Wie Krankheiten die Kunst verändern

Von Richard Schroetter |
Van Gogh, Hölderlin oder Nietzsche sind vielleicht die berühmtesten Patienten, deren Krankheiten nicht ohne Einfluss auf das künstlerische Werk blieben. Das pathografische Interesse führte zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu zahlreichen brisanten Studien. Etwa zu denen von Julius Möbius, Wilhelm Lange-Eichbaum und Karl Jaspers, die den Zusammenhang von "Irrsinn und Ruhm" näher untersuchten. "Der größte Teil der Kunst ist das Werk von Psychopathen."
"Der größte Teil der Kunst ist das Werk von Psychopathen."

Betont der Hautarzt und Dichter Gottfried Benn in seiner Autobiographie "Doppelleben".

Benn: "... von Alkoholikern, Abnormen, Vagabunden, Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten, Henkelohren, Hustern - : das war ihr Leben, und in der Westminsterabtei und im Pantheon stehen ihre Büsten und über beidem stehen ihre Werke: makellos, ewig, Blüte und Schimmer der Welt."

Benn hatte offensichtlich viel in der medizinischen Fachliteratur geschmökert, vor allem die spektakulären Arbeiten zur Pathographie, die vor dem zweiten Weltkrieg ein besonders hohes Ansehen genoss. Die Pathographie beschäftigt sich laut Brockhaus:

"mit der Erforschung der körperlichen und seelischen Anomalien bekannter Persönlichkeiten." Sie hat eine lange Tradition.

Bormuth: "Also begonnen hat es eigentlich mit dem Aufschwung der wissenschaftlichen Psychiatrie und Anatomie um Achtzehnhundert."

Sagt Matthias Bormuth, Arzt, Medizinhistoriker und Kulturwissenschaftler am Tübinger Institut für Ethik und Geschichte der Medizin.

Bormuth: "Wichtig ist zu nennen der Straßburger Anatom Gall, der eine Phrenologie entwickelt hat, und versuchte zwischen äußeren Kennzeichen des Gehirns und Veränderungen vor allen Dingen und psychischen Ausdrucksweisen, geistigen Tätigkeiten Zusammenhänge herzustellen. Das war um Achtzehnhundert ganz stark. Zum Beispiel Goethe war vollkommen fasziniert von dieser Möglichkeit."

Franz Joseph Galls Lehre basierte auf der für die Hirnforschung wegweisenden Überlegung, dass geistige Eigenschaften, Talente, Gefühle und Neigungen ihren Sitz und ihre Ursache in verschiedenen Regionen des Gehirns haben.

Bormuth: "Man hat ja keinerlei naturwissenschaftliche Kenntnisse gehabt, keinerlei zellanatomische Kenntnisse, man war tatsächlich auf diese groben äußeren Korrelationen, Größe ungefähr entspricht Genialität usw., angewiesen. Wenn man an Descartes zwei Jahrhunderte zuvor denkt, ja, der noch den Sitz der Seele in die Zirbeldrüse gelegt hat... Es waren im Grunde interessante Spekulationen, wo aber den Forschern die wirklichen Korrelationen gefehlt haben."

Für Gall war die Kopfgröße der entscheidende Faktor:

Gall: "Es gibt eine bedeutende Differenz zwischen drei Sorten von Köpfen: die Köpfe der Idioten, die Köpfe der Menschen, die über mittelmäßig ausgeprägte Talente verfügen, und die Köpfe der herausragenden Menschen, denen großes Genie gegeben ist. Die ersteren sind durch die Kleinheit ausgezeichnet, die letzteren durch die Größe."

Galls Überlegungen muten heute relativ simpel an. Aber damals waren sie revolutionär. Er besaß den Mut und das Geschick, sein Wissen öffentlich zur Schau zu stellen. Die bürgerliche Kunstwelt ganz Europas fühlte sich von seinen anatomischen Demonstrationen angesprochen. Für Goethe und viele andere gebildete Laien waren Galls Erkenntnisse…

"… der Gipfel vergleichender Anatomie…"

… und ein gelungenes Beispiel für die Verbindung von Anschauung und Wissenschaft. Geist uns Seele, Intelligenz, Wille und Erkenntnisvermögen waren mit einem Mal nicht mehr unfassbar und maßlosen Spekulationen ausgeliefert, sondern ein anatomisch exakt fixierbares Gelände, mit den Händen fassbar.

