Wie man die Hölle überlebt
Es ist eine schlimme Geschichte mit einem guten Ende und einem bösen Nachspiel, die Geschichte eines Mannes, der im Alter von 21 Jahren im Sommer 1945 in sowjetische Gefängnis- und Lagerhaft gerät, ohne Urteil, ohne Verfahren. Millionen sind in den Lagern zugrunde gegangen. Der Amerikaner John Noble ist einer der wenigen, die wieder herausgekommen sind. Lange bevor Alexander Solschenizyn die Zustände im Archipel Gulag beschrieb, berichtete John Noble über die sowjetischen Lager.
Im Januar 1955 sitzt John Noble als hagerer Mann in West-Berlin in einer Pressekonferenz und soll Journalisten aus aller Welt berichten, was er hinter sich hat. Aber er sagt nicht viel, er ist noch voller Angst vor jedem falschen Wort.
"Als ich inhaftiert war, habe ich viele Folterungen gesehen. Alle Arten von Folter, wie Leute isoliert wurden, Spezialzellen, alles was man sich vorstellen und nicht vorstellen kann."
Reporter: "Mr. Noble, was war das Schlimmste, das Ihnen in den neuneinhalb Jahren passiert ist?"
Noble: "Das Schlimmste ist, den Sowjets in die Hände zu fallen. Denn wer einmal da ist, hat kaum eine Chance, ihnen zu entkommen."
Am 7. und 8. Mai 1945 besetzten Einheiten der Roten Armee Dresden, wo die Familie von John Noble lebte. Die Nobles waren amerikanische Staatsbürger. Auf dem Grundstück ihrer Villa hissten sie die amerikanische Flagge. An den Tagen der Eroberung war das ein wirksamer Schutz vor marodierenden Soldaten. Johns Vater Charles Noble war Inhaber einer Firma, die Fotoapparate herstellte. Die Firma hatte den Krieg heil überstanden, konnte weiter produzieren und bekam auch gleich einen Großauftrag von der sowjetischen Besatzungsmacht.
"Als ich dann mit meinem Vater nach Jena fuhr, um Objektive für die Kameras sicherzustellen, fuhren wir weiter nach Kassel, wo das amerikanische Hauptquartier war, und dort wurde uns gesagt, ihr braucht keine Sorge zu haben, denn für die Sowjets ist die Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze festgesetzt. Sodass das Dresdner Gebiet wieder frei wird."
Die amerikanische Regierung ging im Sommer 1945 noch davon aus, dass Deutschland einheitlich regiert würde, von allen Siegermächten gemeinsam. Deshalb der Hinweis der US-Behörden, der sowjetische Machtbereich beginne erst hinter der Oder-Neiße-Linie.
Die Eltern von John Noble waren 1921 aus Deutschland in die USA ausgewandert. Johns Vater Charles hatte in Detroit ein Fotolabor übernommen und daraus eine der größten Foto- und Kopieranstalten der USA gemacht. Wegen der Dämpfe bekam er gesundheitliche Probleme, wollte zurück nach Deutschland und erwarb im Tausch gegen sein US-Unternehmen Kamerawerkstätten in Dresden. 1938 bezog die Familie in Dresden die noble Villa San Remo, behielt aber die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Entwicklung der Spiegelreflex-Kleinbildkamera "Praktiflex" beflügelte das Geschäft, allerdings stand die Familie wegen ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft während des Zweiten Weltkrieges unter polizeilicher Aufsicht. Im Mai 1945 war der Krieg überstanden, John war 21 Jahre alt und arbeitete im Unternehmen seines Vaters. Am Abend des 4. Juli 1945 kehrten sie von ihrer Reise nach Kassel zurück.
"Wir hielten an unserem Tor, nahmen unser Gepäck und klingelten wie gewöhnlich", schreibt John Noble in seinem autobiographischen Buch.
"(Mein Bruder) Georg kam uns eilig auf der Treppe entgegen. Ein Herr in Zivil folgte ihm. Mein Vater fragte besorgt: 'Georg, wer ist das?' Georgs Stimme war angespannt. 'Etwas ist nicht in Ordnung! .. Sie sind hier, um euch zu verhaften!'"
Die Nobles hatten in den zurückliegenden Wochen frei gelassene amerikanische Kriegsgefangene beherbergt und amerikanische Offiziere verkehrten in ihrem Haus. Für ihre Versorgung erhielten sie Proviant - ein Anlass, aber kein Grund für die Verhaftung von Charles und John Noble. Der Grund wurde ihnen nie mitgeteilt. Vermutlich ging es darum, den Weg für die Enteignung der Kamerawerkstätten frei zu machen.
"Am nächsten Morgen, es war der 5. Juli 1945, um 7.00 Uhr, wurden Vater und ich zum sowjetischen NKWD-Hauptquartier gebracht."
"Mir hat man gesagt, ich bin nur Zeuge für meinen Vater. Und meinen Vater hat man gefragt, warum sind Sie nach Deutschland gekommen, wer hat Ihnen das Recht gegeben, deutsche Arbeiter auszubeuten? Denn ein Betriebsbesitzer ist ein Ausbeuter in denen ihren Augen. Dann nach etwa 14 Tagen gingen wir ins Münchner-Platz-Gefängnis. …Und da war es auf einmal eine ganz andere Situation. Schon als die Türen hinter mir ins Schloss fielen. Ein Gefühl geht einem da durch den ganzen Körper. Was kaum zu beschreiben ist. … Und ich war in der Zelle, die so groß war, dass ich 3 Schritte in einer Richtung, 2 Schritte in eine andere Richtung ging, ich war in der Zelle für 7 Monate, ohne einmal einen Fuß aus der Zelle raus zu treten. Ich war alleine, konnte mit niemandem sprechen, man hörte das Schreien von denen, die gefoltert wurden, es wurde noch schlimmer dann, als die Hungersperiode stattfand."
John Noble, 21 Jahre jung. Nach dem überstandenen Krieg sollte das Leben beginnen. Stattdessen - inhaftiert ohne ersichtlichen Grund. Ein Überlebenskampf begann, dessen Dimensionen er nicht ahnen konnte.
"In der Nacht, als es einigermaßen ruhig war, da hörte ich so 'ne Stimme von einer anderen Zelle, wo jemand ausrief auf den Gang: Wenn es einen Gott im Himmel gäbe, dann würde er so was nicht zulassen. Da hab ich mir gesagt: Gibt es denn einen Gott im Himmel? Ich wusste es nicht, und da hab ich mir gesagt, alles was mir lieb und wert war, vorher, der amerikanische Pass, die Firma, die Villa, in der wir gelebt haben, die Freiheiten, die ich genossen habe, alles war weg! Ich war völlig ohne alles, ohne Halt. Ja, alles war weg. Und da hab ich mich gefragt: Wo kann ich denn Halt kriegen? Wo kann ich denn Hilfe kriegen?"
