Auch Alkohol kann lebenswichtig sein
Menschen ohne Dach, ohne Dusche und mit wenig Hoffnung. Oft eilen wir einfach an Ihnen vorbei. Was kann jeder Einzelne für Obdachlose tun? Auch die christliche Lehre hat dafür kein Rezept - aber einige Hinweise, wie sinnvolle Hilfe aussehen könnte.
Es ist kalt und zugig hinterm Hauptbahnhof. Trotzdem haben sie im Nieselregeln ihr Lager aufgeschlagen: Sitzen auf Plastiktüten oder eingepackt in dicke Schlafsäcke. Einer von ihnen ist Robert, der nur seinen Vornamen nennen möchte. Er ist Mitte 50. Seine "Karriere": ganz klassisch. Beziehung kaputt, Alkoholabhängigkeit, Job weg, Wohnung weg. So landete er hier hinterm Hauptbahnhof.
"Man sitzt halt sehr viel irgendwo rum und versucht halt, ein bisschen Geld aufzutreiben, zum Beispiel, indem man betteln geht", erzählt er. "Und manche Leute sind halt so nett und geben was und manche – die sind halt sehr ärgerlich darüber und machen einen halt doof an."
Die meisten schauen nicht mal hin
Tausende von Menschen kommen jeden Tag an Robert vorbei. Abgehetzt, den Kopf voller Gedanken. Die meisten schenken ihm nicht mal einen kurzen Blick.
In Deutschland waren im letzten Jahr 860.000 Menschen ohne festen Wohnsitz. Diese gewaltige Zahl wirft aus moraltheologischer Sicht viele Fragen auf: Muss ich helfen? Oder darf ich auch weitergehen?
"Wenn man das aus dem christlichen Glauben ableitet, dann heißt es ja da ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘", sagt Alexander Letzel, sozialpolitischer Referent bei der Caritas. "Es gibt aber aus unserer Sicht keine Verpflichtung, an welcher Stelle man das tut. Ob das in der Nachbarschaft ist, im Bereich der Obdachlosigkeit, das muss dann jeder nach seinem Empfinden für sich selbst entscheiden."
Letzel sagt: Was zählt, ist vielmehr eine grundsätzliche Bereitschaft, Menschen in Notsituationen zu unterstützen.
Grenzen der Barmherzigkeit
Doch wo beginnt wirkliche Not? Das ist schwer zu sagen. Für Gerhard Kruip, Professor für christliche Anthropologie und Sozialethik an der Uni Mainz, wird in der biblischen Geschichte vom barmherzigen Samariter klar, wo die Grenze verläuft:
"Dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen, ist wirklich eine Pflicht, eine moralische Pflicht, die ist sogar heute bei uns in Rechtsform gegossen. Es gibt ja den Straftatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung. Aber dass der Samariter dann dem unter die Räuber Gefallenen auch noch den Aufenthalt in der Herberge finanziert und dem Herbergsvater sagt: ‚Wenn ich zurückkomme, und es sind noch weitere Kosten entstanden, dann ersetze ich die‘ – das geht dann über das moralisch Geforderte hinaus, dazu wäre er nicht verpflichtet. Es wäre sozusagen ‚supererogatorisch‘: über das, was man streng verlangen kann, hinausgehend."
Das Leben auf der Straße hinterlässt Spuren
Robert lebt jetzt schon seit vier Jahren auf der Straße. Er ist einer der wenigen an diesem Morgen, die nüchtern sind. Er ist auch der Einzige, der etwas von sich erzählen möchte. Nicht am zugigen Bahnhof. Lieber im Warmen, im benachbarten Gemeindezentrum.
Im Zeitlupentempo löffelt er den heißen Teller Linsensuppe aus. Das Leben auf der Straße hat Spuren hinterlassen: Wunden, die nicht heilen, Durchblutungsstörungen. Bald soll ihm ein Zeh amputiert werden. Er findet, dass er kein Recht auf Almosen hat. Gehört deshalb zu den Zaghaften unter den Bettelnden:
"Darum machen jetzt viele nur noch mit ‘nem Schild, die sprechen die Leute gar nicht mehr an – um so zu demonstrieren: ‚Ich bin ein Stiller, ich bin ein Ruhiger, ich mach keine Randale‘. Das ist halt auch ‘ne Möglichkeit, die Leute auf sich aufmerksam zu machen."
