Wie Juden enteignet wurden

Michael Verhoeven im Gespräch mit Susanne Führer · 23.01.2009
Der Dokumentarfilm handelt nicht nur von der Enteignung jüdischer Mitbürger, sondern auch davon, dass diese Ereignisse heute noch vertuscht werden. Regisseur Michael Verhoeven äußerte sich über "Menschliches Versagen" im Deutschlandradio Kultur.
Susanne Führer: Morgen Abend läuft im Bayrischen Fernsehen der neue Dokumentarfilm von Michael Verhoeven, "Menschliches Versagen". Im März kommt er in die Kinos. Der Titel klingt recht allgemein, sein Gegenstand bzw. sein Ausgangspunkt, nämlich Steuerakten der Finanzbehörden aus der Zeit des Nationalsozialismus, das klingt erst einmal trocken.

Der Film aber ist es nicht. Denn anhand dieser Steuerakten werden die Schicksale der deutschen Juden und ihres Vermögens rekonstruiert. Penibel genau mussten die Juden ihren Besitz auflisten. Nicht nur Vermögen, Kunst, Immobilien, sondern alles – vom kleinen Silberlöffel über das Bügeleisen bis zum Nachthemd. Die Besitzer wurden deportiert, den Besitz riss sich dann entweder der deutsche Staat unter den Nagel oder der sogenannte deutsche Volksgenosse. Denn die Vernichtung der Juden hatte den durchaus beabsichtigten Effekt, das Deutsche Reich und die Deutschen zu bereichern. Guten Tag, Herr Verhoeven!

Michael Verhoeven: Ja, Frau Führer, auch guten Tag!

Führer: Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, sich durch Berge von Steuerakten zu wühlen?

Verhoeven: Eigentlich durch ein Buch von dem Historiker Götz Aly, der eigentlich das System des Dritten Reiches völlig auf den Kopf stellt, indem er sagt …

Führer: Volksstaat Hitler. Hitlers Volksstaat.

Verhoeven: … indem er uns klar macht, dass vieles von unten kam, also dass es nicht aufoktroyiert war von den Nazivertretern nach unten auf die Bevölkerung, sondern dass vieles von unten kam und dass die Nazisysteme durchaus angewiesen waren auf Beratung. Und das ist zum Beispiel hier der Fall bei der Enteignung der Juden. Die gehört zwar natürlich ins Denken und Planen der Nazis, aber durchgeführt und organisiert und im Wettstreit untereinander, wer kann es besser, durchgeführt wurde das von den Finanzbeamten.

Führer: Und das wussten auch Sie nicht, der ja nun schon mehrere Filme über den Nationalsozialismus gedreht hat?

Verhoeven: Ja, wenige wissen das, weil ich werde auch von Historikern jetzt angerufen, die wollen von mir Auskunft haben, weil das ist so neu. Das Staatsarchiv in München hat jetzt überhaupt erst ein Drittel dieser Akten, die auf Bayern bezogen sind, überhaupt erst verzeichnet. Das heißt, man kennt das gar nicht richtig, es hat erst mal Nummern. Man hat sich damit nicht befasst, weil das diesen Decknamen Steuerakten hatte.

Führer: Der Historiker Götz Aly kommt ja auch in Ihrem Film mehrfach zu Wort, und in dem erwähnten Buch "Hitlers Volksstaat" hat er ja nachgewiesen, dass die Deutschen eben von der Ausrottungspolitik im besetzten Europa und auch von der Enteignung und Vernichtung der Juden finanziell enorm profitiert haben. Aly schätzt ja, dass jüdisches Eigentum im Wert von 15 bis 20 Milliarden Reichsmark in die Kriegskasse geflossen ist. Herr Verhoeven, Sie zeigen in dem Film, wie dieser Raubzug genau geplant und auch akribisch und bürokratisch genau dokumentiert wurde. Ich hatte manchmal so den Eindruck, Sie zeigen immer diese ganzen Listen mit den Gegenständen, ich hatte manchmal den Eindruck, Sie sozusagen entsetzt und unglaublich den Kopf schütteln zu sehen.