Johns Vater war früher Missionar der Sieben-Tags-Adventisten gewesen, war dann aus der Kirche ausgetreten. Religion hatte für John Noble in seinem bisherigen Leben keine Rolle gespielt.
"Ich hab gebetet, nächsten Tag kam nichts. Ernsthaft gebetet. Dritten Tag - kam nichts. Ich war so enttäuscht. Hab mir gesagt: es hat keinen Sinn! Wenn's einen Gott im Himmel gibt, hat er die Tür vor meinen Augen zugeschlagen. Dann fing eine neue Hungersperiode an. Da war es für die meisten der Häftlinge zu viel. Wenn man einmal aufgibt, ist es vorbei. Stirbt man. Nicht unbedingt, weil man ausgehungert ist, aber weil man mutlos ist. Seelisch bricht man zusammen. Am Abend des sechsten Tages war ich so schwach, dass ich meine Füße nicht mehr heben konnte. Ich konnte nicht mehr sprechen. Dann, als ich mich hingelegt habe auf meine dünne Matratze, da hab ich gebetet, hab gesagt, Herr! Schließ meine Augen und lass sie zu bleiben. Aber wenn es noch ein Leben für mich geben sollte, dann ist es nicht mehr mein Leben, meins ist zu Ende. Es ist Dein Leben. Und da hat sich alles geändert. Und als ich am nächsten Morgen aufwachte und wieder laufen konnte und wieder sprechen konnte, da hab ich mir gesagt, wenn der Herrgott das machen kann, dann können die Sowjets überhaupt nichts mit mir machen. Und das hat mir wirklich die Kraft gegeben. Obwohl ich nicht wusste, wie lange das angehen musste, aber hab ich mir gesagt, ich habe etwas, was Ihr nicht habt."
Auch Johns Vater Charles überlebte in der gegenüber liegenden Zelle die Hungerperiode. Ein ähnliches religiöses Erlebnis hatte er als ehemaliger Missionar, der sich von der Kirche abgewandt hatte, allerdings nicht.
"Weil er sich Vorwürfe gemacht hat. Dass er ausgetreten ist. .. Für mich war es eine neue Erfahrung. Genauso, wir hatten Priester und religiöse Leute im Gefängnis, und die meisten, die religiös waren, waren enttäuscht. Dass Gott sie verlassen hat."
John Noble übernahm Arbeiten im Gefängnis. Zunächst als Reiniger, der die Gänge sauber machte. Später verwaltete er die Häftlingskartei.
"Ich hatte die Karten von 21.000 Häftlingen in meinen Händen. Und aus den 21.000 Häftlingen sind 15 Personen entlassen worden."
Bis Ende August 1946 blieben John Noble und sein Vater im berüchtigten NKWD-Gefängnis am Münchner Platz in Dresden. Dann wurden sie nach Mühlberg an der Elbe verfrachtet, in das so genannte Speziallager Nr. 1. Von 1945 bis 1950 unterhielten die Sowjets zehn Speziallager, zum Teil in ehemaligen KZs - vorgeblich zur Entnazifizierung. Tatsächlich waren unter den mehr als 120.000 Inhaftierten neben NS-Tätern auch viele Gegner des stalinistischen Regimes und wahllos Festgenommene.
"Die meisten der Häftlinge haben sich von Tag zu Tag gefragt: Warum bin ich hier? Warum haben sie mich verhaftet? Und das geht nicht! Die Welt ist so klein geworden. Das Lager ist die Welt. Das Leben ist dort. Und da muss man mit zurechtkommen. Disziplin muss man haben. Wenn jemand gesagt hat: Ich schaff's nicht. Er hat's auch nicht geschafft. Man durfte es nicht zulassen, dass man sich sagt, ich schaff's nicht. …
Ich hab versucht, das alles in der Ferne zu halten. Auch Freiheit in der Ferne zu halten. Viele Leute: hoffentlich werde ich morgen entlassen, hoffentlich werde ich morgen entlassen, von einem Tag zum andern, und das macht die Leute kaputt! Freiheit am Horizont stehen lassen. Nur immer hingeguckt."
Außerordentliche Disziplin und eine robuste körperliche Konstitution halfen ihm entscheidend beim Kampf ums Überleben. Nach zwei Jahren wurden John Noble und sein Vater vom Lager Mühlberg nach Buchenwald transportiert. Im September 1948. Zwischen den Siegermächten war unterdessen der Kalte Krieg ausgebrochen. Die Amerikaner bereiteten die Gründung eines westdeutschen Staates vor. In der sowjetischen Zone führte die SED ein immer strafferes Regime. Nobles Unternehmen war längst enteignet worden, während Vater und Sohn im Lager Buchenwald interniert waren.
"Von den 14.000, die wir im September 1948 waren, hatten wir bis Januar 1950 ungefähr 10.000 beerdigt. Mein Vater und ich gehörten zu den 4.000, die übrig geblieben waren. Im Vergleich zu allem bisherigen schien Buchenwald gespenstig, außer dem Tod geschah nichts. Es sah aus, als warteten die Russen auf das Ende der Letzten."
Im Februar 1950 ging es von Buchenwald in ein NKWD-Gefängnis nach Erfurt, anschließend ins Zuchthaus nach Weimar. Neun Häftlinge dicht gedrängt in einer winzigen Zelle. Wie verhindert man in einer solchen Situation, dass sich die Aggressionen gegeneinander richten?
"Wir hatten eine Erzählzeit festgelegt, um uns ruhig zu halten. Vormittags erzählte einer über seinen Beruf, nachmittags ein anderer über ein Buch, das er gelesen hatte. Der Direktor von Zeiss-Ikon, Dr. Steinmetz, hatte Hunderte von Büchern gelesen und es war ein Genuss, ihm zuzuhören."
Am 8. August 1950 schien John Noble alles überstanden zu haben. Fünf grausame Jahre in Lagern, Gefängnissen, grundlos, schuldlos. Er wurde aus der Zelle geholt und in einen Raum geführt, in dem ein Offizier und eine Dolmetscherin auf ihn warteten.
