"Wie im Traum"

Von Jochen Stöckmann |
Als der französische Künstler Odilon Redon 1916 in Paris starb, hinterließ er ein Oeuvre von geradezu überwältigender Vielfalt. Seine Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, Seelenkunde und Literatur seiner Zeit sowie das weltoffene Religionsverständnis des Kaufmannssohnes aus Bordeaux führte zu Bilderfindungen, von denen die Surrealisten ebenso zehrten wie Picasso, die Marcel Duchamp genauso begeisterten wie den Filmregisseur Alfred Hitchcock.
Die für seine Kunst entscheidenden Anstöße erhielt Redon in Bordeaux von zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, dem damals kaum bekannten und heute weltweit geschätzten Grafiker Rodolphe Bresdin und dem Naturwissenschaftler Armand Clavaud. Bei dem Botaniker, der als Spezialist für Algen tief in die damals aktuelle Diskussion um die Evolutionstheorie Darwins involviert war, schaute Redon zum ersten Mal durchs Mikroskop - und entdeckte sein Leitmotiv, den Widerspruchs zwischen zwei Welten: der authentischen, aber unsichtbaren Welt der Wissenschaft und der sichtbaren Wirklichkeit. Der 1840 geborene Redon begann als Zeichner, mit virtuosen Abstufungen des Schwarz, und entwickelte sich später zum vielseitigen Koloristen. Er beherrschte die Technik der Lithograf und ging als Maler unkonventionelle Wege die bis zur Entgrenzung des Bildraums, bis an die Schwelle der Abstraktion führten. Während aber sein Zeitgenosse und Gegenpart Paul Cézanne schon vor hundert Jahren durch den Kubismus als Vater der Moderne gefeiert wurde, fehlt bis heute vor allem in Deutschland diese Anerkennung für einen ebenfalls höchst modernen Individualisten. Das holt nun die Frankfurter Kunsthalle Schirn nach, mit der Schau "Wie im Traum - Odilon Redon".

Das Zyklopenauge segelt hochsymbolisch durch die Nacht, ein surrealistischer Ballon mit Brauen und Wimpern kreuzt über dem düsteren Nebelmeer und selbst die fast schon hyperrealistisch gezeichnete Trauerweide scheint im Sumpf unter einer dunklen Last zu ächzen. Mit verstörenden Motiven, dargestellt in satten, schwarz schillernden Kohlezeichnungen betrat Odilon Redon spät, mit fast vierzig Jahren, die Bühne der Kunst, zeigte seine Arbeiten in Paris - als Schwarz nicht eben Farbe der Saison war.

" Das ist 1879, da ist der Impressionismus in Paris in voller Diskussion, zeigt Manet seine großen Bilder, Monet ist da. Und da kommt jemand aus Bordeaux und zeigt schwarze Kohlezeichnungen, von denen man nicht so recht weiß, ob man sie schön, hässlich oder faszinierend finden soll. "

Diese Frage will auch Margret Stuffmann, Kuratorin der mit 240 Arbeiten überaus reich bestückten Ausstellung, nicht beantworten. Statt endgültige Urteile zu fällen, fächert die langjährige Leiterin der Graphikabteilung des Frankfurter Städel gekonnt ein Lebenswerk auf, das hierzulande seltsam unbekannt geblieben ist. Auf Zeichnungen folgen Lithographien und Ölgemälde, zudem eine überraschend große Zahl von Pastellen, Leihgaben, die nur noch sehr selten auf die Reise geschickt werden. Und geradezu verwirrend wirkt in diesem Augenschmaus von betörendem Facettenreichtum die Vielfalt der Anklänge, der thematischen Akkorde und formalen Korrespondenzen: Jugendstil und Symbolismus, realistische Akribie und gestische Annäherung an abstrakte Farbkompositionen. [Dahinter aber blitzt die Individualität eines Künstlers auf, der sich die Zeichen seiner Zeit zu eigen gemacht hat, der als Spätromantiker begann und es bis zu einem Gesamtkunstwerk brachte.