Verhoeven: Das ist eine gute Vorstellung, weil natürlich, ja, ich bin aus dem Kopfschütteln nicht rausgekommen, weil, was ist denn mit den Dingen passiert. Sie sind eben dann auch erworben worden, und zwar ganz legal durch Versteigerungen erworben worden von Nichtjuden, also von den sogenannten Ariern, wo Leute gesagt haben, das will ich aber haben. Oder jemand geht her und sagt, diese Wohnung ist doch größer als meine, wann wird denn dieser Mensch endlich deportiert, damit ich diese Wohnung beziehen kann. Also das wird uns alles gezeigt in dem Film.

Führer: Und die Versteigerungen wurden ja auch angekündigt mit "Versteigerung aus nichtarischem Besitz", das heißt, man wusste, was man da kaufte?

Verhoeven: Ja, natürlich. Ja, natürlich wusste man das, sonst wäre es ja auch nicht so billig gewesen, das waren ja Schnäppchen, wie uns beschrieben wird. Nein, aber der andere Teil, den ich noch irgendwie seltsamer finde – was ist seltsamer –, das ist der, dass jeder Deutsche, Götz Aly sagt, und selbst wenn er ein richtiger Nazigegner war, davon profitiert hat.

Weil – das ist ein furchtbares Beispiel eigentlich – indem er das Schicksal eines Goldzahns beschreibt, wissenschaftlich ganz genau ausgerechnet, was ist mit einem Goldzahn, der, ja, Sie wissen, wo der Goldzahn her stammt, geschehen. Und da macht er uns klar, dass erst mal ein großer Teil dieses Goldzahns wandert ans Militär, für die Militärzahnärzte. Dann wird die Säuglingsnahrung eingekauft in der Schweiz von diesem Goldzahn, weil man hatte Mangel an Milch und an Butter.

Es werden die Rentenerhöhungen der deutschen Rentner davon finanziert. Also das ist etwas, das gibt einem noch mehr zu denken, weil derjenige, der so was steigert, der weiß, ich habe das jetzt aus einer jüdischen Familie weggenommen, will natürlich auch deswegen gar nicht unbedingt haben, dass die wiederkommen, es könnte ja Ärger geben. Aber der Rentner, der jetzt eine Rentenaufbesserung bekommen hat im Dritten Reich, weil die Juden halt zu Tode gebracht wurden, der weiß das ja nicht.

Führer: Ja, man kann sich ja auch fragen, ob nicht mancher Gegenstand, den wir als altes Familienerbe betrachten, also Omas Brosche, nicht vielleicht auch irgendwie ganz dunkle Herkunft hat. Ihr Film, Herr Verhoeven, legt ja doch sozusagen indirekt den Schluss nahe, dass so viele auch deshalb Hitler so willig gefolgt sind, weil sie unmittelbar davon profitiert haben. Sie haben jetzt das Beispiel mit dem Goldzahn gebracht, wo es nicht so deutlich war. Aber ein anderes Beispiel bringen Sie auch: Nachdem die Juden aus Wien deportiert worden waren, standen dort 70.000 Wohnungen leer, allerdings nicht lange, weil ja Wohnungsnot herrschte. Das heißt, man war auch Nazi aus finanziellem Eigennutz?

Verhoeven: Nicht immer gleich Nazi, aber man war im Vorteil. Man hat diesen Vorteil ausgenützt, und man war Opportunist des Nazisystems. Nicht unbedingt musste man aktiver Nazi sein, aber man hat halt davon Vorteile genossen. Und das hat natürlich auch dieses System am Leben gehalten oder nach vorne gebracht.

Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche im "Radiofeuilleton" mit dem Regisseur Michael Verhoeven über seinen neuen Dokumentarfilm "Menschliches Versagen". Herr Verhoeven, die ersten Profiteure des Nationalsozialismus waren ja die Akademiker. Schon 1933 gab es ja dieses berühmte Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, danach konnten dann Gegner des NS-Regimes und Juden entlassen werden. Und so nach und nach wurden dann ja zigtausende Beamten-, also auch Lehrer- und vor allen Dingen auch Professorenstellen frei, Anwalts- und Arztpraxen ebenso. Diesen Aspekt aber streifen Sie eigentlich nur in Ihrem Film. Warum?

