Wie Falschmeldungen ihre Wirkung entfalten

Rezensiert von Georg Gruber |
"Gerüchte sind Zitate mit einer Lücke", unbestätigte und oft zweifelhafte Informationen, die sich unkontrolliert weiterverbreiten und erhebliche Konsequenzen haben. Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff untersuchen in ihrem Buch "Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert" elf Beispiele aus der deutschen Geschichte.
Der Hufeisenplan - was war das noch mal? Anfang April 1999, nach Beginn der Nato-Luftschläge gegen Jugoslawien, verwiesen Außenminister Joschka Fischer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping auf einen "Operationsplan Hufeisen", mit dem Belgrad eine ethnische Säuberung des Kosovo verfolge. Die Präsentation des Planes erfolgte in einer Phase, als die öffentliche Zustimmung für den Militäreinsatz am Bröckeln war, angesichts steigender Flüchtlingszahlen. Der geheime serbische Plan wurde von rot-grünen Regierungsmitgliedern immer wieder als Argument für den Militäreinsatz herangezogen und von den meisten Medien übernommen, als Beleg serbischer Aggression.

Nur - dieser Plan existierte so gar nicht. Vielmehr handelte sich um eine Ansammlung von Geheimdienstanalysen mit überaus unklarer Quellenlage, wie die Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff in ihrem Buch "Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert" zeigen. Dabei ist der Hufeisenplan nur eines von elf Fallbeispielen, das die Autoren in ihrem Buch ausführlich beschreiben. Dabei schlagen sie den Bogen vom Kaiserreich des Jahres 1914 über die ausgehende Weimarer Republik bis in die Gegenwart, analysieren Gerüchte aus den beiden Teilstaaten und aus dem wiedervereinigten Deutschland.

Es ist ihre zweite gemeinsame Arbeit nach "Deutsche Legenden. Vom ,Dolchstoß’ und anderen Mythen der Geschichte", das 2002 erschien. Auf den ersten Blick fast eine Fortsetzung, doch grenzen sie Gerücht und Legende voneinander ab: Legenden definieren sie als nachträgliche Verfälschungen der Realität, die sich später verselbständigen.

Gerüchte und Falschmeldungen, "Zitate mit einer Lücke", entstehen dagegen besonders in gesellschaftlichen Umbruch- und Krisenzeiten, wenn das Bedürfnis nach Information besonders groß ist und "in totalitären Gesellschaften, die Informationen und Medien streng regulieren und kontrollieren".

Manche Gerüchte sind auf einmal im Umlauf, was fehlt ist die sichere Quelle. Falschmeldungen können aber auch, wie die beiden Autoren zeigen, als Herrschaftsinstrument gezielt eingesetzt werden, um von eigenen Fehlern abzulenken oder um Gegner zu diskreditieren. Am eigenen Leibe musste dies in den 60er Jahren Bundespräsident Heinrich Lübke erfahren, der in einer von Ostberlin gesteuerte Kampagne, mit zum Teil gefälschten Dokumenten, als "KZ-Baumeister" vorgeführt wurde. Wenn Gerüchte einmal in der Welt sind, bleiben sie hartnäckig bestehen, manches Mal mit fatalen Folgen - zumindest aus Sicht der Autoren. So etwa die Berichte über "Isolationsfolter und Vernichtungshaft" der RAF-Gefangenen in den 70er Jahren hätten den Terroristen neue Sympathisanten gebracht und zur Radikalisierung beigetragen - obwohl sie nicht stimmten. Der Staat habe auf die falschen Vorwürfe und Gerüchte nicht adäquat reagiert, so gut wie nie hätten unabhängige Journalisten Einblick erhalten in die tatsächlichen Zustände in Stammheim und anderen Gefängnissen, die eher eine Vorzugsbehandlung entsprochen hätten.

In viel Detailarbeit zeichnen die Autoren nach, wie sich Gerüchte entwickeln, welche Wirkung sie entfalten, in einem zweiten Schritt ergründen sie den Wahrheitsgehalt der Falschmeldung. Dabei zeigen sie auch, dass die Medien in den vielen Fällen eine besondere Rolle spielen: Übernehmen sie doch oft unkritisch die Gerüchte und Meldungen, ohne sie zu hinterfragen.

Medien und Politik, so eine These der beiden Autoren, erliegen in modernen Mediendemokratien den eigenen Trugbildern, in ihrem zwangsläufigen Bestreben, komplexe Tatsachen zu vereinfachen. Beispiel: Waldsterben. Wenn die Prognosen und Horrorszenarien der 80er Jahre eingetreten wären, dann gäbe es heute keinen Wald mehr. Eigene Recherche vor Ort habe es kaum gegeben, kritisieren die Autoren. Der Großteil der Artikel sei am Schreibtisch entstanden und mit Zitaten der "Waldsterbens-Theoretiker" gewürzt worden, die damals den öffentlichen Diskurs beherrschten - und heute eingestehen, dass sie sich damals mit ihren Hypothesen geirrt haben. Der Waldzustandsbericht der Bundesregierung verzeichnet noch immer schwere Schäden bei fast einem Drittel aller Bäume, vor allem bei der Eiche - weil die Messmethoden falsch seien, so argumentieren Kellerhoff und Keil und stützen sich dabei auf Forstwissenschaftler.

Die Widerlegung des Phänomens Waldsterbens wird wahrscheinlich dennoch nicht von jedem nachvollzogen werden, genauso wie eine andere These, dass Putschgerüchte Reichspräsident Hindenburg dazu bewegt hätten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen und es ohne diese Gerüchte nicht so weit gekommen wäre. Die Lektüre des Buches, ein breit angelegter zeitgeschichtlicher Exkurs durch das 20. Jahrhundert, regt an manchen Stellen zum inneren Widerspruch an - und das ist auch gut so. Denn Falschmeldungen, Gerüchte und Mythen halten sich ja auch deswegen so hartnäckig, weil vermeintliche Wahrheiten nicht oft genug und gründlich genug überprüft und hinterfragt werden.


Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff: Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert.
Ch. Links Verlag
Berlin 2006
320 Seiten