... wie hast du dich verändert
Der Protest lohnte sich. Davon sind die Stahlwerker noch heute überzeugt, wenn sie sich an ihren Arbeitskampf mit Mahnwachen und Autorbahnbesetzungen, Fackelzügen und Brückenbesetzungen erinnern. Und - dass Duisburg ohne ihr Beharrungsvermögen heute nicht so gut dastehen würde, wie es dies tut.
Ein nasskalter Winterabend im Februar. Unten fließt träge der Rhein durch Duisburg, oben donnern die Autos im Sekundentakt über die Brückenschwellen. Fußgänger sind nicht zu sehen. Nur ein Schild über der Fahrbahn erinnert daran, dass dieser Ort zu einem Symbol geworden ist für einen der heftigsten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik.
Auf dem Schild steht "Brücke der Solidarität". Und auf der Brücke stand damals eine ganze Stadt, die um ihre Zukunft kämpfte. Es war der 2. Dezember 1987 in Duisburg-Rheinhausen.
Laakmann: "Wir waren mit da 30 Leuten nachts auf der Rheinbrücke und haben sie gesperrt und waren ständig immer irgendwie in der Stimmung abzubrechen, wieder ins Werk reinzugehen, weil es wärmer ist, ja und gegen sechs Uhr kam die Frühschicht, da waren wir schon mit 1030 oder so, und gegen 9, 10, 11, 12 Uhr war da die halbe Stadt Rheinhausen da, da standen dann Zehntausende."
Sie alle eint die Wut und Empörung über eine Nachricht, die keiner für möglich gehalten hat. Fünf Tage vorher, am 27. November 1987, hatte Krupp-Chef Gerhard Cromme die Schließung des Stahlwerkes in Rheinhausen verkündet. Mehr als 5000 Jobs sind bedroht.
Cromme: "Sie werden sagen – und ich habe dafür Verständnis – wir wollen weiter in Rheinhausen beschäftigt bleiben. Sie müssen aber einfach wissen, dass man wirtschaftliche Tatsachen nicht einfach übergehen kann."
Faule Eier fliegen Krupp-Chef Cromme entgegen. Wegen der schon seit Jahren schwelenden Stahlkrise will Krupp mit Mannesmann kooperieren. Für das Stahlwerk in Rheinhausen bedeuten diese Pläne das Aus. Damals eine unfassbare Vorstellung, sagt der frühere Krupp-Betriebsrat Theo Stegmann.
Stegmann: "Also ich muss sagen die ersten Tage da waren wir alle wie mit nem Brett vor’n Kopf geschlagen, ich habe als neu gewählter, einer der drei neu gewählten Betriebsratsvorsitzenden im September eine Vereinbarung unterschrieben, wo uns das Management zusicherte, der Standort bleibt erhalten, und da mussten wir schon bluten, da mussten wir schon zustimmen, dass wir 2000 Jobs, zwar sozialverträglich, dass wir 2000 Jobs abbauen, und dann kommt über Nacht so ein Hammer raus, da war schon so ein Grundtenor da: Also, das nehmen wir so nicht, das drehen wir um das Ding."
Betriebsrat und Arbeiter fühlen sich von der Konzernspitze betrogen. Und nicht nur das. Denn seit 90 Jahren war Rheinhausen wie kein anderer Ort untrennbar mit der Geschichte des Krupp-Konzerns verbunden. 1897 wurde hier das Mutterwerk eingeweiht, in den 60er Jahren arbeiten bis zu 16.000 Menschen für den Stahlkonzern. Der kümmert sich mit Werkswohnungen und Bibliotheken, Schwimmbädern und Kulturvereinen um seine "Kruppianer". Ein Leben ohne Krupp – undenkbar! Durch eine mitreißende Rede entfacht Betriebsleiter Helmut Laakmann den Kampfgeist der Arbeiter.
Laakmann: "Es kann doch nicht sein, dass eine kleine Clique, eine kleine Mafia, mit den Menschen in diesem Lande macht was sie will – Jubel – Kruppsche Arbeiter, nehmt jetzt diese historische Stunde wahr, um endlich das auszufechten, was wir ausfechten müssen, für unsere Familien, unsere Kinder, für die Menschen in diesem Lande, für die Städte, Glück auf!"
Nun wusste auch der Letzte, dass die Kruppianer die Schließung des Werkes nicht kampflos hinnehmen werden.
Stegmann: "Die Rede haben wir noch tagelang später abgespielt, wenn wir die Leute rausholen wollten in den Siedlungen, sind wir mit dem Lautsprecherwagen da durch gefahren und haben die Rede abgespielt, also das hat die Leute wirklich auf die Spur gebracht, und der Wut, die die hatten und der Ohnmacht, die sich schon abzeichnetet, wirklich eine Stimme gegeben und den Leuten dann wirklich auch das Selbstbewusstsein gegeben für die Monate, was wir auch brauchten, dann in der Auseinandersetzung."
Denn was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann: Vor den Rheinhausenern liegt eine zähe Auseinandersetzung, die bis weit ins Frühjahr 1988 andauern wird. Doch die Arbeiter sind gut gerüstet. In ihrem Kampf gegen die Werkschließung können sie auf ein breites Bündnis zählen. Schüler demonstrieren gegen den industriellen Kahlschlag. Einzelhändler helfen den Kruppianern mit Spenden. Arbeiterfrauen, die oft jahrelang zu Hause geblieben sind, gehen plötzlich auf die Straße und organisieren eigene Proteste. Auch der Rheinhausener Pfarrer Dieter Kelp unterstützt die Arbeiter, zum Beispiel mit einem riesigen ökumenischen Gottesdienst im alten Walzwerk mit 20.000 Gästen.
Kelp: "Kirche hat zumindest in jener Zeit gelernt, dass ihr Feld nicht nur die Kanzel ist, sondern natürlich auch in hohem Maß die Arbeitsbedingungen und die Lebensbedingungen der Menschen, insofern Kirchengemeinden mitten zwischen den Kruppfamilien bestehen heute wie damals und die Kirche im Umgang mit diesen damals sehr verzweifelten Menschen einfach Aufträge hat von ihrer Sendung her."