"Und als ich rein kam, wurde mein Name nicht gefragt. Aber ich sollte mich rumdrehen und die Tür anschauen. Und während ich die Tür anschaute, hat die Dolmetscherin etwas erst in Russisch gelesen. Und hat dann gesagt, ich solle zum Tisch kommen, es unterschreiben. Ich hab gesagt, ich verstehe kein Russisch, ich weiß nicht, was ich hier unterschreiben soll, sie sagt, es ist nur eine Bestätigung, dass ich informiert wurde, dass ich in Moskau verurteilt wurde zu 15 Jahren. Sagte - 15 Jahre?!? Also, ich war sprachlos. Ich hatt gedacht, ich komme frei. Sagte ich, wieso, warum? Sagte sie, wenn ich irgendeine Frage hätte, sollte ich im Lager fragen, wo ich hingebracht werde. Als ich dann später im Lager gefragt habe, warum bin ich denn verurteilt worden, sagten sie, ja, da hätten Sie doch fragen sollen, als Sie verurteilt wurden. Niemals, auch bis heute nicht, niemals eine Erklärung gehabt.
Jedenfalls, wurde dann zu einer großen Zelle gebracht, wo 40 Mann drin waren. Und als ich dort rein gesteckt wurde, kam die Frage: wie viel Jahre? 15 Jahre gegeben! Und die lachten, war vielleicht nicht zum Lachen - wir haben alle 25. Also es ist innerhalb von etwa einer Stunde wurden 1.000 Jahre ausgehändigt. 1.000 Jahre Menschenleben. Und vielleicht der ein oder andere schuldig gewesen. Das weiß ich nicht. Aber der größte Teil völlig unschuldig. .. Kein Verfahren!"
1950 wurden die sowjetischen Speziallager aufgelöst. Johns Vater Charles Noble kam nach Waldheim und wurde 1952 entlassen, als gebrochener Mann. Warum John nicht freikam, sondern zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt wurde, ist ihm erst später klar geworden. Es hatte offenbar mit der Gefangenenkartei im NKWD-Gefängnis am Münchner Platz in Dresden zu tun.
"Als ich in Sibirien war, da wurde es mir klar. Weil ich im Gefängnis zu viel gesehen hatte. Die konnten mich nicht entlassen. Ich hab die Kartei im Gefängnis geführt. Ich habe die Offiziere kennen gelernt. Ich wusste, wie viele Leute dort erschossen wurden im Gefängnis. Wie die Leute gefoltert wurden. Ich wusste buchstäblich alles, was im Gefängnis geschah. Und wenn die mich nach dem Westen entlassen hätten, das wäre nicht gut gegangen für die Russen."
Workuta liegt am Nordrand des Ural. Eine Lagerstadt am Ende der Welt. In einer ansonsten menschenleeren Gegend. Im Herbst 1950 wurde John Noble dorthin verfrachtet. Einen Monat lang dauerte der Transport.
"In einem Stalopinski. Das sind Waggons, die für Häftlingstransporte bestimmt waren. Es waren wie in einem D-Zug ein Gang auf einer Seite, wo die Posten auf- und ablaufen und dann die einzelnen Kabinen, aber die waren regelrechte Zellen, und da wurden wir reingestopft. Auf 3 Etagen. Waren da buchstäblich wie Sardinen in einer Büchse. Da rein gelegt. Und da sollten wir jeden Tag morgens und abends zur Toilette frei gelassen werden, aber es geschah nicht. Jedenfalls nicht regelmäßig. So dass es eine Qual war. Wenn man es wirklich nicht mehr halten konnte, hat man den Schuh ausgezogen, den Schuh gefüllt, sodass wenn man später doch raus gelassen würde, dass man den Schuh auskippte und wieder anzieht, aber auch das hat manchmal nicht gereicht. Die unten drunter lagen, denen ging's natürlich furchtbar. Das kam durch.
Und die Frauen, die da im Waggon waren, in ihren Kabinchen, hörte man schon das Stöhnen von Vergewaltigungen. Es war unheimlich so was. Für mich persönlich das Unverständliche war: Die Waggons wurden in den Vereinigten Staaten gebaut und den Sowjets gegeben. Das waren Pullman-Wagen! Die Blindheit, Naivität nach dem Krieg von amerikanischer Seite ist unglaublich gewesen. .. Blind, blind, blind!"
Am 14. September 1950 erreichte der Transport Workuta in Sibirien. Fast alle Nationalitäten waren dort unter den Häftlingen vertreten. Deutsche, Griechen, Ukrainer und alle Völkergruppen der Sowjetunion, Jugoslawen, Japaner, auch Brasilianer, Afrikaner. Und Amerikaner, die vergeblich darauf warteten, dass sie mit Hilfe ihrer Regierung wieder frei kamen. Eine halbe Million Menschen in zwei Lagern des stalinistischen Gulag, Arbeitslager.
"Man wurde ja mit Rap bezeichnet. Rap meint Sklave. Sklave mach dies, Sklave mach das. So wurde man ja angesprochen dort."
Sklaven. Als sie in Workuta ankamen, wurden sie komplett enthaart. Kohleförderung war die Hauptaufgabe der Häftlinge. Unter mörderischen Bedingungen.
"Es schien, als ob jeder Tag kein Ende hatte. Als ob die Tage 30, 40, 50 Stunden lang waren."
Verhungern, erfrieren oder tödlich verunglücken: das waren die Aussichten für die Häftlinge. Eine realistische Hoffnung, je wieder freigelassen zu werden, gab es nicht.
"Hier waren Häftlinge da, die isoliert werden sollten von der Menschheit sozusagen, wo sie an einem Platz sind, wo Flucht undenkbar ist und trotzdem man ausbeuten kann, denn wie es so oft gesagt wird, 3 - 4 Monate kann jeder durchhalten und dann, wenn er stirbt, dann stirbt er eben."
Unter Tage kratzten die Häftlinge in hunderte Meter langen und 70 Zentimeter hohen Gängen Kohle aus dem Berg - in ständiger Gefahr, verschüttet zu werden. Über Tage fielen die Temperaturen im Winter auf unter 40 Grad minus. Im härtesten Winter auf 72 Grad minus. Die Häftlinge waren dürftig bekleidet und hatten in ihren kühlen Baracken nicht einmal Decken zum Schlafen.
"Man reibt die Backen und reibt die Hände, natürlich im Moment, wenn man die Hände aus den Jacken raus nimmt, wird alles weiß. Es wird alles weiß. Wenn man die Hände nicht reibt, erfrieren die, ja. .. Entweder müssen die Finger abgenommen werden oder sie fallen ab. Ohren und Nase waren viele, wo es einfach abgefallen ist."
1953, als Stalin starb und der berüchtigte Geheimdienstchef Berija verhaftet und hingerichtet wurde, kam es in den sibirischen Lagern zu einem großen Aufstand, an dem mehrere Millionen Menschen beteiligt waren.
"Wir haben geglaubt, dass wir die Sieger werden. Wirklich, wir haben geglaubt. Jetzt bricht's alles zusammen."
