, man guckt uns auf die Finger, wir sind sehr öffentlich, jeder Schritt, den wir machen, jeder Entwicklungsschritt, den wir machen, wird sehr genau beobachtet, und werden wahrgenommen. Das ist sicherlich etwas, das gut ist.
Timm: Lassen Sie es uns einmal plastisch machen. Jetzt gibt es T-Shirts, da steht, ich weiß nicht genau, wie die Formulierung ist: "Ich bin Rütli". Oder "Unsere Schule" oder so. Die hätte 2006 erstens niemand gedruckt und zweitens niemand angezogen. Was hat sich da emotional verändert?
Heckmann: Also emotional hat sich verändert, dass die Schüler – ich fange mal an bei den Türkisch-Arabisch-Kursen, dass man gesagt hat, die Herkunftskultur ist jetzt nicht nur eine Schwäche und ein Nachteil, sondern wir wollen das auch als Stärke verstehen. Es ist eine Zweisprachigkeit, die wir nutzen wollen. Dazu, haben wir gesagt, müssen wir die Familiensprache stützen. Da geht es auch um eine Wertschätzung. Das gleiche gilt auch für die Einladung an die Eltern, dass sie wahrgenommen werden, dass sie als Erziehungspartner wahrgenommen werden.
Timm: Leisten die Eltern der Einladung denn Folge?
Heckmann: Ja.
Timm: Durchgehend? Denn das war auch ein großes Problem.
Heckmann: Nein, durchgehend, das wäre jetzt ... Nein. Unsere Eltern sind so, dass sie die offizielle, klassische Gremienarbeit dann doch eher scheuen. Wo sie aber sehr eifrig und engagiert sind, sind die Elterncafés, die sie auch selbst organisieren zusammen mit den interkulturellen Moderatoren. Das wird sehr angenommen und auch mit steigenden Zahlen.
Timm: Trotzdem ist es nach wie vor eine Schule im Hartz-IV-Kiez, eine Schule mit unglaublich vielen Schülern, die schlecht oder zum Teil auch gar nicht deutsch sprechen. Wie viele von diesen Eltern, wie viele von diesen Kindern erreichen sie wirklich, die dann die anderen mitziehen.
Heckmann: Das ist eine Illusion. Natürlich nicht alle. Das haben Sie ja aber an keiner Schule. Grundsätzlich ist es aber so, dass ich hier an dieser Stelle schon sagen kann und betonen möchte, dass die Eltern grundsätzlich interessiert sind an der Schullaufbahn ihrer Kinder. Worüber sie nicht verfügen, ist das Wissen, wie es gut gestaltet werden kann. Ich habe eigentlich seltenst Eltern erlebt, die gesagt haben: Mir egal. Also das nicht. Was deutlich wird, ist: Die Schwierigkeiten, die sie haben, ihre Kinder gut zu begleiten. Da sind sie, wenn ich sie einzeln einlade, zum Beispiel auch beim Elternsprechtag, da sind sie sehr eifrig, also wenn es um ihr einzelnes Kind geht, kommen sie schon.
Timm: Es ist viel investiert worden an Arbeit, aber auch an Geld, das heißt, auch andere haben ja weniger gekriegt. Wie oft haben Sie denn Auseinandersetzungen zu führen mit unbekannteren Schulen, die es auch schwer haben, die auch vielleicht in Neukölln, im Wedding liegen mit nicht deutschsprachigen Schülern, mit vielen Kindern, wie heißt das so bürokratisch, "aus bildungsfernen Schichten" – wie häufig müssen Sie sich rechtfertigen?
Heckmann: Also offen rechtfertigen muss ich mich seltener, aber spürbar ist das natürlich schon, was sie sagen. Nur ist es eben so, dass ich jetzt, wo wir offen darüber diskutieren, kann man sagen, wir sind als Gemeinschaftsschule so ausgestattet von der Lehrerzumessung genau wie jede andere Gemeinschaftsschule in dieser Stadt. Wir haben nicht mehr Funktionsstellen, nicht mehr Lehrerstelle und Stunden wie alle andere Schulen auch. Und dass wir bauliche Veränderungen machen, ist ja nicht nur im Rahmen des Modellprojekts Campus Rütli geschehen. Die sind ja nicht nur dafür gedacht, die Schule zu stützen, sondern das ist ja eine Investition, Bildung im Stadtteil zu organisieren. Da geht es um generationsübergreifendes Lernen, das heißt, das ist dann schon noch mal eine andere Situation als 'es geht nur um die Schule'. Und außerdem sind das Segnungen, die uns erst dann 2016 zuteilwerden.