Doch soviel lebensweltliches Engagement sorgt auch für Misstrauen bei der Kirchenleitung.
Kelp: "In der Zeit wurde die Kirche immer unfroher und hat mich dann auch gelegentlich bestellt und gesagt: Passen sie auf, passen sie auf, das wird radikal, da fliegt dann irgendwann man ein Hochofen in die Luft und dann sind sie’s gewesen – sie haben doch gemacht, was sie konnten, sehen sie zu, dass sie zu einem Ende kommen! Haben wir nicht gemacht, wir sind also dabeigeblieben, aber das war kirchlicherseits natürlich ein bisschen ein Spagat."
Ziemlich schnell merkte Pfarrer Dieter Kelp, dass er den Fortgang der Ereignisse oft nur wenig beeinflussen konnte. Nach einer Unterredung mit Krupp-Chef Cromme sollte Kelp der IG Metall ein neues Verhandlungsangebot vorlegen – doch die Gewerkschaft wollte mit dem geistlichen Vermittler nichts zu tun haben. Von der IG-Metallführung in Frankfurt waren die Rheinhausener allerdings enttäuscht. Zu zaghaft habe die Gewerkschaftsspitze sie bei den Protesten unterstützt, meinten viele Stahlkocher.
Vor Ort sah es anders aus. Klaus Löllgen war damals Sprecher der gewerkschaftlichen Vertrauensleute der IG Metall bei Krupp. Er erinnert sich, wie schwierig es war, die Arbeiter auf eine gemeinsame Strategie im Arbeitskampf einzuschwören.
Löllgen: "Es gab in Rheinhausen viele Stimmen, die sagten: Ab dem ersten Tag bleibt die Produktion unten, wir gehen nicht mehr arbeiten und egal. So, und wir haben gesagt: Nein, das werden wir nicht tun, wir werden arbeiten und werden wieder rausgehen aus der Arbeit, wir gehen wieder arbeiten und wir gehen wieder raus, das heißt, wir werden keinen unbefristeten Streik machen, zumal auch ein sogenannter wir nennen das in der Stahlindustrie Schaukelbetrieb für das Unternehmen am teuersten ist, weil enorme Energiekosten kommen auf ein Unternehmen zu."
Der Schaukelbetrieb entspricht einer wirkungsvollen Stop-and-Go-Taktik: Erst werden die Hochöfen angefeuert, dann für einige Stunden lahm gelegt. Lohneinbußen mussten die Stahlarbeiter trotzdem nicht fürchten – schließlich waren sie die meiste Zeit offiziell gar nicht im Streik. Dass die Stahlschmelze trotzdem häufig zum Erliegen kam, lag daran, dass sich einzelne Mitarbeitergruppen immer wieder beim Betriebsrat über den Fortgang der Verhandlungen mit der Konzernleitung informierten – ein ganz legales Vorgehen, das vom Betriebsverfassungsgesetz gedeckt wird.
Steegmann: "Faktisch war das unser Werk, die ganzen sechs Monate über, also die Betriebsingenieure sind zum Betriebsrat gekrochen gekommen und haben gefragt, wann dürfen wir denn jetzt mal wieder anfahren? – und der Betriebsrat, in Absprache natürlich mit wichtigen Fachleuten, hat gesagt: Nee, jetzt gibt es noch nichts, kommen sie in ein paar Stunden wieder oder so etwas. Und die Bürger haben sich das Werk erobert, das war ja das erste Mal, dass das Werk komplett offen war, die Leute kamen rein und gingen wieder raus."
Plötzlich war ein nie gekannter Bürgersinn erwacht, erinnert sich Betriebsrat Theo Stegmann.
Stegmann: "Die Leute waren auch ungeheuer kreativ, sie haben da Vorschläge gekriegt, in den Betriebsversammlungen, im Bürgerkomitee, von Aktionen, was die Leute vorgeschlagen haben oder was die völlig selber gemacht haben, die einen sind auf die Zugspitze gefahren und haben dort einen Kokskorb aufgestellt, was auch immer, es hat auch manchmal absurde Formen angenommen, aber die Leute die drängte es, einfach was zu tun, und die haben sich was einfallen lassen und haben was gemacht – das war faszinierend zu sehen."
Noch im Dezember 1987 organisiert die IG Metall einen Stahlaktionstag, an dem mehr als 100.000 Stahlarbeiter und Bergleute teilnehmen. Für einen Tag geht nichts mehr im Ruhrgebiet. Im Februar findet im alten Walzwerk von Rheinhausen das größte Hallenkonzert der BRD statt – Herbert Grönemeyer, Hannes Wader und Die Toten Hosen spielen beim "Aufruhr-Festival". Drei Tage später bilden 30.000 Menschen eine Menschenkette von Duisburg bis Dortmund, um für die Zukunft des Ruhrgebiets zu demonstrieren. Und immer wieder: Mahnwachen und Brückenbesetzungen, Straßensperren und Arbeitsniederlegungen. Die Stahlkocher kämpfen weiter – ein Kompromiss kommt für sie nicht in Frage.
Löllgen: "Wir haben natürlich als betriebliche Vertreter auf Erhalt des Stahlstandorts gepocht bis zum Schluss, wir konnten aber auch gar nicht anders, wir konnten nicht irgendeinem im Betrieb sagen: Also wir gucken mal, dass wir einen ordentlichen Sozialplan hinkriegen, oder wir gucken mal, dass wir nur Teile des Unternehmens retten, war überhaupt nicht möglich. Also, ich sag jetzt mal einen Satz: Es ging nur eins – Sieg oder Blut am Stiefel, und alles andere war nicht möglich."