So erinnert sich John Noble. Doch der Aufstand wurde mit brutaler Gewalt niedergemacht. Zahllose Aufständische wurden erschossen. John Noble, der sich aktiv an der Streikbewegung beteiligt hatte, überlebte auch das.
"Das Leben in Workuta war für mich eine grausame, kaum zu überlebende Mischung aus schwerster Arbeit und ständigem Hungerschmerz, unbarmherziger Kälte und dem sich täglich wiederholenden Wahnsinn der Sinnlosigkeit","
schreibt John Noble. Und doch gab es in dieser hoffnungslosen Welt Wege, so etwas wie persönliche Würde zu wahren. Genau hinsehen und verstehen lernen, was im Lager vor sich geht, war eine wesentliche Voraussetzung. Noble lernte Russisch - elementare Voraussetzung, um zu verstehen, was im Lager vorging - und er bekam den Auftrag, das Bad zu überwachen. Eine vergleichsweise angenehme Arbeit.
""Da hab ich mich auch gefragt, warum. Warum gebt ihr mir solche Gelegenheit? Das hat er mir dann auch erklärt. Warum? Ich hab Russisch gelernt zu sprechen. Aber ich habe nicht die Fluchworte gebraucht, die die Russen immer gebraucht haben. Ich war der einzige im Lager, hat jeder gesagt, er ist der einzige, der Russisch spricht, aber nicht flucht. Und das hat ihnen Vertrauen gegeben."
Mäßigung. Aufmerksamkeit und gesittetes Benehmen in einer barbarischen Welt - das war Teil des Überlebenskampfes.
Letztlich ging es darum herauszufinden, ob sich eine winzige Gelegenheit auftun könnte, die Freiheit wieder zu erlangen. Einige wenige Häftlinge durften Karten an Verwandte in sowjetisch besetzte Gebiete schreiben. John Noble lernte einen Friseur kennen, der schreiben durfte, aber nie Antwort bekommen hatte und daher nicht mehr schreiben wollte. Deshalb war der Friseur bereit, ihn schreiben zu lassen. Aber - der Zensor durfte das nicht merken. Sie kamen auf einen Trick: Ein Häftling ließ sich einen Federhalter schicken, der Zensor wollte ihn gern haben, er wurde ihm überlassen. Daraufhin wurde der Zensor seines Amtes enthoben.
Der neue Zensor kannte die Schrift der Schreibberechtigten nicht. Diesen Augenblick nutzte John Noble und schrieb eine Karte. Adressiert an Verwandte in Oberaula. Der neue Zensor ahnte, dass das nicht eine Karte des Friseurs war, aber er ließ sie durchgehen. Dieses eine Mal. Im Mai 1954.
Nobles Vater war inzwischen entlassen, seine Familie lebte wieder in den USA. Der Text der Karte war nichtssagend, seinen Namen musste Noble, der ja persönlich keine Schreibberechtigung hatte, verschweigen. Aber ein Wort im ersten Satz dieser rätselhaften Karte gab den Verwandten im hessischen Oberaula den entscheidenden Hinweis:
"13. 5. 54. Lieber Onkel Lohr! Die herzlichsten Grüsse sendet Euch Euer noble Neffe und kann sagen, dass es ihm gut geht…"
Noble Neffe: Noble. Die Verwandten begriffen, wer ihnen diese Karte geschickt hatte und leiteten sie in die USA weiter.
""Der noble Neffe war das Schlüsselwort. Und das kam in Detroit an, Vater war zu Hause, das wusste ich aber nicht, die haben natürlich die Handschrift gleich erkannt und haben das dem State Departement vorgelegt, hier ist Beweis: Er lebt noch! Er ist dort noch irgendwo im Lager."
Die Karte wurde US-Präsident Eisenhower vorgelegt. Der war zu dem Zeitpunkt zwar nicht im Weißen Haus, trotzdem wurde in einer Pressekonferenz angekündigt, dass sich der Präsident persönlich um diesen Fall kümmern werde. Von diesem Augenblick an gab es kein Zurück mehr. Die Sowjets reagierten auf den Druck, den die US-Regierung nun ausübte. John Noble wurde noch im Sommer 1954 zur Vorbereitung der Entlassung nach Moskau gebracht. Gefahr drohte bis zum letzten Augenblick. Vor der Entlassung wurde er von einem General befragt, der den Aufstand blutig niedergeschlagen hatte. Noble leugnete, ihn zu kennen. Ansonsten…
""Ich glaube nicht, dass ich das überlebt hätte. Die hätten gesagt, wir wollten ihn entlassen, aber er ist vor ein Auto gelaufen und ist umgekommen."
Am 8. Januar 1955, neuneinhalb Jahre nach seiner Inhaftierung, wurde John Noble in Berlin den Amerikanern übergeben. Drei Tage später präsentierten die Amerikaner den noch tief verunsicherten wortkargen Mann auf einer einstündigen Pressekonferenz, nach der die Nachricht von seinem Schicksal um die Welt ging. Auf die Frage, wie er die Jahre überstanden habe, sagte er:
"Es waren 2 Dinge. Am stärksten war ein Vertrauen in Gott, und das zweite war der unbedingte Wille, nach Hause zurückzukehren, um zu berichten, was ich in der Sowjetunion erlebt hatte."
Wenige Tage nach dieser Pressekonferenz reiste John Noble zu seinen Eltern in die USA zurück. Nobles Pressekonferenz hatte in Deutschland aber noch ein hässliches Nachspiel. Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Max Seydewitz (SED) konterte Nobles Bericht aus dem Gulag mit der frei erfundenen Behauptung, Familie Noble hätte 1945 von ihrer Villa aus den Luftangriff mit Taschenlampen auf Dresden gelenkt. Bis zum Ende der DDR wurde diese Geschichte kolportiert.
In den USA begann John Noble bald nach seiner Freilassung, über den Gulag zu berichten, dem er entkommen war, in dem aber Millionen andere zugrunde gingen, auch nach Stalins Tod. Auch amerikanische Staatsbürger, die nicht so ein Glück wie John Noble hatten, dass sich ihre Regierung um sie kümmerte.
"An sich hat niemand geglaubt, dass er wieder von Workuta wegkommen würde."
Sagte John Noble damals, 1955, im RIAS. Mitten im Kalten Krieg wurde zwar laut die Propagandatrommel geschlagen. Aber wer hatte - lange vor Alexander Solschenízyns Veröffentlichungen über den Gulag - auch nur eine Vorstellung von den Lagern in Sibirien, die so weit weg waren wie der Mond…
"Als ich raus kam und nach Washington gebracht wurde, hab ich kurz vorm Kongress etwas vorgetragen, wurde dann zu einer Mahlzeit mit Foreign Relations Committee im Repräsentantenhaus geladen. Und da haben wir 'ne Mahlzeit gehabt und da kamen Fragen. Die erste Frage war: Was hältst Du von Marilyn Monroe? Die nächste Frage: Konntest Du während der Lagerzeit Dein Lieblings-Baseball-Team verfolgen? Da hab ich mir gesagt, so naiv, so unheimlich naiv können doch nicht Regierungsleute sein!"