Timm: Wann, hoffen Sie, macht der erste Rütli-Schüler Abitur?
Heckmann: Na, ich hoffe, in zwei Jahren!
Timm: Cordula Heckmann war das, die Rektorin des Campus Rütli, so heißt die Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln jetzt. Bekannt wurde sie vor sechs Jahren als Chaos- und Terrorschule. Seitdem hat sich eine Menge getan, ist aber noch viel zu tun. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch im Studio!
Heckmann: Gerne, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Viel ist seitdem passiert, gerade hat die "Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli" bekanntgegeben, sie habe mehr Anmeldungen als Plätze. Die Arbeit des Kollegiums wurde mit Bestnoten bewertet. Wie ist das geschafft worden, und was steht dennoch noch aus? Darüber sprechen wir jetzt mit Cordula Heckmann, der Rektorin der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Frau Heckmann, ich grüße Sie!
Cordula Heckmann: Ich grüße Sie auch!
Timm: Es ist ja viel passiert. Es wurden beieinanderliegende Schulen zusammengelegt. Sie hatten die Rütli-Schule immer ganz wörtlich im Auge. Sie haben gegenüber an der Realschule unterrichtet, sind jetzt Direktorin des neuen Campus. Trotzdem, abzüglich von Schulabgängern und pensionierten Kollegen: Sind das immer noch die gleichen Menschen, die da täglich in die Schule kommen?
Heckmann: Ja, grundsätzlich sind es die gleichen Menschen. Es sind Menschen geblieben, die ganz klar gesagt haben, sie wollen an diesem Schulstandort bleiben, sie wollen dort was Neues beginnen, und es sind neue hinzugekommen.
Timm: Die Schülerschaft ist im Grunde immer noch dieselbe?
Heckmann: Die Schülerschaft ist immer noch die gleiche, in der Zusammensetzung, das ist richtig.
Timm: Es hat ein Bündel von Veränderungen gegeben. Nennen Sie uns ein paar besonders wichtige.
Heckmann: Also, ich fange einfach mal damit an, dass der Brandbrief ja geschrieben worden ist 2006, in dem sehr deutlich gemacht worden ist, dass die Hauptschule als Schulform, als ein Auffangbecken für Schüler, die, in welcher Form auch immer und aus welchem Grund auch immer, gescheitert sind, eigentlich nicht erfolgreich ist. Das wurde in dem Brief deutlich, und wir haben uns an diesem Schulstandort, die drei Schulen, die dort waren, entschieden, vor der Schulstrukturreform den Schritt zu gehen und zu sagen: Ja, wir wollen eine Schule sein, in der länger gemeinsam gelernt wird, in der gemeinsam gelernt wird, lange gelernt wird, die Schule von eins bis zehn, inzwischen sind wir eine Schule von eins bis elf. Das war der erste Schritt. Der zweite, für uns auch ganz wesentliche Schritt ist zu sagen, wir lernen ganztägig. Das heißt, wir verstehen ein Freizeitangebot immer auch als ein Bildungsangebot. Der dritte Schritt war, dass wir ausgesprochen deutlich Eltern eingeladen haben als unsere Erziehungspartner, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten, dass wir gemeinsam einen Blick auf ihre Kinder nehmen. Das ist uns mit verschiedenen Mitteln gelungen. Und der letzte Punkt ist, dass wir auch gesagt haben, Bildung in den Stadtteil hinein, also wir öffnen die Schule. Wir gehen Kooperationen an. Über die Kooperationen, hier seien mal die Türkisch-Arabisch-Kurse erwähnt, die wir anbieten, war es möglich, den Schülern ein Angebot zu machen, das über das Schulische hinausgeht.
Timm: Das ist der technische Teil, und der ist sicherlich wichtig. Aber kein Schüler, kein Siebt- oder Achtklässler, der dazu neigt, zu prügeln, der schwer Deutsch versteht, interessiert sich wirklich für Schulverwaltung. Wie haben Sie da zumindest große Veränderungen erreicht. Musterschüler haben Sie ja heute auch noch nicht. Aber wie haben Sie große Veränderungen erreicht?