Bormuth: "Man hatte eben noch keine anderen Methoden, es war noch nicht möglich das Gewebe durch Färbungen so herzustellen, dass man tatsächlich auch einzelne Nervenzellen mit bestimmten Strukturen unterscheiden konnte. Diese Entwicklung ist im Grunde erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Hirnanatomie entwickelt worden. Und dann war es ganz anders möglich, auch die Feinstrukturen zu untersuchen."

Galls Untersuchungen lösten eine regelrechte Schädelwelle aus. Plötzlich wurden Schädel zu einem begehrten Sammelobjekt. Leidenschaftliche Schädelliebhaber scheuten sich nicht, prominenten Toten nachts klammheimlich den genialen Kopf abzutrennen. So geschah es 1809 mit dem Schädel Josef Haydns, der heimlich geraubt und in Privatbesitz versteckt aufbewahrt wurde. Die Pathographie ist nicht ohne die Geschichte der modernen Psychiatrie zu sehen.

Bormuth: "... die Psychiatrie ist um 1870 erst Teil unserer Universitätspsychiatrie geworden... Virchow ist zu nennen, Griesinger, der hier in Berlin war, die zum Teil hirnanatomisch gearbeitet haben, aber auch neuropsychopathologisch."

Wilhelm Griesinger gehört zu den Pionieren der wissenschaftlichen Form der Psychiatrie. Bahnbrechend wurde sein Lehrbuch über die psychopathologischen Phänomene, das in der endgültigen Fassung bereits 1862 erschien.

Bormuth: "Da sind enorme Fortschritte zu erkennen zum einen, zum anderen ... d.h. nachdem die Psychiater sehr lange am Rande der Gesellschaft waren, oft sozusagen in Gefängnissen und in Arbeitslagern in Anführungsstrichen in eins gesetzt wurden. Die psychiatrischen Kliniken oft außerhalb der Gemeinde gelegene reine Verwahranstalten waren, d.h. in diesem Zeitraum einer Euphorie selbst am Fortschritt der Wissenschaften teilzunehmen."

Die Tatsache, dass sich die Irrenärzte nicht nur mit den "einfachen Leuten" befassten, mit der tristen "Verwahrung und Wegschließung von sogenannten Unterschichtspatienten", sondern auch mit genialen Gehirnen berühmter Forscher und Künstler, steigerte in der Öffentlichkeit ihr Ansehen beträchtlich.

Bormuth: "Da beginnt die wissenschaftliche Psychiatrie im engeren Sinne, da werden auch die ersten großen Universitätskliniken gebaut. Bis dahin waren die Kliniken reine Verwahranstalten."

Zu den Caesaren der wissenschaftlichen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts gehört neben Griesinger in Deutschland, Morel in Frankreich der Italiener Cesare Lombroso.

Bormuth: "Cesare Lombroso war ein norditalienischer Psychiater, der in den 60ziger Jahren dieses Buch publiziert hat ... und hat regelrecht, Jaspers nennt es eine Lombroso Welle, ausgelöst, d. h., alle haben sich überlegt, inwieweit die Bedingungen der modernen Lebenswelt in einer gewissen Weise förderlich sind für die Entwicklung der Genialität verbunden mit der Frage der Degeneration."

Seine Aufsehen erregende Studie genio e follia, veröffentlicht 1864, sprach nicht nur den Fachmann, sondern auch eine neue populärwissenschaftlich interessierte Leserschaft an. Die Arbeit erschien auf Deutsch gleich in einer erschwinglichen Erfolgsausgabe.

Bormuth: "Es war ein Versuch, man würde es heute eine Mischung zwischen sozialpsychiatrisch, biologisch psychiatrisch und kunsttheoretisch verstehen, zum Teil mit Implikationen, was sozialdarwinistische Theorien angeht. Erbgenetische Theorien, also wo man überlegte, was hat die Entwicklung der modernen Lebenswelt, die Bildung eines Massenproletariats in den Großstädten, Intelligenz in Anführungsstrichen, gibt es eine Korrelation zwischen den sozialen Phänomenen und dem, was man psychiatrisch feststellen kann. "