"Als ich inhaftiert war, habe ich viele Folterungen gesehen. Alle Arten von Folter, wie Leute isoliert wurden, Spezialzellen, alles was man sich vorstellen und nicht vorstellen kann."
Reporter: "Mr. Noble, was war das Schlimmste, das Ihnen in den neuneinhalb Jahren passiert ist?"
Noble: "Das Schlimmste ist, den Sowjets in die Hände zu fallen. Denn wer einmal da ist, hat kaum eine Chance, ihnen zu entkommen."
Am 7. und 8. Mai 1945 besetzten Einheiten der Roten Armee Dresden, wo die Familie von John Noble lebte. Die Nobles waren amerikanische Staatsbürger. Auf dem Grundstück ihrer Villa hissten sie die amerikanische Flagge. An den Tagen der Eroberung war das ein wirksamer Schutz vor marodierenden Soldaten. Johns Vater Charles Noble war Inhaber einer Firma, die Fotoapparate herstellte. Die Firma hatte den Krieg heil überstanden, konnte weiter produzieren und bekam auch gleich einen Großauftrag von der sowjetischen Besatzungsmacht.
"Als ich dann mit meinem Vater nach Jena fuhr, um Objektive für die Kameras sicherzustellen, fuhren wir weiter nach Kassel, wo das amerikanische Hauptquartier war, und dort wurde uns gesagt, ihr braucht keine Sorge zu haben, denn für die Sowjets ist die Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze festgesetzt. Sodass das Dresdner Gebiet wieder frei wird."
Die amerikanische Regierung ging im Sommer 1945 noch davon aus, dass Deutschland einheitlich regiert würde, von allen Siegermächten gemeinsam. Deshalb der Hinweis der US-Behörden, der sowjetische Machtbereich beginne erst hinter der Oder-Neiße-Linie.
Die Eltern von John Noble waren 1921 aus Deutschland in die USA ausgewandert. Johns Vater Charles hatte in Detroit ein Fotolabor übernommen und daraus eine der größten Foto- und Kopieranstalten der USA gemacht. Wegen der Dämpfe bekam er gesundheitliche Probleme, wollte zurück nach Deutschland und erwarb im Tausch gegen sein US-Unternehmen Kamerawerkstätten in Dresden. 1938 bezog die Familie in Dresden die noble Villa San Remo, behielt aber die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Entwicklung der Spiegelreflex-Kleinbildkamera "Praktiflex" beflügelte das Geschäft, allerdings stand die Familie wegen ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft während des Zweiten Weltkrieges unter polizeilicher Aufsicht. Im Mai 1945 war der Krieg überstanden, John war 21 Jahre alt und arbeitete im Unternehmen seines Vaters. Am Abend des 4. Juli 1945 kehrten sie von ihrer Reise nach Kassel zurück.
"Wir hielten an unserem Tor, nahmen unser Gepäck und klingelten wie gewöhnlich", schreibt John Noble in seinem autobiographischen Buch.
"(Mein Bruder) Georg kam uns eilig auf der Treppe entgegen. Ein Herr in Zivil folgte ihm. Mein Vater fragte besorgt: 'Georg, wer ist das?' Georgs Stimme war angespannt. 'Etwas ist nicht in Ordnung! .. Sie sind hier, um euch zu verhaften!'"
Die Nobles hatten in den zurückliegenden Wochen frei gelassene amerikanische Kriegsgefangene beherbergt und amerikanische Offiziere verkehrten in ihrem Haus. Für ihre Versorgung erhielten sie Proviant - ein Anlass, aber kein Grund für die Verhaftung von Charles und John Noble. Der Grund wurde ihnen nie mitgeteilt. Vermutlich ging es darum, den Weg für die Enteignung der Kamerawerkstätten frei zu machen.
"Am nächsten Morgen, es war der 5. Juli 1945, um 7.00 Uhr, wurden Vater und ich zum sowjetischen NKWD-Hauptquartier gebracht."
"Mir hat man gesagt, ich bin nur Zeuge für meinen Vater. Und meinen Vater hat man gefragt, warum sind Sie nach Deutschland gekommen, wer hat Ihnen das Recht gegeben, deutsche Arbeiter auszubeuten? Denn ein Betriebsbesitzer ist ein Ausbeuter in denen ihren Augen. Dann nach etwa 14 Tagen gingen wir ins Münchner-Platz-Gefängnis. …Und da war es auf einmal eine ganz andere Situation. Schon als die Türen hinter mir ins Schloss fielen. Ein Gefühl geht einem da durch den ganzen Körper. Was kaum zu beschreiben ist. … Und ich war in der Zelle, die so groß war, dass ich 3 Schritte in einer Richtung, 2 Schritte in eine andere Richtung ging, ich war in der Zelle für 7 Monate, ohne einmal einen Fuß aus der Zelle raus zu treten. Ich war alleine, konnte mit niemandem sprechen, man hörte das Schreien von denen, die gefoltert wurden, es wurde noch schlimmer dann, als die Hungersperiode stattfand."
John Noble, 21 Jahre jung. Nach dem überstandenen Krieg sollte das Leben beginnen. Stattdessen - inhaftiert ohne ersichtlichen Grund. Ein Überlebenskampf begann, dessen Dimensionen er nicht ahnen konnte.
"In der Nacht, als es einigermaßen ruhig war, da hörte ich so 'ne Stimme von einer anderen Zelle, wo jemand ausrief auf den Gang: Wenn es einen Gott im Himmel gäbe, dann würde er so was nicht zulassen. Da hab ich mir gesagt: Gibt es denn einen Gott im Himmel? Ich wusste es nicht, und da hab ich mir gesagt, alles was mir lieb und wert war, vorher, der amerikanische Pass, die Firma, die Villa, in der wir gelebt haben, die Freiheiten, die ich genossen habe, alles war weg! Ich war völlig ohne alles, ohne Halt. Ja, alles war weg. Und da hab ich mich gefragt: Wo kann ich denn Halt kriegen? Wo kann ich denn Hilfe kriegen?"
Johns Vater war früher Missionar der Sieben-Tags-Adventisten gewesen, war dann aus der Kirche ausgetreten. Religion hatte für John Noble in seinem bisherigen Leben keine Rolle gespielt.