Denn Odilon Redon, der begabte Musiker und gelegentliche Schriftsteller, hielt sich nie an Grenzen oder Genres. Er folgte in der Entwicklung seiner Kunst der Evolutionstheorie Darwins und ließ sich von den Schriften Baudelaires beeinflussen. Vor allem aber hat Redon die Traumtheorie von Sigmund Freud ins Bild gesetzt, sozusagen avant la lettre, Jahre vor deren Veröffentlichung. Da steht etwa eine bleiche Grazien steht in einem Jugendstil-Türrahmen, der sich bei näherem Hinsehen als Schlange entpuppt. Solche Ornament-Motive aus dem dekadenten Fin de siècle brachten den Philosophen Walter Benjamin zu der abschätzigen Bemerkung: "Odilon Redon, dessen Name selbst wie eine allzu gut gedrehte Locke fällt." Das war Ende der dreißiger Jahre. Höchste Zeit also, Widerspruch einzulegen, findet Margret Stuffmann:

" Da hat Benjamin aber auch als Deutscher reagiert: Wenn Redon ein Blatt schafft, was auf den ersten Blick so aussieht wie die Verkündigung an Maria - und auf den zweiten Blick die Versuchung ist, weil nämlich die Architektur, in der sie steht eine Schlange ist, was "der Mann" bedeutet. Da weiß man doch, dass das ein völlig anderes Lebensverständnis ist, nicht schwarzweiß und "Gut und Böse". Dem ist nichts fremd, aber das ist jemand, der mit Genus und trotzdem mühsam gelebt hat. Der Künstlertyp Redon passt den Deutschen nicht. "

Redon, der mit dem Komponisten Debussy und dem Dichter Mallarmé freundschaftlich verkehrte, war durchaus kein Bohemien, sondern ein Großbürger. Sensibel und vielleicht auch verzärtelt wurde er zur Überraschung der eigenen Familie zum Militär eingezogen, kämpfte gegen die Preußen, als einfacher Soldat, weil er die ihm zustehenden Privilegien nicht in Anspruch nehmen mochte. In Erinnerung an den Krieg von 1871 entsteht der "Gefallene Engel", das Porträt eines nackten, kahlköpfigen Mannes. Keine Kopie, sondern eine zeitgemäße Paraphrase auf Goyas "ecce homo". Resultat eines mitfühlenden Blicks, einer bei aller künstlerisch-handwerklichen Präzision aufwühlenden Begegnung mit einem Fremden, ohne jedes nationalistische Ressentiment. dass hier im Zeitalter der einander immer schneller ablösenden "Ismen" ein Individualist, aber durchaus kein weltentrückter Eigenbrötler unterwegs ist, zeigt sich an einer ganzen Bilder-Serie, zu der Redon nach einem Blick durchs Mikroskop eines befreundeten Naturwissenschaftlers angeregt wurde. Neben der "weinenden" gibt es auch eine "lächelnde Spinne" - aber das zeugt keineswegs von Gefühlsduselei:

" Gucken Sie mal in die Augen dieser Wesen, die gucken Sie nämlich an! Und man begegnet damit diesen Wesen. Ob das Kaulquappen sind, ob das Spinnen sind, ob das mythische Gestalten sind. Das ist nicht das nüchterne Betrachten von naturwissenschaftlichen Objekten, sondern es ist eine Begegnung mit diesen Objekten. Und dieses Humanisieren einer Gegenwelt, das ist wesentliches Ingredienz für die Gestaltsprache. "

Redon beließ es nicht bei der Form, dem strengen Schwarz der Zeichnungen. Mit den ersten Ölgemälden kommt um 1900 Farbe ins Spiel. Etwa in großformatigen Bildnissen entrückter, nur mit ihrer eigenen Schönheit beschäftigter Frauen, die als stumme Musen über ein Universum aus Schwermut und Farbenpracht wachen. Es sind zugleich räumliche Erfindungen, über den Bildrahmen hinausdrängenden Visionen piranesischer Gefängnislabyrinthe oder die Eiseskälte von de Chirico heraufbeschwörende Fensterblicke. Allzu uneindeutig und wenig entschieden hat man all das lange Zeit in Deutschland gefunden - während der Filmregisseur Alfred Hitchcock Odilon Redon zu seinem Lieblingsmaler erklärte. Kein Wunder, denn die Vagheit, die "vaghezza" der Bilder und Szenerien war der unentbehrliche Rohstoff für den Meister des "suspense". Und spannend ist auch diese unbedingt empfehlenswerte Redon-Schau - weil wirklich niemand wissen kann, was gerade ihn erwartet, was gerade er gleich sehen wird:

" Das Wichtige dabei ist, das seine Formen Vokabeln sein können, wie die Kugel, die immer wiederkommt, aber das sie eben sinngeladen sind. Die Kugel kann ein Auge sein, sie kann eine Montgolfière sein, sie kann alles zusammen sein. Und es ist der Betrachter, der den Weg geht und entscheidet, welche Schicht, welche Bedeutungsschicht er selbst für sich adaptiert. "


Service:
Die Ausstellung " Wie im Traum. Odilon Redon" ist bis zum 29. April 2007 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen.