Wie man das alte Jahr vernichten kann

von Laf Überland |
Sich die Kante geben, Blei gießen oder am Neujahrstag frische Wäsche anziehen - der Volksglaube kennt viele Rituale, das neue Jahr zu beginnen. Danach muss das alte vernichtet werden, bevor ein neues beginnen kann.
Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag. Dann dröhnt das Erz und spricht: "Das Jahr kennt seinen letzten Tag, und du - kennst deinen nicht!" (Erich Kästner)

An jedem Neujahr fängt die Zeit von ganz vorn wieder an, gewinnt ihre ursprüngliche Heiligkeit zurück. Dafür muss sie allerdings rein sein, jungfräulich, unbeschmutzt. Das alte Jahr muss vernichtet werden: Denn nichts kann an einer Stelle ganz neu und rein entstehen, wenn noch das Alte seinen Platz einnimmt. Erase und Reset - wie man heute sagt, aber immer noch mit viel Geballer und Angstmachen!

Jeder Wechsel erschüttert die Sicherheit im beruhigenden Trott des Menschseins. Früher kam die Unsicherheit zwischen den Jahren durch die dunkle Zeit - die Rauhnächte, eigentlich Rauchnächte, in denen man das Böse mittels Weihwasser und Räucherwerk vertrieb. Heute grinst die Unsicherheit durch die Zeit, die man plötzlich findet, sich anzugucken, womit man so sein Leben verplempert ...

Damit alles besser wird, kann man an Silvester nicht nur das alte Jahr überdenken und sich mit guten Vorsätzen fürs nächste Jahr Mut zusprechen: Man kann auch gleich mit Bleigießen die Zukunft beschwören. Im Ötztal beispielsweise mit Blei, das man von alten Friedhofskreuzen gekratzt hatte...

Die leicht paranoide Überzeugung, wie es am ersten Tag des Jahres ist, so wird das ganze Jahr, führte zu einem ganzen rituellen Werkzeugkasten: So zieht man zum Beispiel am Neujahrstag frische Wäsche, möglichst auch neue Kleider an, und man geht frisch gewaschen ins neue Jahr. (Das stammt von einem alten Reinigungszauber ab, denn Wasser stellte alchemistisch betrachtet eine große reinigende Macht und Schutz vor bösen Mächten dar.)

Und auch der beliebte Brauch, sich Silvester die Kante zu geben und morgens mühsam alles neu zu sortieren, entspricht durchaus der Entdeckung des Volkskundlers Arnold van Gennep, der 1909 bereits in der Neujahrsnacht die rituelle Trennung von der abgelaufenen Zeit erkannte: die Reinigung, die Verwandlung mittels Masken, die Regeneration im Chaos und die neue Angliederung an die zeitliche Ordnung.

Das Wesen der Dinge ist zwar fließend: Der Mensch aber braucht Ordnung, Anhaltspunkte. Also baut er Leuchttürme in die Zeit, an denen er sich orientiert. Natürlich weiß der aufgeklärte Mensch, dass all dieser Silvesterschnickschnack Humbug ist und häufig genug mit dem Aufklaren des verkaterten Kopfes zu massiven neuen Problemen führt. Aber es ist ein gefühlsmäßiger Rest vom alten angsterfüllten Glauben da - in all der Unsicherheit: ein Wunsch, sich irgendwie der guten Zukunft zu versichern.

Selbstaffirmation nennt die Psychologie sowas: sich selbst, gewissermaßen, mit einem Zauberspruch belegen.... Selbstbehexung und Singen im dunklen Keller machen deshalb die Silvesterrituale aus, kollektive Hysterie - oder kurz: kollektive Spiritualität biederer deutscher Normalbundesbürger...

Der Mensch braucht seine Riten, und seit wir Menschenopfer und Keulenkämpfe weitgehend abgeschafft haben, suchen wir sie in smarteren Zusammenhängen: beim Silvesternachts-Traumdeuten, bei Silvesterwünschen und Heiratsorakeln - und in ihren modernen Ausläufern, den "Brigitte"-"Freundin"-"Petra"-"Cosmopolitan"-Horoskopen.

Doch auch wenn sie mit diesem Aberglauben nichts zu tun haben und wissen: Dies ist ein Silvester, wie jedes andere: Denken Sie daran: Keine Wäsche auf der Leine lassen. Gell..?!