"Ich hab gebetet, nächsten Tag kam nichts. Ernsthaft gebetet. Dritten Tag - kam nichts. Ich war so enttäuscht. Hab mir gesagt: es hat keinen Sinn! Wenn's einen Gott im Himmel gibt, hat er die Tür vor meinen Augen zugeschlagen. Dann fing eine neue Hungersperiode an. Da war es für die meisten der Häftlinge zu viel. Wenn man einmal aufgibt, ist es vorbei. Stirbt man. Nicht unbedingt, weil man ausgehungert ist, aber weil man mutlos ist. Seelisch bricht man zusammen. Am Abend des sechsten Tages war ich so schwach, dass ich meine Füße nicht mehr heben konnte. Ich konnte nicht mehr sprechen. Dann, als ich mich hingelegt habe auf meine dünne Matratze, da hab ich gebetet, hab gesagt, Herr! Schließ meine Augen und lass sie zu bleiben. Aber wenn es noch ein Leben für mich geben sollte, dann ist es nicht mehr mein Leben, meins ist zu Ende. Es ist Dein Leben. Und da hat sich alles geändert. Und als ich am nächsten Morgen aufwachte und wieder laufen konnte und wieder sprechen konnte, da hab ich mir gesagt, wenn der Herrgott das machen kann, dann können die Sowjets überhaupt nichts mit mir machen. Und das hat mir wirklich die Kraft gegeben. Obwohl ich nicht wusste, wie lange das angehen musste, aber hab ich mir gesagt, ich habe etwas, was Ihr nicht habt."
Auch Johns Vater Charles überlebte in der gegenüber liegenden Zelle die Hungerperiode. Ein ähnliches religiöses Erlebnis hatte er als ehemaliger Missionar, der sich von der Kirche abgewandt hatte, allerdings nicht.
"Weil er sich Vorwürfe gemacht hat. Dass er ausgetreten ist. .. Für mich war es eine neue Erfahrung. Genauso, wir hatten Priester und religiöse Leute im Gefängnis, und die meisten, die religiös waren, waren enttäuscht. Dass Gott sie verlassen hat."
John Noble übernahm Arbeiten im Gefängnis. Zunächst als Reiniger, der die Gänge sauber machte. Später verwaltete er die Häftlingskartei.
"Ich hatte die Karten von 21.000 Häftlingen in meinen Händen. Und aus den 21.000 Häftlingen sind 15 Personen entlassen worden."
Bis Ende August 1946 blieben John Noble und sein Vater im berüchtigten NKWD-Gefängnis am Münchner Platz in Dresden. Dann wurden sie nach Mühlberg an der Elbe verfrachtet, in das so genannte Speziallager Nr. 1. Von 1945 bis 1950 unterhielten die Sowjets zehn Speziallager, zum Teil in ehemaligen KZs - vorgeblich zur Entnazifizierung. Tatsächlich waren unter den mehr als 120.000 Inhaftierten neben NS-Tätern auch viele Gegner des stalinistischen Regimes und wahllos Festgenommene.
"Die meisten der Häftlinge haben sich von Tag zu Tag gefragt: Warum bin ich hier? Warum haben sie mich verhaftet? Und das geht nicht! Die Welt ist so klein geworden. Das Lager ist die Welt. Das Leben ist dort. Und da muss man mit zurechtkommen. Disziplin muss man haben. Wenn jemand gesagt hat: Ich schaff's nicht. Er hat's auch nicht geschafft. Man durfte es nicht zulassen, dass man sich sagt, ich schaff's nicht. …
Ich hab versucht, das alles in der Ferne zu halten. Auch Freiheit in der Ferne zu halten. Viele Leute: hoffentlich werde ich morgen entlassen, hoffentlich werde ich morgen entlassen, von einem Tag zum andern, und das macht die Leute kaputt! Freiheit am Horizont stehen lassen. Nur immer hingeguckt."
Außerordentliche Disziplin und eine robuste körperliche Konstitution halfen ihm entscheidend beim Kampf ums Überleben. Nach zwei Jahren wurden John Noble und sein Vater vom Lager Mühlberg nach Buchenwald transportiert. Im September 1948. Zwischen den Siegermächten war unterdessen der Kalte Krieg ausgebrochen. Die Amerikaner bereiteten die Gründung eines westdeutschen Staates vor. In der sowjetischen Zone führte die SED ein immer strafferes Regime. Nobles Unternehmen war längst enteignet worden, während Vater und Sohn im Lager Buchenwald interniert waren.
"Von den 14.000, die wir im September 1948 waren, hatten wir bis Januar 1950 ungefähr 10.000 beerdigt. Mein Vater und ich gehörten zu den 4.000, die übrig geblieben waren. Im Vergleich zu allem bisherigen schien Buchenwald gespenstig, außer dem Tod geschah nichts. Es sah aus, als warteten die Russen auf das Ende der Letzten."
Im Februar 1950 ging es von Buchenwald in ein NKWD-Gefängnis nach Erfurt, anschließend ins Zuchthaus nach Weimar. Neun Häftlinge dicht gedrängt in einer winzigen Zelle. Wie verhindert man in einer solchen Situation, dass sich die Aggressionen gegeneinander richten?
"Wir hatten eine Erzählzeit festgelegt, um uns ruhig zu halten. Vormittags erzählte einer über seinen Beruf, nachmittags ein anderer über ein Buch, das er gelesen hatte. Der Direktor von Zeiss-Ikon, Dr. Steinmetz, hatte Hunderte von Büchern gelesen und es war ein Genuss, ihm zuzuhören."
Am 8. August 1950 schien John Noble alles überstanden zu haben. Fünf grausame Jahre in Lagern, Gefängnissen, grundlos, schuldlos. Er wurde aus der Zelle geholt und in einen Raum geführt, in dem ein Offizier und eine Dolmetscherin auf ihn warteten.
"Und als ich rein kam, wurde mein Name nicht gefragt. Aber ich sollte mich rumdrehen und die Tür anschauen. Und während ich die Tür anschaute, hat die Dolmetscherin etwas erst in Russisch gelesen. Und hat dann gesagt, ich solle zum Tisch kommen, es unterschreiben. Ich hab gesagt, ich verstehe kein Russisch, ich weiß nicht, was ich hier unterschreiben soll, sie sagt, es ist nur eine Bestätigung, dass ich informiert wurde, dass ich in Moskau verurteilt wurde zu 15 Jahren. Sagte - 15 Jahre?!? Also, ich war sprachlos. Ich hatt gedacht, ich komme frei. Sagte ich, wieso, warum? Sagte sie, wenn ich irgendeine Frage hätte, sollte ich im Lager fragen, wo ich hingebracht werde. Als ich dann später im Lager gefragt habe, warum bin ich denn verurteilt worden, sagten sie, ja, da hätten Sie doch fragen sollen, als Sie verurteilt wurden. Niemals, auch bis heute nicht, niemals eine Erklärung gehabt.