Aus Büchern wie Genie und Wahnsinn oder Der geniale Mensch erfuhr der aufgeschlossene Leser, dass ein so bedeutender Zeitgenosse wie der von Nietzsche und Wagner zum Kultphilosophen erhobene Privatgelehrte Arthur Schopenhauer, dem "vollkommensten Typus des irrsinnigen Genies" entsprach. Das bürgerliche Misstrauen gegenüber Außenseitern und "genialen Gehirnen" fühlte sich durch die steckbriefartigen Kurzbiographien Lombrosos, mit ihren finalen wie Gottesstrafen verhängten Diagnosen, in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Schwer wurde es dem gebildeten Laien gemacht, zwischen übler Nachrede und exakten Wissenschaften zu unterscheiden. Zwischen den großen "Gehirnen begabter Persönlichkeiten" und den Gehirnen primitiver "Verbrecher und erblich veranlagter Geisteskranker", gab es nach Lombroso "sonderbare Übereinstimmungen", die er als "Entartungs"-Phänomene bezeichnete.

Bormuth: "Im Grunde ist es eben eine sehr heikle Herangehensweise ..."

Andererseits gewann er der Psychose auch positive Züge ab.

Lombroso: "Sie ist günstig für die künstlerische Produktion, denn sie setzt die Vernunft herab und macht die Phantasie frei."

Dass Lombroso in vielen Punkten methodisch äußerst fadenscheinig vorgegangen war, hatte bereits 1886 der Franzose Gabriel Tarde anhand statistischer Erhebungen nachgewiesen. Doch der Zeitgeist wollte auf solch kleinliche Beweisführungen keine Rücksicht nehmen. Lombroso starb hochgeehrt 1909.

Ohne es zu wollen, hatte Lombroso für die nächsten Jahrzehnte die Weichen gestellt. Besonders in Deutschland fielen seine Thesen auf fruchtbaren Boden. So bei dem eigentlichen Begründer der heutigen Pathographie, dem 1853 in Leipzig geborenen und dort auch wirkenden Nervenarzt Paul Julius Möbius. Der Verfasser der provozierenden Studie ›Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes‹ - von Sigmund Freud als "der beste Kopf unter den Neurologen" bezeichnet - beschäftigte sich ebenso umtriebig wie mit dem "schwachen Geschlecht" mit den starken Männern, das heißt den Denkern à la Rousseau, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche. 1903 erscheint seine Studie über den Philosophen des Zarathustra und der Fröhlichen Wissenschaft, Friedrich Nietzsche, der drei Jahre zuvor an den Folgen der Paralyse gestorben war. Nietzsches Ideenwelt, seine pointierte Gedankenführung, seine geistvolle aphoristische Kunst, interpretierte Möbius als Anzeichen geistigen Verfalls - geistiger Umnachtung, augenfällige Symptome des Verfalls. Gegen Dekadenz und den grassierenden Nietzsche-Kult der Jahrhundertwende gerichtet, warnt er nachdrücklich vor den schönen Künsten dieses großen "Unzeitgemäßen".

Möbius: "Wenn ihr Perlen findet, so denkt nicht, dass das Ganze eine Perlenschnur wäre. Seid misstrauisch, denn dieser Mann ist ein Gehirnkranker."

Mit Möbius beginnt eine Kette pathologischer Studienwerke, in denen vor allem prominente Künstler im Mittelpunkt stehen. 1909 erscheint von Wilhelm Lange-Eichbaum die erste große pathographische Studie über den Dichter Friedrich Hölderlin. Gedichte, die zu den Höhepunkten der deutschen Dichtung zählen wie Die Hälfte des Lebens oder Brot und Wein, werden hier pathographisch als psychische Störungen abgetan:

Lange-Eichbaum: "Die Nachtgesänge und Hymnen zeigen ganz ausgesprochene schizophrene psychotische Störungen, nur dass diese von den Talentresten wie durch einen Schild gedeckt werden, ... das Denken zerfahren, bizarr, unrichtig, abrupt ..."

"Das Geheimnis der Dichtung" reduziert Lange-Eichbaum auf biographische Anekdoten.

Lange-Eichbaum: "In Tübingen im Hölderlinturm hat er sein Leben bis ins 73. Jahr hingedämmert. Dort konnte man ihn, eine spitze weiße Mütze auf dem Kopf, unstetig am Fenster hin und herirren sehen. Dieser Anblick hat in dem jungen Studenten Mörike die phantastische Romanze vom Feuerreiter wach gerufen: Seht ihr an dem Fensterlein dort die rote Mütze wieder ..."