Aus dieser Sicht gehen die Stahlkocher im Mai 1988 nach mehr als 160 Tagen Arbeitskampf als Geschlagene vom Feld. Denn den Stilllegungsbeschluss haben sie nicht vollständig abwenden können. Trotzdem hat sich der Kampf gelohnt: Ein Hochofen wird vorerst erhalten – er fällt erst fünf Jahre später einem neuen Schließungsbeschluss zum Opfer. Außerdem verpflichten sich Krupp und Mannesmann, mindestens 1500 Ersatzarbeitsplätze zu schaffen – ein bis dahin einmaliges Zugeständnis an die Arbeitnehmer. Viele Kruppianer kommen an anderen Standorten unter oder werden umgeschult, andere gehen mit großzügigen Lohn- und Rentenvereinbarungen in den Vorruhestand. Im Rückblick sieht deshalb auch Krupp-Betriebsrat Theo Stegmann das Ergebnis als Erfolg.
Stegmann: "Die Leute sind nicht arbeitslos geworden, und die Leute, wenn ich die heute treffe, Samstag auf dem Markt, der Stolz, so ein großes Ding, so ein großes Rad gedreht zu haben und sich politisch so nachhaltig in Erinnerung gerufen zu haben, das merkt man allen Leuten an, da sind sie stolz drauf."
Doch was ist geblieben vom Mythos Rheinhausen – außer dem Stolz derjenigen, die damals dabei waren? Erst einmal eine ganze Menge. Denn auch wenn der Arbeitskampf aufhörte: Das bürgerschaftliche Engagement der Rheinhausener ging noch viele Jahre weiter. Chöre, Diskussionsgruppen oder die Einrichtung eines offenen Fernsehkanals – manches davon hat sich bis heute gehalten. Nur die nachfolgende Generation kann mit dem Arbeitskampf von Rheinhausen nichts mehr anfangen, erzählt Pfarrer Dieter Kelp.
Kelp: "Es gibt Heldenzeiten, die dauern nicht ewig. Und es gibt Ergebnisse, die schreibt man irgendwann einmal zwischen Kladden. Aber es ist zum Beispiel wie ich finde heutzutage deprimierend, dass Konfirmandinnen und Konfirmanden in Rheinhausen von der Existenz des Werkes von Krupp kaum mehr etwas wissen, sie wissen es nicht. Ich habe an meinem Gemeindehaus einen Glockenturm bauen lassen mit einer Spende, die ich bekommen habe, da hängt eine Glocke, die hat früher beim Abstich bei Krupp Signale gegeben, steht auch alles drum und so Sachen, ich habe auch eine Tafel drangeschrieben, wenn die Konfirmanden sich das ansehen, dann lernen sie eine Geschichte, die ist ihnen so fremd wie der Mond."
Kein Wunder, denn die architektonischen Spuren des Krupp-Werkes auf dem früheren Betriebsgelände sind nahezu vollständig ausgelöscht. Wo früher die Hochöfen zischten, scheppern heute Sattelschlepper über frisch geteerte Straßen.
In den vergangenen acht Jahren ist hier der "Logport" entstanden, ein riesiges Logistikzentrum mit eigenem Hafenbecken und Anschluss an Schiene und Straße. Gerne lädt Logport-Pressesprecher Tobias Metten seine Gäste zu einer kleinen Rundfahrt über das Gelände ein, denn er ist stolz auf den Strukturwandel in Rheinhausen.
Metten: "Wenn man sich hier auf dem Logport-Gelände umschaut, wird einem schnell deutlich, dass also in den letzten Jahren die Vermarktung sehr erfolgreich gelaufen ist, wir haben seit dem Jahr 2000 hier über 200 Hektar vermarktet, und benötigen natürlich auch für die Zukunft für die erfolgreiche Vermarktung weiterer Flächen neue Grundstücke im Duisburger Hafengebiet."
Wer Tobias Metten eine Weile zugehört hat, der möchte fast selbst ins Schwärmen geraten über so viel Dynamik und ungebremste Wachstumspotenziale. 40 Unternehmen haben sich hier angesiedelt, 2500 neue Arbeitsplätze sind in den vergangenen Jahren entstanden. Und das ist erst der Anfang: Bis 2010 sollen noch einmal 1500 weitere Arbeitsplätze hinzukommen.
Diesen Zukunftsoptimismus in Rheinhausen mag der frühere Pfarrer Dieter Kelp nicht teilen. Er hat andere Erfahrungen gemacht.
Kelp: "... die Menschen selber, wenn sie mit ihnen reden, klagen, natürlich: Sie sind 20 Jahre älter geworden, diejenigen, die man kennt, aber es sind auch weniger junge da, weil die dann einfach diesen Lebensraum meiden, er gibt ihnen auch beruflich zu wenig und er gibt ihnen emotional gar nichts, also ich meine, dass ist nun eine Klage ins Nichts, es ist halt wie es ist, aber in jedem Fall hat die Aufrechterhaltung von Arbeit am Ort zu einem positiven Lebensgefühl der Menschen am Ort nicht beigetragen."
Natürlich: Das neue Jobwunder von Rheinhausen hat wenig gemein mit der gut bezahlten Arbeit der Stahlkocher bei Krupp. Wer auf dem Logport-Gelände arbeitet, der ist nicht selten prekär beschäftigt und arbeitet für wenig Geld. Das weiß auch Logport-Sprecher Tobias Metten. Aber die allgemeine Lohnentwicklung könne man eben auch nicht aufhalten.
Metten: "Also es wird sicherlich nie möglich sein auf dem Logport-Gelände wieder die alte Situation herzustellen, sowohl was die Arbeitsplatzzahl angeht als auch die Qualität oder das Lohnniveau zum Beispiel, weil natürlich heute ganz andere Lohnniveaus üblich sind, gerade in nichtqualifizierten Berufen wie sie ja in der Logistik genauso vorhanden sind wie in anderen Branchen."
Rheinhausen erzählt viele Geschichten. Zum Beispiel die von einem erfolgreichen Strukturwandel, der manche Menschen trotzdem nicht hoffnungsfroh in die Zukunft schauen lässt. Oder die von einem verlorenen Arbeitskampf, der heute glatt als gewonnen durchgehen würde. So verändern sich die Perspektiven.