Heckmann: Gut, wir haben die Schüler mit einbezogen in unser Tun, ganz ausdrücklich, das heißt, wir haben gesagt – das gab es allerdings auch vorher schon, die Streitschlichtung. Wir haben darüber hinaus gesagt, in all unseren Klassen von Klasse Eins bis Zehn gibt es einen Klassenrat, in dem die Schüler die Gelegenheit haben, einmal in der Woche über ihre Probleme zu sprechen, auch Gelegenheit haben, eigene Regeln zu finden und Begründungen sich auch gegenseitig zu geben, warum sie Dinge wie tun wollen. Ich denke, dass der Umstand, dass sie ein gutes Angebot haben, das auch an ihren Interessen und Möglichkeiten anknüpft, auch etwas ist, was zum Wohlbefinden in der Schule beiträgt.
Timm: War das der entscheidende Punkt, die Schule mehr als Lebensort auch mit Lehrern, die schon mal sagen: Hier wird nicht geprügelt. Oder wenn jemand Müll wegschmeißt: Den wolltest du sicher gerade aufheben. Die sich also auch wieder neu Autorität verschaffen.
Heckmann: Na ja, das braucht ja immer zwei Seiten. Das eine ist, dass man klar die Grenzen nennt, und ein Punkt ist: Gewalt ist nicht geduldet. Das ist eine klare Aussage sowohl von den Schülern, den Eltern und den Lehrern. Das ist die eine Seite. Die andere Seite heißt, dass wir auch gute Angebote machen, dass wir sie mit einbeziehen, dass wir ihre Wünsche hören, dass man auch über ihre Schwierigkeiten redet. Dass man das Angebot macht: Ihr seid willkommen und wir wollen mit euch gemeinsam gucken, dass wir erfolgreich sind.
Timm: Und was kam da? An Wünschen, an Beschwerden, an Vorschlägen von den Schülern?
Heckmann: Die Schüler sind bei uns. Sie sagen, sie wollen in einer Schule lernen, in der es keine Gewalt gibt, da gibt es gar keinen Dissens. Und sie sind auch bereit, ihren Teil dazu beizutragen, dass es eine nette Lernatmosphäre gibt, und von daher war das von Anfang an angelegt als keine Sache, die nur von den Lehrern ausgeht, sondern eben auch von den Schülerinnen und Schülern und auch von den Eltern.
Timm: Meint Cordula Heckmann, Direktorin der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli in Berlin-Neukölln, so heißt das jetzt, kurz heißt es immer noch Rütli-Schule. Frau Heckmann, die Schule stand 2006 am Pranger. Was hat eigentlich bei den Schülern den Ruck bewirkt? Die Tatsache, so negativ bemerkt zu werden, oder die Tatsache, überhaupt mal bemerkt zu werden?
Heckmann: Sie waren natürlich schon überrascht über diese Medienwirksamkeit. Es wurde auch heftig diskutiert, und auch die Darstellung, wie sie in den Medien dargestellt wurden, das hat schon aufgerüttelt, und da waren schon sehr viele Schülerinnen und Schüler schockiert. So wollten sie das nicht verstanden wissen und fühlten sich auch nicht gut dargestellt. Das ist das eine, und das andere ist natürlich auch, dass die Öffentlichkeit – und wir haben sehr viel Öffentlichkeit – ja, man guckt uns auf die Finger, wir sind sehr öffentlich, jeder Schritt, den wir machen, jeder Entwicklungsschritt, den wir machen, wird sehr genau beobachtet, und werden wahrgenommen. Das ist sicherlich etwas, das gut ist.
Timm: Lassen Sie es uns einmal plastisch machen. Jetzt gibt es T-Shirts, da steht, ich weiß nicht genau, wie die Formulierung ist: "Ich bin Rütli". Oder "Unsere Schule" oder so. Die hätte 2006 erstens niemand gedruckt und zweitens niemand angezogen. Was hat sich da emotional verändert?