In den Jahren nach dem 1. Weltkrieg boomte die Pathographie, wie die Flut der Publikationen zeigt.
1921 Karl Jaspers: Strindberg und Van Gogh
1922 Kurt Schneider: Der Dichter und der Pathologe
1924 Karl Birnbaum: Grundzüge der Kulturpsychopathologie
1928 Wilhelm Lange-Eichbaum: Genie, Irrsinn und Ruhm
1929 Ernst Kretschmer: Geniale Menschen
1936 Karl Jaspers: Nietzsche

Das Interesse der Forscher geht dabei in verschiedene Richtungen. Karl Jaspers Anliegen ist es, die existenzielle Tiefendimension des Kunstwerks und des Künstlers zu erfahren, Lange-Eichbaum und Ernst Kretschmer wiederum betonen die Frage, wie die Anlagen genialer Menschen einzustufen, zu klassifizieren und diagnostisch zu bewerten sind, und wie sich diese Faktoren auf das künstlerische und geistige Leistungsvermögen auswirken. Für Lange-Eichbaum steht fest, dass "diese Genie-Gewordenen".

Lange-Eichbaum: "... nun tatsächlich irgendwie enger mit "Irrsinn" oder nach unserer Namensgebung, mit Bionegativen im Sinne von bionegativ Abnormen zusammenhängen."

Dem späteren Philosophieprofessor Karl Jaspers reichten solche faktenorientierten Erkenntnisse nicht. Die Biographien und Werke großer schizophrener Künstler, die er eingehend studierte, ermöglichen uns nach ihm erst den Einblick in die Abgründe der eigenen Existenz und der Zeit.

Bormuth: "Diese aus den Fugen geratene Zeit war seines Erachtens durch die Künstler seismographisch wahrgenommen. Hölderlin, van Gogh und Nietzsche waren für ihn ungewöhnliche, außergewöhnliche, sprengende Künstler, die aber zugleich einen gewissen Einheitsgedanken hatten. Sie hatten ohnehin eine Sensibilität, und diese war in der Verrückung, in der Erkrankung noch gesteigert. Und sie hatten aber auch noch einen Gestaltungswillen, um sich nicht einfach in dieser auseinanderbrechenden Zeit zu öffnen, sondern sie auch in ihrem Werk zu gestalten. Das war es, was für Jaspers entscheidend war."

Der Arzt Jaspers befand sich jedoch in einem Dilemma: einerseits fühlte er sich als Psychiater verpflichtet, bei Hölderlin, Strindberg und Nietzsche die Krankengeschichte "kasuistisch" festzuhalten, andererseits sah er in der Überbetonung der Krankheit ein Hindernis, um die großen Kunstwerke zu begreifen:

Jaspers: "Die spießbürgerliche Art, den Begriff "krank" zur Herabsetzung zu benutzen ... macht blind für eine Wirklichkeit, die wir bis heute nur kasuistisch erfassen können, und die wir keineswegs zu deuten vermögen, ja deren Formulierung uns Schwierigkeiten macht, vermutlich weil wir in begrenzten Wertkategorien verstrickt sind, und in einen Begriffsapparat, der uns fesselt, während wir fühlen, dass er sich zugunsten eines umfassenderen freieren, beweglicheren auflöst."

Den Pathographen Jaspers interessierten vor allem das Leben und Werk professioneller Künstler. Seinen Kollegen, den 1886 geborenen bedeutenden Psychiater, Kunsthistoriker und Sammler Hans Prinzhorn dagegen die gestalterischen Arbeiten von schizophrenen Patienten, aber künstlerischen Laien. In seinem weit rezipierten Buch Bildnerei der Geisteskranken von 1922 hat er die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen analysiert:

Prinzhorn: "Dort beim Schizophrenen ein schicksalsmäßiges Erleben. Ihm legt sich die 'Entfremdung der Wahrnehmungswelt' als ein grauenhaftes, unentrinnbares Los auf, gegen das er oft lange kämpft, bis er sich fügt und langsam in seiner wahnhaft bereicherten autistischen Welt heimisch wird. Hier beim Künstler unserer Tage geschah die Abwendung von der einst vertrauten und umworbenen Wirklichkeit, zwar im besten Falle unter Erlebniszwang, aber immerhin mehr oder weniger als ein Akt, der auf Erkenntnis und Entschluss beruhte."