Gerade mal einer von hundert Passanten, schätzt Robert, macht sich die Mühe, stehen zu bleiben, ihn anzuschauen, zu fragen, wie es ihm geht.
Einer von Hundert bleibt stehen
Dr. Martin Booms, Leiter der Akademie für Sozialethik, sagt: "Wenn ich die Mittel habe, bin ich grundsätzlich verpflichtet, Menschen, die in Not sind, zu helfen. Das heißt aber nicht, dass genau diese Person, in dieser Situation, genau wenn ich da vorbei komme, einen Anspruch genau an mich hat, dass ich ihm helfe!"
Helfen ja, aber nicht immer und jedem. Booms unterscheidet nach Immanuel Kant zwischen vollkommenen Pflichten und unvollkommenen Pflichten: Ist ein Mensch in einer akuten lebensbedrohlichen Situation, haben Passanten die "vollkommene", also unbedingte Pflicht zu helfen. In allen anderen Fällen ist es, zumindest nach Kant, moralisch legitim, einfach weiterzugehen. Das aber ist der Nährboden für soziale Kälte.
Manche schimpfen: "Selber schuld!"
"Selbst schuld!" "Niemand muss auf der Straße schlafen!" So lauten die Klischees. Sie sind falsch, beruhigen aber das Gewissen derer, die sich abwenden und schnell weitergehen. Eine andere Ausrede: Jeder Euro wird sowieso in die nächste Flasche Schnaps investiert.
"Ich möchte eigentlich nicht für die Sucht anderer Leute verantwortlich beziehungsweise unterstützend tätig sein", sagt eine Passantin. Und eine andere: "Es gibt für mich irgendwo ein Ende, da bin ich einfach nicht mehr bereit finanziell zu helfen, wenn ich keinerlei Entwicklung sehe. Jeder ist irgendwo entwicklungsfähig, und jeder sollte jedenfalls versuchen, mit den Mitteln, Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, einfach etwas weiter zu kommen."
Wie sieht sinnvolle Hilfe aus? Auch das empfinden Menschen unterschiedlich. Etwa: das Butterbrot ist gut, der Alkohol ist schlecht – meinen viele.
Mit dieser schablonenhaften Sicht wollte die Caritas aufräumen. Und brachte einen Leitfaden heraus mit dem Titel: "Für einen Umgang mit Bettlern und Armut".
Kalter Entzug kann tödlich sein
Auch die Flasche Schnaps kann unter Umständen überlebensnotwendig sein, sagt Alexander Letzel, sozialpolitischer Referent bei der Caritas: "Man muss dabei nur bedenken, dass insbesondere bei Obdachlosigkeit die Entzugsmöglichkeiten, also geregelte Entzugsmöglichkeiten, relativ gering sind. Und was passiert, wenn jemand auf der Straße einen kalten Entzug macht, kann sich jeder vorstellen. Und gerade jetzt mit der Winterzeit ist das unter Umständen tödlich."
Wirklich helfen, sagt Alexander Letzel, heißt sehr viel mehr als einen Euro zu geben: nämlich genau hinschauen und genau hinhören.
"Das geht durch Gespräche! Also wenn Sie sich wirklich die Zeit nehmen, auf die Bedürfnisse, auf die Situation einzugehen des Menschen, mit dem Sie da konfrontiert sind, dann werden Sie auch feststellen, dass viele auch dankbar sind für eine menschliche Spende sozusagen."
Robert erklärt: "Das fehlt uns eigentlich am meisten: Menschlichkeit. Wenn man da sitzt und bettelt und du sagst: ‚Okay, komm, wir gehen mal nen Kaffee trinken.‘ Und man sich dann mal ne halbe Stunde mit jemandem unterhält."
Wichtig ist: Hingucken
Die Caritas will keine Tipps im eigentlichen Sinn geben, sondern ermutigen, die Scheuklappen abzulegen. Sich einzulassen, Fragen zu stellen.
"Das ist sehr anstrengend, das ist uns auch bewusst", sagt Alexander Letzel. "Das ist jedem selbst überlassen, wie er hilft. Uns ist wichtig hinzugucken. Und den Leuten tatsächlich zu begegnen."
Es heißt: sich "durchlässig" zu machen für das Leid von Menschen, die man überhaupt nicht kennt, denen man vielleicht zufällig begegnet. Und das ist natürlich – vorsichtig gesagt – nicht ganz einfach.