Rheinhausen, das ist für Markus Grolms vor allem die Geschichte von Entschlossenheit und Solidarität. Vor zwei Jahren hat er als Betriebsrat bei BenQ in Kamp-Lintfort selbst gegen die Betriebsschließung gekämpft. Heute unterstützt er als Vertreter der IG Metall die Nokia-Belegschaft in Bochum beim Kampf um den Erhalt ihres Werkes. Von Rheinhausen hat er gelernt.
Grolms: "Das, was aber übertragbar ist, ist bei Nokia wie in Kamp-Lintfort wie auch anderswo, wo so etwas passiert, dass man eine Handvoll entschlossener Leute braucht, die bereit sind, was zu tun, und das man dann in der Lage ist, was in Bewegung zu setzen und Gegenwehr auf die Beine zu stellen, dass ist das, was all diesen Geschichten gemein ist."
Doch mittlerweile glaubt kaum noch jemand daran, dass das Nokia-Werk in Bochum noch zu retten ist. Um was also geht es? Es ist wie beim Fußball, sagt Markus Grolms.
Grolms: "Wenn ich nach vorn spiele, muss ich das Spiel nicht unbedingt mit 5:0 nach Hause bringen, das was die Kollegen aber wissen, ist, dass Kämpfen ihre einzige Chance ist, erstmal losgelöst vom Ergebnis, dass das Ergebnis durch den Kampf auf jeden Fall nur besser werden kann, und das ist am Ende das Entscheidende."
Kämpfen? Davon hat Helmut Laakmann noch nichts gesehen. Der Rheinhausener Arbeiterführer, der heute für die Linkspartei im Duisburger Kreisvorstand sitzt, ist enttäuscht von der Zurückhaltung der Nokia-Belegschaft.
Laakmann: "Wir sind ja nicht dazu da, um jetzt gute Ratschläge zu geben, aber man darf eben nicht so einen Arbeitskampf führen wie 'Die Revolutionäre werden gebeten, den Rasen nicht zu betreten', man muss schon klar und deutlich sagen, was man will, und wenn es ökonomische Gründe gibt für einen Konzern, Produktion nach Rumänien zu verlagern, dann kann man nicht dort eine Wende kriegen, indem man jetzt noch fleißiger dort arbeitet als vorher."
Am Werk in Bochum ist es ruhig. Vor dem Eingang steht das Solizelt der IG Metall, daneben knistert ein Feuer.
Jürgen Klausmeier, ein schmaler Mann mit freundlichem Gesicht und ruhiger Stimme, ist seit acht Jahren bei Nokia. Jetzt auf die Barrikaden? Nicht so sein Ding, er wartet lieber erstmal ab.
Klausmeier: "Also ich sag in Frankreich würden schon die Bänder brennen, ne, wenn da so was wäre, da würden die Lkws vorne die Toreinfahrt zuballern oder was weiß ich, da würde hier gar nichts mehr laufen, aber ...wir sind so ein bisschen wie die Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden ..."
Es wird wohl den üblichen Gang nehmen: Sozialplan, Beschäftigungsgesellschaft. Dann ist Schluss.
Nur: Welche Möglichkeiten haben die Arbeitnehmer überhaupt im Kampf gegen eine Werkschließung. Meistens sehr wenig, sagt Arbeitsrechtexperte Michael Kittner.
Kittner: "Wenn ein Unternehmen sagt: Wir wollen ein Werk schließen, und die Arbeitnehmer sagen: Ja dann arbeiten wir nicht, dann sagt das Unternehmen wunderbar, das ist genau das, was wir wollen, das heißt, der ökonomische Druck auf ein Unternehmen, das ein Werk schließen will, ist höchst diffizil und es ist typischerweise für die Betroffenen gerade schwer, durch Nichtarbeit Druck auszuüben, also da muss man jeden einzelnen Fall gesondert nehmen, so wie ich die Dinge im Augenblick sehe, läuft es darauf hinaus, dass den Gewerkschaften und den Betriebsräten im Grunde bleibt der Versuch, die Schließung – wenn sie denn unvermeidlich ist – so teuer wie möglich zu machen."
Arbeitsrechtlich ist die Sache klar geregelt: Im Kampf um bestmögliche Abfindungen wird ein Sozialplan ausgehandelt, der in einem Tarifvertrag geregelt werden kann – und solch ein Sozialplantarifvertrag darf auch erstreikt werden.
Dass die Werkschließung in Rheinhausen die ganze Bundesrepublik über Monate in Atem hielt, während Nokia aus den Schlagzeilen längst wieder verschwunden ist – dafür hat Arbeitsrechtexperte Michael Kittner eine einfache Erklärung.
Kittner: "Niemand konnte sich vorstellen, dass inmitten einer ansonsten prosperierenden Wirtschaft noch dazu ein so schmuckes, schönes Werk geschlossen werden kann. Fassungslosigkeit. Und diese Fassungslosigkeit, die die Menschen sozusagen aus ihrer Sicherheit und ihrem wie sie dachten wohlgeordneten Leben gerissen wurden, das hat den Funken erzeugt, der dann zur Explosion geführt hat."
Heutzutage allerdings wird von dieser Entwicklung niemand mehr wirklich überrascht. Denn längst ist klar, dass internationale Standortkonkurrenz zur Funktionslogik der Marktwirtschaft gehört.
Kittner: "Da fehlt sozusagen das emotionale Benzin, in das man nur noch das Streichholz werfen würde, dass es emporschlägt. Wut, Betroffenheit, auch Konfliktbereitschaft – alles da, aber der Antrieb für extreme Verhaltensweisen ist nicht mehr da, weil niemand kann sagen: Ich bin völlig fassungslos, dass so etwas überhaupt heutzutage passiert."
Ist Rheinhausen deshalb ein toter Mythos? Wer nicht mehr überrascht wird und zudem ständig in Angst vor der nächsten Entlassungswelle lebt, hat scheinbar wenig Lust und Kraft, selbstbewusst zu protestieren. Doch vielleicht liegt auch gerade in dieser Perspektivlosigkeit der Keim für den nächsten Aufruhr, meint Helmut Laakmann.