Jedenfalls, wurde dann zu einer großen Zelle gebracht, wo 40 Mann drin waren. Und als ich dort rein gesteckt wurde, kam die Frage: wie viel Jahre? 15 Jahre gegeben! Und die lachten, war vielleicht nicht zum Lachen - wir haben alle 25. Also es ist innerhalb von etwa einer Stunde wurden 1.000 Jahre ausgehändigt. 1.000 Jahre Menschenleben. Und vielleicht der ein oder andere schuldig gewesen. Das weiß ich nicht. Aber der größte Teil völlig unschuldig. .. Kein Verfahren!"
1950 wurden die sowjetischen Speziallager aufgelöst. Johns Vater Charles Noble kam nach Waldheim und wurde 1952 entlassen, als gebrochener Mann. Warum John nicht freikam, sondern zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt wurde, ist ihm erst später klar geworden. Es hatte offenbar mit der Gefangenenkartei im NKWD-Gefängnis am Münchner Platz in Dresden zu tun.
"Als ich in Sibirien war, da wurde es mir klar. Weil ich im Gefängnis zu viel gesehen hatte. Die konnten mich nicht entlassen. Ich hab die Kartei im Gefängnis geführt. Ich habe die Offiziere kennen gelernt. Ich wusste, wie viele Leute dort erschossen wurden im Gefängnis. Wie die Leute gefoltert wurden. Ich wusste buchstäblich alles, was im Gefängnis geschah. Und wenn die mich nach dem Westen entlassen hätten, das wäre nicht gut gegangen für die Russen."
Workuta liegt am Nordrand des Ural. Eine Lagerstadt am Ende der Welt. In einer ansonsten menschenleeren Gegend. Im Herbst 1950 wurde John Noble dorthin verfrachtet. Einen Monat lang dauerte der Transport.
"In einem Stalopinski. Das sind Waggons, die für Häftlingstransporte bestimmt waren. Es waren wie in einem D-Zug ein Gang auf einer Seite, wo die Posten auf- und ablaufen und dann die einzelnen Kabinen, aber die waren regelrechte Zellen, und da wurden wir reingestopft. Auf 3 Etagen. Waren da buchstäblich wie Sardinen in einer Büchse. Da rein gelegt. Und da sollten wir jeden Tag morgens und abends zur Toilette frei gelassen werden, aber es geschah nicht. Jedenfalls nicht regelmäßig. So dass es eine Qual war. Wenn man es wirklich nicht mehr halten konnte, hat man den Schuh ausgezogen, den Schuh gefüllt, sodass wenn man später doch raus gelassen würde, dass man den Schuh auskippte und wieder anzieht, aber auch das hat manchmal nicht gereicht. Die unten drunter lagen, denen ging's natürlich furchtbar. Das kam durch.
Und die Frauen, die da im Waggon waren, in ihren Kabinchen, hörte man schon das Stöhnen von Vergewaltigungen. Es war unheimlich so was. Für mich persönlich das Unverständliche war: Die Waggons wurden in den Vereinigten Staaten gebaut und den Sowjets gegeben. Das waren Pullman-Wagen! Die Blindheit, Naivität nach dem Krieg von amerikanischer Seite ist unglaublich gewesen. .. Blind, blind, blind!"
Am 14. September 1950 erreichte der Transport Workuta in Sibirien. Fast alle Nationalitäten waren dort unter den Häftlingen vertreten. Deutsche, Griechen, Ukrainer und alle Völkergruppen der Sowjetunion, Jugoslawen, Japaner, auch Brasilianer, Afrikaner. Und Amerikaner, die vergeblich darauf warteten, dass sie mit Hilfe ihrer Regierung wieder frei kamen. Eine halbe Million Menschen in zwei Lagern des stalinistischen Gulag, Arbeitslager.
"Man wurde ja mit Rap bezeichnet. Rap meint Sklave. Sklave mach dies, Sklave mach das. So wurde man ja angesprochen dort."
Sklaven. Als sie in Workuta ankamen, wurden sie komplett enthaart. Kohleförderung war die Hauptaufgabe der Häftlinge. Unter mörderischen Bedingungen.
"Es schien, als ob jeder Tag kein Ende hatte. Als ob die Tage 30, 40, 50 Stunden lang waren."
Verhungern, erfrieren oder tödlich verunglücken: das waren die Aussichten für die Häftlinge. Eine realistische Hoffnung, je wieder freigelassen zu werden, gab es nicht.
"Hier waren Häftlinge da, die isoliert werden sollten von der Menschheit sozusagen, wo sie an einem Platz sind, wo Flucht undenkbar ist und trotzdem man ausbeuten kann, denn wie es so oft gesagt wird, 3 - 4 Monate kann jeder durchhalten und dann, wenn er stirbt, dann stirbt er eben."
Unter Tage kratzten die Häftlinge in hunderte Meter langen und 70 Zentimeter hohen Gängen Kohle aus dem Berg - in ständiger Gefahr, verschüttet zu werden. Über Tage fielen die Temperaturen im Winter auf unter 40 Grad minus. Im härtesten Winter auf 72 Grad minus. Die Häftlinge waren dürftig bekleidet und hatten in ihren kühlen Baracken nicht einmal Decken zum Schlafen.
"Man reibt die Backen und reibt die Hände, natürlich im Moment, wenn man die Hände aus den Jacken raus nimmt, wird alles weiß. Es wird alles weiß. Wenn man die Hände nicht reibt, erfrieren die, ja. .. Entweder müssen die Finger abgenommen werden oder sie fallen ab. Ohren und Nase waren viele, wo es einfach abgefallen ist."
1953, als Stalin starb und der berüchtigte Geheimdienstchef Berija verhaftet und hingerichtet wurde, kam es in den sibirischen Lagern zu einem großen Aufstand, an dem mehrere Millionen Menschen beteiligt waren.
"Wir haben geglaubt, dass wir die Sieger werden. Wirklich, wir haben geglaubt. Jetzt bricht's alles zusammen."
So erinnert sich John Noble. Doch der Aufstand wurde mit brutaler Gewalt niedergemacht. Zahllose Aufständische wurden erschossen. John Noble, der sich aktiv an der Streikbewegung beteiligt hatte, überlebte auch das.