Verhoeven: Nein, das ist nicht wahr, was Sie sagen. Das erklärt zum Beispiel auch Götz Aly ganz genau, und ich habe ja auch eine Augenzeugin, Zeitzeugin, die Tochter eines Arztes und Enkelin eines Arztes, die eben genau das erfahren haben, dass sie nicht mehr Arzt sein durften, weil sie Juden waren, und der Großvater hat sich auch das Leben genommen.

Führer: Streifen ist vielleicht etwas zu scharf formuliert, aber Sie konzentrieren sich doch sehr auf die Gegenstände, vielleicht auch wegen dieser beeindruckenden Liste, wo dann steht, zwei Mokkatassen, drei silberne Teelöffel, dass so dieser Akademikerprofit doch relativ wenig vorkommt, hatte ich den Eindruck.

Verhoeven: Also ich habe den Eindruck nicht, aber ich kann mir den Film wieder anschauen am 24. läuft er ja noch mal, da kann ich das prüfen. Nein, aber warum war ich so beeindruckt von diesen Listen? Weil ja ganz klar ist, die jüdischen Familien wurden gezwungen, solche vorbereiteten Listen, wo jeder Gegenstand, den man sich überhaupt vorstellen konnte, gibt es sogar ein Totenhemd, was dann also konfisziert wird. Es sind ja nicht nur die Sachen, die wirklich auf Anhieb einen Wert haben, wenn man das liest, also Schmuck oder so etwas. Nein, es ist ja auch Kinderspielzeug, es ist der Teddybär des Kindes, und das Kind muss diese Liste selber, muss selber die Liste erstellen, was es alles in seinem Kinderzimmer vorfindet an Dingen. Das ist das, was mich am meisten beeindruckt hat, muss ich ehrlich sagen, wie das durchgeführt worden ist, mit dieser preußischen Genauigkeit.

Führer: Am Ende des Films gibt es ja eine Rückgabe sozusagen. Ein Sohn gibt einen Schrank – die Eltern haben in der Zeit des Nationalsozialismus gelebt, er noch nicht –, er gibt einen Schrankkoffer zurück, der leer ist. Man kann vermuten, dass da vorher Wertgegenstände drin waren und sich seine Eltern daran bereichert haben. Haben Sie eigentlich mal überlegt, als Sie diesen Film geplant haben, Herr Verhoeven, sich mehr noch mal auf die Spur der Profiteure zu begeben? Sie bleiben ja immer an der Seite der Opfer in diesem Film.

Verhoeven: Wir haben ja sogar einen Fall, einem Fall sind wir richtig nachgegangen, weil das ist eben diese Akribie, dass man auch den, der dann solche Gegenstände aus jüdischem Familiebesitz ersteigert hat, den findet man, weil der ist namentlich aufgeführt in diesen Listen, was er bezahlt hat, steht drin, wo er wohnt, steht drin. Also wir haben eine solche Familie aufgesucht.

Ja, und dann habe ich eigentlich gedacht, ist das der Film, den ich machen will, will ich wirklich mit Fingern auf Leute zeigen und sagen, ihr habt euch bereichert? Das will ich eigentlich gar nicht, sondern ich war dann froh, dass auf mich jemand zugekommen ist – das ist dieser berühmte Schrankkoffer, der jetzt leer ist, wo aber dieser Sohn der Familie uns ganz genau sagt, was da drin gewesen ist, also natürlich Wertgegenstände. Und mit seiner Familie hat er sich natürlich auch total überworfen, weil die Familie das durchaus nicht hergeben will, und er hat es aber hergegeben. Er hat sich sozusagen das unerlaubt genommen, was sich also diese ganzen Ersteigerer und Profiteure erlaubt genommen haben. Weil das ist ja vielleicht der Hauptskandal, dass es legal war.

Führer: Michael Verhoeven über seinen neuen Film "Menschliches Versagen". Er läuft morgen Abend im Bayerischen Fernsehen um 21 Uhr 50.