Laakmann: "Ich würde nicht so vermessen sein und sagen: So etwas wie Rheinhausen gibt es nicht noch ma. Ich denke, wenn das so weitergeht, wie man mit Arbeitnehmern hier in diesem Land umgeht und Arbeitnehmerinnen, dann liegt so was in der Luft, dann kann das immer wieder passieren, und vielleicht in einer Größenordnung wo viele sagen: Hätten wir mal früher dafür gesorgt, dass so etwas nicht passiert."
Auf dem Schild steht "Brücke der Solidarität". Und auf der Brücke stand damals eine ganze Stadt, die um ihre Zukunft kämpfte. Es war der 2. Dezember 1987 in Duisburg-Rheinhausen.
Laakmann: "Wir waren mit da 30 Leuten nachts auf der Rheinbrücke und haben sie gesperrt und waren ständig immer irgendwie in der Stimmung abzubrechen, wieder ins Werk reinzugehen, weil es wärmer ist, ja und gegen sechs Uhr kam die Frühschicht, da waren wir schon mit 1030 oder so, und gegen 9, 10, 11, 12 Uhr war da die halbe Stadt Rheinhausen da, da standen dann Zehntausende."
Sie alle eint die Wut und Empörung über eine Nachricht, die keiner für möglich gehalten hat. Fünf Tage vorher, am 27. November 1987, hatte Krupp-Chef Gerhard Cromme die Schließung des Stahlwerkes in Rheinhausen verkündet. Mehr als 5000 Jobs sind bedroht.
Cromme: "Sie werden sagen – und ich habe dafür Verständnis – wir wollen weiter in Rheinhausen beschäftigt bleiben. Sie müssen aber einfach wissen, dass man wirtschaftliche Tatsachen nicht einfach übergehen kann."
Faule Eier fliegen Krupp-Chef Cromme entgegen. Wegen der schon seit Jahren schwelenden Stahlkrise will Krupp mit Mannesmann kooperieren. Für das Stahlwerk in Rheinhausen bedeuten diese Pläne das Aus. Damals eine unfassbare Vorstellung, sagt der frühere Krupp-Betriebsrat Theo Stegmann.
Stegmann: "Also ich muss sagen die ersten Tage da waren wir alle wie mit nem Brett vor’n Kopf geschlagen, ich habe als neu gewählter, einer der drei neu gewählten Betriebsratsvorsitzenden im September eine Vereinbarung unterschrieben, wo uns das Management zusicherte, der Standort bleibt erhalten, und da mussten wir schon bluten, da mussten wir schon zustimmen, dass wir 2000 Jobs, zwar sozialverträglich, dass wir 2000 Jobs abbauen, und dann kommt über Nacht so ein Hammer raus, da war schon so ein Grundtenor da: Also, das nehmen wir so nicht, das drehen wir um das Ding."
Betriebsrat und Arbeiter fühlen sich von der Konzernspitze betrogen. Und nicht nur das. Denn seit 90 Jahren war Rheinhausen wie kein anderer Ort untrennbar mit der Geschichte des Krupp-Konzerns verbunden. 1897 wurde hier das Mutterwerk eingeweiht, in den 60er Jahren arbeiten bis zu 16.000 Menschen für den Stahlkonzern. Der kümmert sich mit Werkswohnungen und Bibliotheken, Schwimmbädern und Kulturvereinen um seine "Kruppianer". Ein Leben ohne Krupp – undenkbar! Durch eine mitreißende Rede entfacht Betriebsleiter Helmut Laakmann den Kampfgeist der Arbeiter.
Laakmann: "Es kann doch nicht sein, dass eine kleine Clique, eine kleine Mafia, mit den Menschen in diesem Lande macht was sie will – Jubel – Kruppsche Arbeiter, nehmt jetzt diese historische Stunde wahr, um endlich das auszufechten, was wir ausfechten müssen, für unsere Familien, unsere Kinder, für die Menschen in diesem Lande, für die Städte, Glück auf!"
Nun wusste auch der Letzte, dass die Kruppianer die Schließung des Werkes nicht kampflos hinnehmen werden.
Stegmann: "Die Rede haben wir noch tagelang später abgespielt, wenn wir die Leute rausholen wollten in den Siedlungen, sind wir mit dem Lautsprecherwagen da durch gefahren und haben die Rede abgespielt, also das hat die Leute wirklich auf die Spur gebracht, und der Wut, die die hatten und der Ohnmacht, die sich schon abzeichnetet, wirklich eine Stimme gegeben und den Leuten dann wirklich auch das Selbstbewusstsein gegeben für die Monate, was wir auch brauchten, dann in der Auseinandersetzung."
Denn was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann: Vor den Rheinhausenern liegt eine zähe Auseinandersetzung, die bis weit ins Frühjahr 1988 andauern wird. Doch die Arbeiter sind gut gerüstet. In ihrem Kampf gegen die Werkschließung können sie auf ein breites Bündnis zählen. Schüler demonstrieren gegen den industriellen Kahlschlag. Einzelhändler helfen den Kruppianern mit Spenden. Arbeiterfrauen, die oft jahrelang zu Hause geblieben sind, gehen plötzlich auf die Straße und organisieren eigene Proteste. Auch der Rheinhausener Pfarrer Dieter Kelp unterstützt die Arbeiter, zum Beispiel mit einem riesigen ökumenischen Gottesdienst im alten Walzwerk mit 20.000 Gästen.
Kelp: "Kirche hat zumindest in jener Zeit gelernt, dass ihr Feld nicht nur die Kanzel ist, sondern natürlich auch in hohem Maß die Arbeitsbedingungen und die Lebensbedingungen der Menschen, insofern Kirchengemeinden mitten zwischen den Kruppfamilien bestehen heute wie damals und die Kirche im Umgang mit diesen damals sehr verzweifelten Menschen einfach Aufträge hat von ihrer Sendung her."
Doch soviel lebensweltliches Engagement sorgt auch für Misstrauen bei der Kirchenleitung.