Mit den "Künstlern unserer Tage" meint Prinzhorn die Maler des Expressionismus, die immer wieder zu hören bekamen, "verrückt" zu sein. Zwar gebe es stilistische Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen "der Zeitkunst und den Bildern" seiner Patienten, doch warnte Prinzhorn vor dem absurden Schluss:

Prinzhorn: "... dieser Maler malt wie jener Geisteskranke, also ist er geisteskrank. ... Wer zu so einfältigen Schlüssen neigt, hat keinen Anspruch ernst genommen zu werden."

Prinzhorn starb 1933. Er hat das Drittes Reich nicht mehr miterlebt, allerdings das Gros seiner Kollegen. Jaspers ließ sich von den Nazis nicht vereinnahmen und wurde aufgrund seiner Haltung und Schriften 1937 vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Anders Lange-Eichbaum.

Bormuth: "… und Lange-Eichbaum gehörte zu den Psychiatern, die im konservativen Bereich der Sterilisation und der Euthanasie durchaus aktiv mitgearbeitet hatten. Lange-Eichbaum hat sich nach 33 auf diese Seite geschlagen. Ernst Kretschmer hat sich nicht auf diese Seite geschlagen. Also ganz und gar nicht. Er hat zwar die Konstitutionslehre, aber die war in keinerlei Hinsicht rassenhyghienisch infiltriert. Also es gab da keine einheitliche Sicht. Das kann man in keinerlei Weise sagen."

Der hellsichtige frühverstorbene Hans Prinzhorn hatte bereits vor 33 den Blick auf einen kaum beachteten Zweig der Pathographie gelenkt, der ganz neue Perspektiven eröffnet, und der heute als Neuroästhetik bezeichnet wird. Es geht hier um Erfahrungsmuster, um Formen der Imagination, die durch ganz bestimmte Erlebnisse ausgelöst werden. Dabei beschränkt man sich heute nicht mehr einseitig auf Wahnerkrankungen, sondern hat das Spektrum erheblich erweitert. So hat sich Klaus Podoll, Psychiater, Neuropsychologe und Therapeut am Universitätsklinikum Aachen, intensiv mit Migränepatienten auseinandergesetzt. Bei seinen langjährigen Studien ist er auf den Maler Giorgio De Chirico gestoßen, der, wie man seinen Schriften entnehmen kann, auch an Migräne litt. De Chirico, der Erfinder der pitura metafisica, ist einer der bedeutendsten Künstler der Moderne. Die pathographische Forschung geht heute davon aus, dass einige der Epoche machenden Bilder De Chiricos durch einen Migräne-Anfall ausgelöst worden sind.

Podoll: "Dass das erste Gemälde, das von De Chirico selbst als Repräsentant des metaphysischen Stils aufgefasst worden ist, Das Geheimnis eines Herbstnachmittags von 1909, dass er dieses Gemälde konzipiert hat in einer Phase, wo er gerade von einer sehr langen Krankheit genesen ist, wo er vielfältige gesundheitliche Beschwerden hatte, ... wo die neurologische Analyse wieder Hinweise bietet, dass das Ganze im Kontext einer Migräne-Attacke konzipiert worden ist.""

De Chirico: "An einem klaren Herbstnachmittag saß ich mitten auf der Piazza Croce in Florenz auf einer Bank. Selbstverständlich sah ich den Platz nicht zum ersten Mal. Ich war gerade von einer langwierigen und schmerzhaften Erkrankung (des Darms) genesen und daher gleichsam im Stand einer morbiden Sensibilität. Mir schien, alles, was ich sah, im Zustand der Genesung, sogar der Marmor der Bauwerke und des Brunnens ... Da hatte ich den befremdlichen Eindruck, diese Dinge zum ersten Mal zu sehen."