"Das Leben in Workuta war für mich eine grausame, kaum zu überlebende Mischung aus schwerster Arbeit und ständigem Hungerschmerz, unbarmherziger Kälte und dem sich täglich wiederholenden Wahnsinn der Sinnlosigkeit","
schreibt John Noble. Und doch gab es in dieser hoffnungslosen Welt Wege, so etwas wie persönliche Würde zu wahren. Genau hinsehen und verstehen lernen, was im Lager vor sich geht, war eine wesentliche Voraussetzung. Noble lernte Russisch - elementare Voraussetzung, um zu verstehen, was im Lager vorging - und er bekam den Auftrag, das Bad zu überwachen. Eine vergleichsweise angenehme Arbeit.
""Da hab ich mich auch gefragt, warum. Warum gebt ihr mir solche Gelegenheit? Das hat er mir dann auch erklärt. Warum? Ich hab Russisch gelernt zu sprechen. Aber ich habe nicht die Fluchworte gebraucht, die die Russen immer gebraucht haben. Ich war der einzige im Lager, hat jeder gesagt, er ist der einzige, der Russisch spricht, aber nicht flucht. Und das hat ihnen Vertrauen gegeben."
Mäßigung. Aufmerksamkeit und gesittetes Benehmen in einer barbarischen Welt - das war Teil des Überlebenskampfes.
Letztlich ging es darum herauszufinden, ob sich eine winzige Gelegenheit auftun könnte, die Freiheit wieder zu erlangen. Einige wenige Häftlinge durften Karten an Verwandte in sowjetisch besetzte Gebiete schreiben. John Noble lernte einen Friseur kennen, der schreiben durfte, aber nie Antwort bekommen hatte und daher nicht mehr schreiben wollte. Deshalb war der Friseur bereit, ihn schreiben zu lassen. Aber - der Zensor durfte das nicht merken. Sie kamen auf einen Trick: Ein Häftling ließ sich einen Federhalter schicken, der Zensor wollte ihn gern haben, er wurde ihm überlassen. Daraufhin wurde der Zensor seines Amtes enthoben.
Der neue Zensor kannte die Schrift der Schreibberechtigten nicht. Diesen Augenblick nutzte John Noble und schrieb eine Karte. Adressiert an Verwandte in Oberaula. Der neue Zensor ahnte, dass das nicht eine Karte des Friseurs war, aber er ließ sie durchgehen. Dieses eine Mal. Im Mai 1954.
Nobles Vater war inzwischen entlassen, seine Familie lebte wieder in den USA. Der Text der Karte war nichtssagend, seinen Namen musste Noble, der ja persönlich keine Schreibberechtigung hatte, verschweigen. Aber ein Wort im ersten Satz dieser rätselhaften Karte gab den Verwandten im hessischen Oberaula den entscheidenden Hinweis:
"13. 5. 54. Lieber Onkel Lohr! Die herzlichsten Grüsse sendet Euch Euer noble Neffe und kann sagen, dass es ihm gut geht…"
Noble Neffe: Noble. Die Verwandten begriffen, wer ihnen diese Karte geschickt hatte und leiteten sie in die USA weiter.
""Der noble Neffe war das Schlüsselwort. Und das kam in Detroit an, Vater war zu Hause, das wusste ich aber nicht, die haben natürlich die Handschrift gleich erkannt und haben das dem State Departement vorgelegt, hier ist Beweis: Er lebt noch! Er ist dort noch irgendwo im Lager."
Die Karte wurde US-Präsident Eisenhower vorgelegt. Der war zu dem Zeitpunkt zwar nicht im Weißen Haus, trotzdem wurde in einer Pressekonferenz angekündigt, dass sich der Präsident persönlich um diesen Fall kümmern werde. Von diesem Augenblick an gab es kein Zurück mehr. Die Sowjets reagierten auf den Druck, den die US-Regierung nun ausübte. John Noble wurde noch im Sommer 1954 zur Vorbereitung der Entlassung nach Moskau gebracht. Gefahr drohte bis zum letzten Augenblick. Vor der Entlassung wurde er von einem General befragt, der den Aufstand blutig niedergeschlagen hatte. Noble leugnete, ihn zu kennen. Ansonsten…
""Ich glaube nicht, dass ich das überlebt hätte. Die hätten gesagt, wir wollten ihn entlassen, aber er ist vor ein Auto gelaufen und ist umgekommen."
Am 8. Januar 1955, neuneinhalb Jahre nach seiner Inhaftierung, wurde John Noble in Berlin den Amerikanern übergeben. Drei Tage später präsentierten die Amerikaner den noch tief verunsicherten wortkargen Mann auf einer einstündigen Pressekonferenz, nach der die Nachricht von seinem Schicksal um die Welt ging. Auf die Frage, wie er die Jahre überstanden habe, sagte er:
"Es waren 2 Dinge. Am stärksten war ein Vertrauen in Gott, und das zweite war der unbedingte Wille, nach Hause zurückzukehren, um zu berichten, was ich in der Sowjetunion erlebt hatte."
Wenige Tage nach dieser Pressekonferenz reiste John Noble zu seinen Eltern in die USA zurück. Nobles Pressekonferenz hatte in Deutschland aber noch ein hässliches Nachspiel. Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Max Seydewitz (SED) konterte Nobles Bericht aus dem Gulag mit der frei erfundenen Behauptung, Familie Noble hätte 1945 von ihrer Villa aus den Luftangriff mit Taschenlampen auf Dresden gelenkt. Bis zum Ende der DDR wurde diese Geschichte kolportiert.
In den USA begann John Noble bald nach seiner Freilassung, über den Gulag zu berichten, dem er entkommen war, in dem aber Millionen andere zugrunde gingen, auch nach Stalins Tod. Auch amerikanische Staatsbürger, die nicht so ein Glück wie John Noble hatten, dass sich ihre Regierung um sie kümmerte.
"An sich hat niemand geglaubt, dass er wieder von Workuta wegkommen würde."
Sagte John Noble damals, 1955, im RIAS. Mitten im Kalten Krieg wurde zwar laut die Propagandatrommel geschlagen. Aber wer hatte - lange vor Alexander Solschenízyns Veröffentlichungen über den Gulag - auch nur eine Vorstellung von den Lagern in Sibirien, die so weit weg waren wie der Mond…
"Als ich raus kam und nach Washington gebracht wurde, hab ich kurz vorm Kongress etwas vorgetragen, wurde dann zu einer Mahlzeit mit Foreign Relations Committee im Repräsentantenhaus geladen. Und da haben wir 'ne Mahlzeit gehabt und da kamen Fragen. Die erste Frage war: Was hältst Du von Marilyn Monroe? Die nächste Frage: Konntest Du während der Lagerzeit Dein Lieblings-Baseball-Team verfolgen? Da hab ich mir gesagt, so naiv, so unheimlich naiv können doch nicht Regierungsleute sein!"