Kelp: "In der Zeit wurde die Kirche immer unfroher und hat mich dann auch gelegentlich bestellt und gesagt: Passen sie auf, passen sie auf, das wird radikal, da fliegt dann irgendwann man ein Hochofen in die Luft und dann sind sie’s gewesen – sie haben doch gemacht, was sie konnten, sehen sie zu, dass sie zu einem Ende kommen! Haben wir nicht gemacht, wir sind also dabeigeblieben, aber das war kirchlicherseits natürlich ein bisschen ein Spagat."
Ziemlich schnell merkte Pfarrer Dieter Kelp, dass er den Fortgang der Ereignisse oft nur wenig beeinflussen konnte. Nach einer Unterredung mit Krupp-Chef Cromme sollte Kelp der IG Metall ein neues Verhandlungsangebot vorlegen – doch die Gewerkschaft wollte mit dem geistlichen Vermittler nichts zu tun haben. Von der IG-Metallführung in Frankfurt waren die Rheinhausener allerdings enttäuscht. Zu zaghaft habe die Gewerkschaftsspitze sie bei den Protesten unterstützt, meinten viele Stahlkocher.
Vor Ort sah es anders aus. Klaus Löllgen war damals Sprecher der gewerkschaftlichen Vertrauensleute der IG Metall bei Krupp. Er erinnert sich, wie schwierig es war, die Arbeiter auf eine gemeinsame Strategie im Arbeitskampf einzuschwören.
Löllgen: "Es gab in Rheinhausen viele Stimmen, die sagten: Ab dem ersten Tag bleibt die Produktion unten, wir gehen nicht mehr arbeiten und egal. So, und wir haben gesagt: Nein, das werden wir nicht tun, wir werden arbeiten und werden wieder rausgehen aus der Arbeit, wir gehen wieder arbeiten und wir gehen wieder raus, das heißt, wir werden keinen unbefristeten Streik machen, zumal auch ein sogenannter wir nennen das in der Stahlindustrie Schaukelbetrieb für das Unternehmen am teuersten ist, weil enorme Energiekosten kommen auf ein Unternehmen zu."
Der Schaukelbetrieb entspricht einer wirkungsvollen Stop-and-Go-Taktik: Erst werden die Hochöfen angefeuert, dann für einige Stunden lahm gelegt. Lohneinbußen mussten die Stahlarbeiter trotzdem nicht fürchten – schließlich waren sie die meiste Zeit offiziell gar nicht im Streik. Dass die Stahlschmelze trotzdem häufig zum Erliegen kam, lag daran, dass sich einzelne Mitarbeitergruppen immer wieder beim Betriebsrat über den Fortgang der Verhandlungen mit der Konzernleitung informierten – ein ganz legales Vorgehen, das vom Betriebsverfassungsgesetz gedeckt wird.
Steegmann: "Faktisch war das unser Werk, die ganzen sechs Monate über, also die Betriebsingenieure sind zum Betriebsrat gekrochen gekommen und haben gefragt, wann dürfen wir denn jetzt mal wieder anfahren? – und der Betriebsrat, in Absprache natürlich mit wichtigen Fachleuten, hat gesagt: Nee, jetzt gibt es noch nichts, kommen sie in ein paar Stunden wieder oder so etwas. Und die Bürger haben sich das Werk erobert, das war ja das erste Mal, dass das Werk komplett offen war, die Leute kamen rein und gingen wieder raus."
Plötzlich war ein nie gekannter Bürgersinn erwacht, erinnert sich Betriebsrat Theo Stegmann.
Stegmann: "Die Leute waren auch ungeheuer kreativ, sie haben da Vorschläge gekriegt, in den Betriebsversammlungen, im Bürgerkomitee, von Aktionen, was die Leute vorgeschlagen haben oder was die völlig selber gemacht haben, die einen sind auf die Zugspitze gefahren und haben dort einen Kokskorb aufgestellt, was auch immer, es hat auch manchmal absurde Formen angenommen, aber die Leute die drängte es, einfach was zu tun, und die haben sich was einfallen lassen und haben was gemacht – das war faszinierend zu sehen."
Noch im Dezember 1987 organisiert die IG Metall einen Stahlaktionstag, an dem mehr als 100.000 Stahlarbeiter und Bergleute teilnehmen. Für einen Tag geht nichts mehr im Ruhrgebiet. Im Februar findet im alten Walzwerk von Rheinhausen das größte Hallenkonzert der BRD statt – Herbert Grönemeyer, Hannes Wader und Die Toten Hosen spielen beim "Aufruhr-Festival". Drei Tage später bilden 30.000 Menschen eine Menschenkette von Duisburg bis Dortmund, um für die Zukunft des Ruhrgebiets zu demonstrieren. Und immer wieder: Mahnwachen und Brückenbesetzungen, Straßensperren und Arbeitsniederlegungen. Die Stahlkocher kämpfen weiter – ein Kompromiss kommt für sie nicht in Frage.
Löllgen: "Wir haben natürlich als betriebliche Vertreter auf Erhalt des Stahlstandorts gepocht bis zum Schluss, wir konnten aber auch gar nicht anders, wir konnten nicht irgendeinem im Betrieb sagen: Also wir gucken mal, dass wir einen ordentlichen Sozialplan hinkriegen, oder wir gucken mal, dass wir nur Teile des Unternehmens retten, war überhaupt nicht möglich. Also, ich sag jetzt mal einen Satz: Es ging nur eins – Sieg oder Blut am Stiefel, und alles andere war nicht möglich."
Aus dieser Sicht gehen die Stahlkocher im Mai 1988 nach mehr als 160 Tagen Arbeitskampf als Geschlagene vom Feld. Denn den Stilllegungsbeschluss haben sie nicht vollständig abwenden können. Trotzdem hat sich der Kampf gelohnt: Ein Hochofen wird vorerst erhalten – er fällt erst fünf Jahre später einem neuen Schließungsbeschluss zum Opfer. Außerdem verpflichten sich Krupp und Mannesmann, mindestens 1500 Ersatzarbeitsplätze zu schaffen – ein bis dahin einmaliges Zugeständnis an die Arbeitnehmer. Viele Kruppianer kommen an anderen Standorten unter oder werden umgeschult, andere gehen mit großzügigen Lohn- und Rentenvereinbarungen in den Vorruhestand. Im Rückblick sieht deshalb auch Krupp-Betriebsrat Theo Stegmann das Ergebnis als Erfolg.