Zufall nur? Eine ähnliche Erfahrung machte auch Salvador Dali. Eines seiner berühmtesten Bilder entstand nach einer Migräneattacke:

Salvador Dali: "Wir hatten unser Diner mit einem ausgezeichneten Camembert beschlossen, und als ich allein war, blieb ich einen Augenblick mit aufgestützten Ellenbogen am Tisch sitzen und dachte über die Probleme nach, die das ,Super-Weiche' dieses laufenden Käses stellte . Das Bild, an dem ich gerade malte, stellte eine Landschaft aus der Umgebung von Port Lligat dar, deren Felsen von dem transparenten Licht des sinkenden Tages erhellt schienen. Diese Landschaft sollte als Hintergrund für eine Idee dienen, aber für welche Idee? Ich brauchte ein überraschendes Bild und fand es nicht. Ich schaltete das Licht aus und wollte hinausgehen, als ich die Lösung buchstäblich ,sah': zwei weiche Uhren, von denen die eine kläglich auf dem Ast des Olivenbaums hängen würde. Trotz meiner Migräne bereitete ich mir die Palette vor und machte mich ans Werk."

Dali und De Chirico scheinen ihre Schmerzattacken wie eine bewusstseinserweiternde Droge empfunden zu haben.

Podoll: "Die Migräne hat Erfahrungen geliefert, die ungewöhnlich waren, die über die alltäglichen Erfahrungen hinausgingen und die von ihm im Sinne einer künstlerischen Inspirationsquelle transformiert worden sind."

Jede Krankheit löst spezielle Erlebnismuster aus. Zu einer Migräne gehören nicht nur die Kopfschmerzen, die mit einer akuten Attacke verbunden sind. Weniger bekannt sind die sogenannten Aurasymptome:

Podoll: "Darunter versteht man neurologische Symptome, die vor dem Kopfschmerz auftreten können, die während dem Kopfschmerz auftreten, aber auch völlig unabhängig auftreten können. Das sind im typischen Falle optische Phänomene, Zickzackfiguren, blinde Flecken, das können aber auch vielfältige andere Symptome sein, Gefühlsstörungen bis hin zu komplexen neurophysiologischen Symptomen."

De Chirico: "Faszinierende Bänder, kalte, gierig züngelnde Flammen, beängstigende Blasen, Linien, ... die er seit langem der Erinnerung entschwunden glaubte, sanfte Wellen, hartnäckig, gleichförmig, stiegen, stiegen unaufhörlich zur Zimmerdecke. All dies verflüchtigte sich spiralförmig in einer gleichmäßigen Zickzacklinie oder auch langsam geradlinig oder gar vollkommen senkrecht wie die Spieße einer disziplinierten Truppe."

Podoll: "Wenn sie eine Migräneaura erleben, dann sind sie auf für eine halbe Stunde aus dem Normalbewusstsein herausgerissen. Sie sehen Visionen, sie sehen Zacken, sie haben unter Umständen emotionelle Veränderungen, sie können entrückt sein. Das Ganze kann bis zu ekstatischen Zuständen führen ..."

Aura?! Für den Auraspezialisten, den Kulturtheoretiker und Philosophen Walter Benjamin handelt es sich dabei um ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit.

Benjamin: "Einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen."

Podoll: "Der Begriff Aura ist sehr vieldeutig und er bedeutet in der Medizin etwas anderes als in den Geisteswissenschaften oder in anderen Kontexten. In der Medizin versteht man unter Aura ein neurologisches Symptom, was einer Kopfschmerzattacke vorausgeht, oder was einem epileptischen Krampfanfall vorausgeht. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man Aura als etwas, was eine gewisse Atmosphäre ausdrückt, was etwas Übernatürliches ausdrückt. Das ist nicht der medizinische Sinn."

Es gibt allerdings Übergänge der beiden Bereiche bei den Patienten in der Migräneaura. Da treten Phänomene auf, die tatsächlich den Charakter des Auratischen haben.

Podoll: "Um ein Beispiel zu nennen. Es gibt eine visuelle Aura, die sich darin äußert, dass um Gegenstände herum eine zusätzliche Umrandung gesehen wird. Wenn sie sich vorstellen, dass das Ganze um einen Kopf eines Menschen gesehen wird, dann sieht das Ganz wie ein Heiligenschein aus, und da sind wir schon ganz nahe im Bereich von Erfahrungen, wie sie von Menschen bei dem Begriff Aura im nichtmedizinischen Sinne benutzt werden."

Aura-Migräne-Phänomene sind jahrtausende alt. Doch erst während des 1. Weltkriegs begann ein englischer Wissenschaftler sie genauer zu erforschen.