Heckmann: Also emotional hat sich verändert, dass die Schüler – ich fange mal an bei den Türkisch-Arabisch-Kursen, dass man gesagt hat, die Herkunftskultur ist jetzt nicht nur eine Schwäche und ein Nachteil, sondern wir wollen das auch als Stärke verstehen. Es ist eine Zweisprachigkeit, die wir nutzen wollen. Dazu, haben wir gesagt, müssen wir die Familiensprache stützen. Da geht es auch um eine Wertschätzung. Das gleiche gilt auch für die Einladung an die Eltern, dass sie wahrgenommen werden, dass sie als Erziehungspartner wahrgenommen werden.
Timm: Leisten die Eltern der Einladung denn Folge?
Heckmann: Ja.
Timm: Durchgehend? Denn das war auch ein großes Problem.
Heckmann: Nein, durchgehend, das wäre jetzt ... Nein. Unsere Eltern sind so, dass sie die offizielle, klassische Gremienarbeit dann doch eher scheuen. Wo sie aber sehr eifrig und engagiert sind, sind die Elterncafés, die sie auch selbst organisieren zusammen mit den interkulturellen Moderatoren. Das wird sehr angenommen und auch mit steigenden Zahlen.
Timm: Trotzdem ist es nach wie vor eine Schule im Hartz-IV-Kiez, eine Schule mit unglaublich vielen Schülern, die schlecht oder zum Teil auch gar nicht deutsch sprechen. Wie viele von diesen Eltern, wie viele von diesen Kindern erreichen sie wirklich, die dann die anderen mitziehen.
Heckmann: Das ist eine Illusion. Natürlich nicht alle. Das haben Sie ja aber an keiner Schule. Grundsätzlich ist es aber so, dass ich hier an dieser Stelle schon sagen kann und betonen möchte, dass die Eltern grundsätzlich interessiert sind an der Schullaufbahn ihrer Kinder. Worüber sie nicht verfügen, ist das Wissen, wie es gut gestaltet werden kann. Ich habe eigentlich seltenst Eltern erlebt, die gesagt haben: Mir egal. Also das nicht. Was deutlich wird, ist: Die Schwierigkeiten, die sie haben, ihre Kinder gut zu begleiten. Da sind sie, wenn ich sie einzeln einlade, zum Beispiel auch beim Elternsprechtag, da sind sie sehr eifrig, also wenn es um ihr einzelnes Kind geht, kommen sie schon.
Timm: Es ist viel investiert worden an Arbeit, aber auch an Geld, das heißt, auch andere haben ja weniger gekriegt. Wie oft haben Sie denn Auseinandersetzungen zu führen mit unbekannteren Schulen, die es auch schwer haben, die auch vielleicht in Neukölln, im Wedding liegen mit nicht deutschsprachigen Schülern, mit vielen Kindern, wie heißt das so bürokratisch, "aus bildungsfernen Schichten" – wie häufig müssen Sie sich rechtfertigen?
Heckmann: Also offen rechtfertigen muss ich mich seltener, aber spürbar ist das natürlich schon, was sie sagen. Nur ist es eben so, dass ich jetzt, wo wir offen darüber diskutieren, kann man sagen, wir sind als Gemeinschaftsschule so ausgestattet von der Lehrerzumessung genau wie jede andere Gemeinschaftsschule in dieser Stadt. Wir haben nicht mehr Funktionsstellen, nicht mehr Lehrerstelle und Stunden wie alle andere Schulen auch. Und dass wir bauliche Veränderungen machen, ist ja nicht nur im Rahmen des Modellprojekts Campus Rütli geschehen. Die sind ja nicht nur dafür gedacht, die Schule zu stützen, sondern das ist ja eine Investition, Bildung im Stadtteil zu organisieren. Da geht es um generationsübergreifendes Lernen, das heißt, das ist dann schon noch mal eine andere Situation als 'es geht nur um die Schule'. Und außerdem sind das Segnungen, die uns erst dann 2016 zuteilwerden.
Timm: Wann, hoffen Sie, macht der erste Rütli-Schüler Abitur?
Heckmann: Na, ich hoffe, in zwei Jahren!
Timm: Cordula Heckmann war das, die Rektorin des Campus Rütli, so heißt die Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln jetzt. Bekannt wurde sie vor sechs Jahren als Chaos- und Terrorschule. Seitdem hat sich eine Menge getan, ist aber noch viel zu tun. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch im Studio!
Heckmann: Gerne, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.