Stegmann: "Die Leute sind nicht arbeitslos geworden, und die Leute, wenn ich die heute treffe, Samstag auf dem Markt, der Stolz, so ein großes Ding, so ein großes Rad gedreht zu haben und sich politisch so nachhaltig in Erinnerung gerufen zu haben, das merkt man allen Leuten an, da sind sie stolz drauf."
Doch was ist geblieben vom Mythos Rheinhausen – außer dem Stolz derjenigen, die damals dabei waren? Erst einmal eine ganze Menge. Denn auch wenn der Arbeitskampf aufhörte: Das bürgerschaftliche Engagement der Rheinhausener ging noch viele Jahre weiter. Chöre, Diskussionsgruppen oder die Einrichtung eines offenen Fernsehkanals – manches davon hat sich bis heute gehalten. Nur die nachfolgende Generation kann mit dem Arbeitskampf von Rheinhausen nichts mehr anfangen, erzählt Pfarrer Dieter Kelp.
Kelp: "Es gibt Heldenzeiten, die dauern nicht ewig. Und es gibt Ergebnisse, die schreibt man irgendwann einmal zwischen Kladden. Aber es ist zum Beispiel wie ich finde heutzutage deprimierend, dass Konfirmandinnen und Konfirmanden in Rheinhausen von der Existenz des Werkes von Krupp kaum mehr etwas wissen, sie wissen es nicht. Ich habe an meinem Gemeindehaus einen Glockenturm bauen lassen mit einer Spende, die ich bekommen habe, da hängt eine Glocke, die hat früher beim Abstich bei Krupp Signale gegeben, steht auch alles drum und so Sachen, ich habe auch eine Tafel drangeschrieben, wenn die Konfirmanden sich das ansehen, dann lernen sie eine Geschichte, die ist ihnen so fremd wie der Mond."
Kein Wunder, denn die architektonischen Spuren des Krupp-Werkes auf dem früheren Betriebsgelände sind nahezu vollständig ausgelöscht. Wo früher die Hochöfen zischten, scheppern heute Sattelschlepper über frisch geteerte Straßen.
In den vergangenen acht Jahren ist hier der "Logport" entstanden, ein riesiges Logistikzentrum mit eigenem Hafenbecken und Anschluss an Schiene und Straße. Gerne lädt Logport-Pressesprecher Tobias Metten seine Gäste zu einer kleinen Rundfahrt über das Gelände ein, denn er ist stolz auf den Strukturwandel in Rheinhausen.
Metten: "Wenn man sich hier auf dem Logport-Gelände umschaut, wird einem schnell deutlich, dass also in den letzten Jahren die Vermarktung sehr erfolgreich gelaufen ist, wir haben seit dem Jahr 2000 hier über 200 Hektar vermarktet, und benötigen natürlich auch für die Zukunft für die erfolgreiche Vermarktung weiterer Flächen neue Grundstücke im Duisburger Hafengebiet."
Wer Tobias Metten eine Weile zugehört hat, der möchte fast selbst ins Schwärmen geraten über so viel Dynamik und ungebremste Wachstumspotenziale. 40 Unternehmen haben sich hier angesiedelt, 2500 neue Arbeitsplätze sind in den vergangenen Jahren entstanden. Und das ist erst der Anfang: Bis 2010 sollen noch einmal 1500 weitere Arbeitsplätze hinzukommen.
Diesen Zukunftsoptimismus in Rheinhausen mag der frühere Pfarrer Dieter Kelp nicht teilen. Er hat andere Erfahrungen gemacht.
Kelp: "... die Menschen selber, wenn sie mit ihnen reden, klagen, natürlich: Sie sind 20 Jahre älter geworden, diejenigen, die man kennt, aber es sind auch weniger junge da, weil die dann einfach diesen Lebensraum meiden, er gibt ihnen auch beruflich zu wenig und er gibt ihnen emotional gar nichts, also ich meine, dass ist nun eine Klage ins Nichts, es ist halt wie es ist, aber in jedem Fall hat die Aufrechterhaltung von Arbeit am Ort zu einem positiven Lebensgefühl der Menschen am Ort nicht beigetragen."
Natürlich: Das neue Jobwunder von Rheinhausen hat wenig gemein mit der gut bezahlten Arbeit der Stahlkocher bei Krupp. Wer auf dem Logport-Gelände arbeitet, der ist nicht selten prekär beschäftigt und arbeitet für wenig Geld. Das weiß auch Logport-Sprecher Tobias Metten. Aber die allgemeine Lohnentwicklung könne man eben auch nicht aufhalten.
Metten: "Also es wird sicherlich nie möglich sein auf dem Logport-Gelände wieder die alte Situation herzustellen, sowohl was die Arbeitsplatzzahl angeht als auch die Qualität oder das Lohnniveau zum Beispiel, weil natürlich heute ganz andere Lohnniveaus üblich sind, gerade in nichtqualifizierten Berufen wie sie ja in der Logistik genauso vorhanden sind wie in anderen Branchen."
Rheinhausen erzählt viele Geschichten. Zum Beispiel die von einem erfolgreichen Strukturwandel, der manche Menschen trotzdem nicht hoffnungsfroh in die Zukunft schauen lässt. Oder die von einem verlorenen Arbeitskampf, der heute glatt als gewonnen durchgehen würde. So verändern sich die Perspektiven.
Rheinhausen, das ist für Markus Grolms vor allem die Geschichte von Entschlossenheit und Solidarität. Vor zwei Jahren hat er als Betriebsrat bei BenQ in Kamp-Lintfort selbst gegen die Betriebsschließung gekämpft. Heute unterstützt er als Vertreter der IG Metall die Nokia-Belegschaft in Bochum beim Kampf um den Erhalt ihres Werkes. Von Rheinhausen hat er gelernt.