Podoll: "Das erste Beispiel ist die Untersuchung von dem britischen Forscher Charles Singer. Er war selbst Migräniker und er führte eine Studie durch über Hildegard von Bingen. Und in den farbigen Miniaturen erkannte er Muster wieder, die er aus seinen eigenen Migräneattacken her kannte. Er stellte darauf die Hypothese auf, dass die Visionen der Hildegard von Bingen zumindest als ein Element inspiriert sind durch Migräneauraerfahrung. Das ist der früheste Beleg, dass Migräneauraerfahrungen als spirituelle, im weitesten Sinne auch künstlerische Quelle benutzt werden können."

Spätere Untersuchungen wurden dann in den 70ger Jahren gemacht. 1978 erschien eine Publikation wieder von britischen Forschern, die erstmals nachwiesen, dass bei De Chirico die Diagnose einer Migräne besteht, und die stichhaltige Beweise vorlegten, dass ihn zu einigen seiner Bilder Migräneauraerfahrungen inspiriert hatten. Ausgangspunkt war Podoll:

"… dass Migränepatienten häufig Bilder nutzen, als ein Medium, um ihre Erfahrungen beispielsweise Ärzten gegenüber zu verdeutlichen, oder ihren Angehörigen gegenüber zu verdeutlichen. Das ist systematisch in einer Reihe von Kunstwettbewerben genutzt worden, die in den 80ziger Jahren in England durchgeführt worden sind. Da ist eine Sammlung von 600 Bildern entstanden von zeitgenössischen Migränepatienten, die beispielsweise optische Phänomene, die Schmerzen, die sozialen Konsequenzen der Erkrankten in Bildern dargestellt haben. Einige Teilnehmer an den Migränewettbewerben waren auch professionelle Künstler."

Wie die Künstler nutzen viele Migränepatienten Malen und Zeichnen als Mittel der Kommunikation, weil die visuellen Erscheinungen und Störungen sich nur schwer in Worte fassen lassen.

Podoll: "Worte reichen nicht aus, um die Erfahrung einem anderen deutlich zu machen. Deshalb nutzen die Patienten die Möglichkeit der Zeichnung, eines Gemäldes, praktisch auch zur Darstellung ihrer Erfahrung, um das zu verdeutlichen einem Arzt gegenüber, um überhaupt kommunizieren zu können."

Für die Patienten hat das bildnerische Gestalten auch einen therapeutischen Wert.

Podoll: "Während sie in der Migräneaura praktisch passiv das Opfer der traumatischen Erfahrung sind, sie erleben, dieses Phänomen können sie nicht kontrollieren, ist es in der Situation des Zeichnens, des Malens umgekehrt. Da haben sie die Kontrolle über die Situation, sie können mit Buntstift, mit Farben ein Bild beschreiben und die Migräneauraerfahrung zur Darstellung bringen."

Die Migräne kann im positivsten Fall die künstlerische Produktivität fördern. Doch öfter führen Erkrankungen zu Beeinträchtigungen. So hat gerade der Mediziner Michael Marmor von der Stanford University in Kalifornien eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass die späten zu äußerster Abstraktion neigenden Zeichnungen und Bilder der großen französischen Impressionisten Edgar Degas und Claude Monet auf altersbedingte Augenleiden zurückzuführen sind. Demnach prägten die Erkrankungen der beiden Künstler – grauer Star und eine Netzhauterkrankung – ihr Spätwerk und erschwerten ihnen etwa das Malen von Details. Sind die großen Alterswerke bewusst gewollt oder krankheitsbedingt? Über diesen Fragenkomplex wird in den letzten Jahren intensiv geforscht:
Konkret wären da die jüngsten neuropathologischen Untersuchungen von Olaf Blanke zu nennen. Er hat sich mit den Folgen des Schlaganfalls bei dem Maler Lovis Corinth beschäftigt.

Bormuth: "… und bestimmte Anfälle neurobiologisch auf einen Hirninfarkt untersucht, und gefragt, inwieweit es dort Korrelationen gibt zwischen den Ausfallerscheinungen neurologischer Art und dem, wie sich sein Bildmaterial, die Bildgestaltung nach diesem Hirninfarkt verändert hat."

Literatur:

1.) Kunst und Krankheit. Studien zur Pathographie. Hg. v. Matthias Bormuth, Klaus Podoll und Carsten Spitzer. Wallstein Verlag 2007 219 Seiten 24,- Euro

2.) Heinz Schott und Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren – Irrwege – Behandlungsformen H. C. Beck Verlag 2006 688 Seiten. Leinen. 39.90 Euro