Innovationen

Wie Material den Sport verändern kann

Jonas Vingegaard bei der Rundfahrt „Tirreno Adriatico“ in Lido di Camaiore
Jonas Vingegaard mit seinem Helm bei der Rundfahrt „Tirreno Adriatico“ in Lido di Camaiore © dpa / picture alliance / Roth
Von Christian von Stülpnagel |
Schnelle Schuhe beim Laufen, das richtige Wachs im Skisport, der passende Schwimmanzug: Durch neues, besseres Material versuchen sich Sportler immer wieder Vorteile zu verschaffen. Ist trotz Ungleichheit Fairness möglich?
Als Jonas Vingegaard Anfang März im Starthäuschen der Rundfahrt „Tirreno Adriatico“ in Lido di Camaiore steht, ist ihm die Aufmerksamkeit der Radsportwelt sicher. Und das nicht nur, weil es die erste Rundfahrt des Jahres für den aktuellen Tour-de-France-Sieger ist. Sondern auch, weil er auf dem Kopf einen ganz besonderen Helm trägt.
Mit einem Radhelm hat das wenig zu tun: Von vorn sieht er aus wie ein unförmiger Pilz, von der Seite wie ein in die Länge gezogener Ritterhelm mit großem Visier aus Glas. Er bedeckt fast den ganzen Kopf, nur Mund und Kinn sind noch zu sehen. Alles für die Aerodynamik.

Belächelt – aber dafür schnell?

Im Internet wird der Helm schnell zur Lachnummer, wird als „Shark-Hem“ oder auch „Lord Helmchen“ verspottet.
Tony Martin, Ex-Profi und vierfacher Weltmeister im Einzelzeitfahren, ist da etwas pragmatischer: „Aus optischen Gründen hätte ich sicher gern verzichtet, aber ja, ich wäre auch diese Helme gefahren. Ich kenne jetzt keine Zahlen, aber wenn Visma Lease a Bike diese Helme fährt, werden sie sicher sehr schnell sein.“
Das Team hat die Helme eigens im Windkanal testen lassen, ein paar Sekunden schneller sollen sie auf zehn Kilometer sein im Radsport kann das über den Sieg entscheiden.

Da zählt am Ende jede Zehntelsekunde, natürlich wird da auch rüber geguckt, vielleicht auch mit einem neidischen Auge. Das ist natürlich auch ein Aspekt im Sport, und ich denke auch ein sehr spannender Aspekt des Sports, weil man neben der sportlichen Leistung noch andere Aspekte hat.

Ex-Radprofi Tony Martin

So bestimmt nicht nur die sportliche Leistung über Sieg und Niederlage, sondern der Wettkampf wird auch zur Materialschlacht. Für Marcel Reinold widerspricht das aber einem Kerngedanken des Sports: der Fairness. „Wenn man Fairness definiert als Chancengleichheit, dann sollte man die materiellen Bedingungen möglichst konstant halten.“

Selbst im Laufsport geht’s nicht ohne Technik

Der Sportwissenschaftler an der Artic University of Norway in Alta beschäftigt sich in seiner Forschung vor allem mit den soziokulturellen Aspekten des Sports. Er sagt: „Wenn sich Menschen ein 100-Meter-Rennen anschauen, dann wollen sie wissen, wer der Schnellste ist. Beim Radrennen ist es genauso. Und sie wollen weniger wissen, vielleicht auch gar nicht wissen, wer das schnellste Material hat.“
Nur: Ohne Topmaterial geht im Leistungssport nichts mehr: Selbst Laufen und Sprinten wurde in den vergangenen Jahren durch neue Technologien wie Carbon in den Schuhsohlen quasi revolutioniert. Allein im vergangenen Jahr wurden fünf Lauf-Weltrekorde in verschiedenen Disziplinen gebrochen, darunter der Marathon bei den Frauen und bei den Männern.
Zu Beginn der Carbonschuh-Ära haben Athleten, die bei anderen Marken unter Vertrag standen, sogar ihre Schuhe übermalt, um die sogenannten Wunderschuhe von Nike tragen zu können und damit einen angeblichen Nachteil auszugleichen. Ist das der Weg zur Fairness?
„Ich glaube, man schafft das eigentlich nur über Regeln“, sagt Sportwissenschaftler Reinold:

Die Leichtathletik hat das ja in gewissen Ansätzen auch schon gemacht. Dass sie bestimmtes Material, das sehr teuer ist oder nicht allen zugänglich ist, systematisch ausschließt.

Sportwissenschaftler Marcel Reinold

So darf die Sohle von Schuhen zum Beispiel maximal 40 Millimeter dick sein.

Eine Lösung: Einheitsmaterial

„Ich find’s schade, dass jeglichem Invest ins Material immer gleich ein Riegel vorgeschoben wird“, sagt hingegen Tony Martin. Denn auch im Radsport wird darüber diskutiert, ob der neue Helm von Visma Lease a Bike verboten werden sollten.
„Es ist schade, wenn der jetzt auf einmal wieder so im Regal verschwindet und nie wieder gesehen wird. Insofern tötet es auch die Motivation der Teams, der Hersteller, sich weiterzuentwickeln. Und deshalb ist es aus meiner Sicht der komplett falsche Ansatz, diese Neuerung wieder zu verbieten.“
Ein Sport, bei dem die Technik offensichtlich im Vordergrund steht, ist die Formel 1. Die schwächeren Teams haben hier kaum Siegchancen – selbst Weltmeister Max Verstappen könnte in einem der schwächeren Autos wohl kaum gewinnen.
In unterklassigen Rennserien wird auf Einheitsmaterial gesetzt – um materielle Unterschiede zumindest etwas auszugleichen. Für Stefan Voll, Leiter des Sportzentrums der Universität Bamberg, ist das ein möglicher Weg:

Sonst gibt es eine ungebremste Weiterentwicklung. Und dann wird’s gefährlich, weil dann der Faktor Athlet immer weiter in den Hintergrund tritt. Weil dann der Sport seine Identität und seine Anschlussfähigkeit verlieren würde.

Stefan Voll, Leiter des Sportzentrums der Universität Bamberg

Einheitliches Material berge aber auch Risiken – etwa für Sponsoren: „Wenn dann die Marke gar nicht mehr so sehr in den Vordergrund rückt, wo dann auch die technischen Möglichkeiten, wo sich ein Sponsor dann präsentieren kann, nicht mehr in dem Maße gegeben sind – dann wird es natürlich auch problematisch.“

Absolute Fairness ist unmöglich

Und auch einige Fans wollten Innovationen sehen, immer neue, spektakulärere Rekorde. Stefan Voll erklärt: „Moralische Überlegungen werden in der Richtung nicht gestellt, was für den Menschen gut oder schlecht ist, oder was gerecht oder ungerecht ist. Zunächst wird der Markt entscheiden, in welche Richtung sich der Markt entwickeln wird.“
Außerdem ist die Frage: Wo beginnt Technik, wo hört sie auf? Bei einer leistungsunterstützenden Ernährung? Bei optimalen Trainingsbedingungen?
„Man bekommt den ökonomischen Faktor nicht gänzlich ausradiert“, sagt deshalb auch Marcel Reinold. Für ihn ist es an den Weltverbänden, einheitliche Regeln zu schaffen, sodass das Material bei der sportlichen Leistung eine möglichst kleine Rolle spielt:
„Ich glaube, dass Sportverbände gut daran tun, diese ökonomischen Ungleichheiten zu berücksichtigen und viel dafür zu tun, sie möglichst gleich zu halten. Im Sinne eines fairen Sports.“

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