Grolms: "Das, was aber übertragbar ist, ist bei Nokia wie in Kamp-Lintfort wie auch anderswo, wo so etwas passiert, dass man eine Handvoll entschlossener Leute braucht, die bereit sind, was zu tun, und das man dann in der Lage ist, was in Bewegung zu setzen und Gegenwehr auf die Beine zu stellen, dass ist das, was all diesen Geschichten gemein ist."
Doch mittlerweile glaubt kaum noch jemand daran, dass das Nokia-Werk in Bochum noch zu retten ist. Um was also geht es? Es ist wie beim Fußball, sagt Markus Grolms.
Grolms: "Wenn ich nach vorn spiele, muss ich das Spiel nicht unbedingt mit 5:0 nach Hause bringen, das was die Kollegen aber wissen, ist, dass Kämpfen ihre einzige Chance ist, erstmal losgelöst vom Ergebnis, dass das Ergebnis durch den Kampf auf jeden Fall nur besser werden kann, und das ist am Ende das Entscheidende."
Kämpfen? Davon hat Helmut Laakmann noch nichts gesehen. Der Rheinhausener Arbeiterführer, der heute für die Linkspartei im Duisburger Kreisvorstand sitzt, ist enttäuscht von der Zurückhaltung der Nokia-Belegschaft.
Laakmann: "Wir sind ja nicht dazu da, um jetzt gute Ratschläge zu geben, aber man darf eben nicht so einen Arbeitskampf führen wie 'Die Revolutionäre werden gebeten, den Rasen nicht zu betreten', man muss schon klar und deutlich sagen, was man will, und wenn es ökonomische Gründe gibt für einen Konzern, Produktion nach Rumänien zu verlagern, dann kann man nicht dort eine Wende kriegen, indem man jetzt noch fleißiger dort arbeitet als vorher."
Am Werk in Bochum ist es ruhig. Vor dem Eingang steht das Solizelt der IG Metall, daneben knistert ein Feuer.
Jürgen Klausmeier, ein schmaler Mann mit freundlichem Gesicht und ruhiger Stimme, ist seit acht Jahren bei Nokia. Jetzt auf die Barrikaden? Nicht so sein Ding, er wartet lieber erstmal ab.
Klausmeier: "Also ich sag in Frankreich würden schon die Bänder brennen, ne, wenn da so was wäre, da würden die Lkws vorne die Toreinfahrt zuballern oder was weiß ich, da würde hier gar nichts mehr laufen, aber ...wir sind so ein bisschen wie die Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden ..."
Es wird wohl den üblichen Gang nehmen: Sozialplan, Beschäftigungsgesellschaft. Dann ist Schluss.
Nur: Welche Möglichkeiten haben die Arbeitnehmer überhaupt im Kampf gegen eine Werkschließung. Meistens sehr wenig, sagt Arbeitsrechtexperte Michael Kittner.
Kittner: "Wenn ein Unternehmen sagt: Wir wollen ein Werk schließen, und die Arbeitnehmer sagen: Ja dann arbeiten wir nicht, dann sagt das Unternehmen wunderbar, das ist genau das, was wir wollen, das heißt, der ökonomische Druck auf ein Unternehmen, das ein Werk schließen will, ist höchst diffizil und es ist typischerweise für die Betroffenen gerade schwer, durch Nichtarbeit Druck auszuüben, also da muss man jeden einzelnen Fall gesondert nehmen, so wie ich die Dinge im Augenblick sehe, läuft es darauf hinaus, dass den Gewerkschaften und den Betriebsräten im Grunde bleibt der Versuch, die Schließung – wenn sie denn unvermeidlich ist – so teuer wie möglich zu machen."
Arbeitsrechtlich ist die Sache klar geregelt: Im Kampf um bestmögliche Abfindungen wird ein Sozialplan ausgehandelt, der in einem Tarifvertrag geregelt werden kann – und solch ein Sozialplantarifvertrag darf auch erstreikt werden.
Dass die Werkschließung in Rheinhausen die ganze Bundesrepublik über Monate in Atem hielt, während Nokia aus den Schlagzeilen längst wieder verschwunden ist – dafür hat Arbeitsrechtexperte Michael Kittner eine einfache Erklärung.
Kittner: "Niemand konnte sich vorstellen, dass inmitten einer ansonsten prosperierenden Wirtschaft noch dazu ein so schmuckes, schönes Werk geschlossen werden kann. Fassungslosigkeit. Und diese Fassungslosigkeit, die die Menschen sozusagen aus ihrer Sicherheit und ihrem wie sie dachten wohlgeordneten Leben gerissen wurden, das hat den Funken erzeugt, der dann zur Explosion geführt hat."
Heutzutage allerdings wird von dieser Entwicklung niemand mehr wirklich überrascht. Denn längst ist klar, dass internationale Standortkonkurrenz zur Funktionslogik der Marktwirtschaft gehört.
Kittner: "Da fehlt sozusagen das emotionale Benzin, in das man nur noch das Streichholz werfen würde, dass es emporschlägt. Wut, Betroffenheit, auch Konfliktbereitschaft – alles da, aber der Antrieb für extreme Verhaltensweisen ist nicht mehr da, weil niemand kann sagen: Ich bin völlig fassungslos, dass so etwas überhaupt heutzutage passiert."
Ist Rheinhausen deshalb ein toter Mythos? Wer nicht mehr überrascht wird und zudem ständig in Angst vor der nächsten Entlassungswelle lebt, hat scheinbar wenig Lust und Kraft, selbstbewusst zu protestieren. Doch vielleicht liegt auch gerade in dieser Perspektivlosigkeit der Keim für den nächsten Aufruhr, meint Helmut Laakmann.
Laakmann: "Ich würde nicht so vermessen sein und sagen: So etwas wie Rheinhausen gibt es nicht noch ma. Ich denke, wenn das so weitergeht, wie man mit Arbeitnehmern hier in diesem Land umgeht und Arbeitnehmerinnen, dann liegt so was in der Luft, dann kann das immer wieder passieren, und vielleicht in einer Größenordnung wo viele sagen: Hätten wir mal früher dafür gesorgt, dass so etwas nicht passiert."