St. Pauli! - Und zwar: "Selbst gemacht!"
10:51 Minuten
Hamburg gehört zu den teuersten Städten Deutschlands. Dort haben es alternative Projekte schwer, Räume zu finden. Doch es gibt Wege und es gibt Aktivisten, die mit viel Engagement und ohne das große Geld Neues schaffen.
In der alten Werkhalle in der Lerchenstraße am Rande des Schanzenviertels tüftelt ein halbes Dutzend Männer und Frauen an seinen Projekten. An den Wänden hängen Hämmer, Schraubendreher, alle erdenklichen Sägen, Akkuschrauber, Zollstock und Winkel. Ganz hinten im Raum surrt ein vollautomatischer Laser-Cutter. Den nutzt gerade Francis.
Sie begutachtet eine von rund 400 hauchdünnen, exakt ausgeschnittenen, tellergroßen Scheiben aus dunklem Furnierholz. Die sollen später wie die Blätter einer Pflanze zusammengefügt werden.
"Es wird eine Installation für eine Licht-Video-Installation für eine Bühne. Es soll so ein bisschen organisch wachsen und wird dann da hoch ranken, sich um eine Säule ranken. Und dann sieht das hoffentlich ein bisschen schön aus nachher. Mal gucken."
Mit einem Faible für moderne Technik
Neben Francis sitzt Kevin vor seinem aufgeklappten Laptop, konstruiert ein Modellbauhaus, dessen Wände gleich aus dem Computer an den Laser-Cutter geschickt werden. Die Begeisterung für die Hightech-Maschinen, für den Laser-Cutter, die fünf 3D-Drucker und die vielen anderen Geräte merkt man auch Niels Boeing an. Er ist Journalist, mit einem Faible für moderne Technik und Stadtentwicklungspolitik. Er ist einer der Mitbegründer des FabLabs auf St. Pauli.
"FabLabs sind zunehmend Orte des Reparierens. Wir wollen zum Beispiel auch mit dem Repair-Café in Altona zusammenarbeiten, weil die solche Möglichkeiten bisher gar nicht haben. Was alles weggeschmissen wird, das ist echt krass. Manchmal ist es im Prinzip zu reparieren, aber es gibt halt die Ersatzteile nicht. Und es gibt auch keine Möglichkeit, die mit klassischen Methoden herzustellen. Aber im 3D-Drucker oder im Laser-Cutter würde es gehen!"
Ein Tischkicker mit Torkamera
Niels Boeing führt durch die Werkstatträume. Zeigt einen hier entstandenen Tischkicker, ausgestattet mit Kameras an allen vier Ecken, die das ganze Spiel aufzeichnen und auf Knopfdruck auch Zeitlupenfilme der Torschüsse zeigen können. Ein typisches Nerd-Projekt. Entstanden sind aber auch schon Steuerungsmodule für Solaranlagen, selbst gebaute Handys oder Elektroroller.
Alles in Eigeninitiative der FabLab-Nutzerinnen und -Nutzer, die das Projekt mit einem monatlichen Mitgliedbeitrag erst möglich machen, erzählt Boeing auf dem zerschlissenen Sofa im Aufenthaltsraum.
"Den Verein haben wir 2011 gegründet. Die Idee ist aber tatsächlich 1998 am MIT, am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge in den USA, entstanden. Da hatte ein Professor für einen Kurs die Idee, so eine Werkstatt mit diesen Maschinen zusammenzustellen, weil da einfach sonst nichts in Reichweite von den Leuten war. Und dieser Kurs war halt so erfolgreich, der war auch total überrannt von Künstlern und Designern, dass er das dann weitergeführt hat und dass er daraus diese Idee gemacht hat: 'Mensch, solche Werkstätten könnte man auch außerhalb der Unis machen.'"
Lokal produzieren - ganz neu gedacht
Gerade hat sich die Freie und Hansestadt Hamburg der "Globalen FabCity Initiative" angeschlossen und will das Netzwerk der freien Werkstätten aktiv fördern. Niels Boeing fühlt sich dadurch bestärkt: "Da geht es natürlich auch um Nachhaltigkeit – lokal produzieren ganz neu gedacht. Es ist eine völlig andere Art, Dinge herzustellen und vielleicht auch eine Keimzelle von einer anderen Wirtschaftsform. Das können wir jetzt natürlich alles nicht absehen. Ich würde es mir wünschen."
Denn die bisherige Wirtschaftsweise führe - siehe Klimawandel, Umweltverschmutzung und Ausbeutung - in eine Sackgasse, sagt Niels Boeing. Als Gegenentwurf zum Kommerzgetöse rund um die Reeperbahn versteht sich auch das "Wohl-oder-Übel". Es ist nur ein paar Ecken vom FabLab entfernt. Das "Stadtteilwohnzimmer" mit seinen wöchentlich stattfindenden Abendveranstaltungen gibt es seit anderthalb Jahren: ein altes Ladengeschäft. Drinnen brennt warmes Licht.
Unten im ehemaligen Verkaufsraum sitzen zehn Zuschauer auf Sesseln, bequemen Stühlen, Zigarettenrauch liegt in der Luft. Der Wolfgang-Neuss-Film "Ich lache Tränen, heule Heiterkeit" wird gezeigt. Wer die vier Stufen in den hinteren Raum nimmt, dem serviert Dorothee Wolter, eine der Ideengeberinnen des "Wohl-oder-Übels", kalte Getränke: "Jetzt stehen wir am Tresen in der guten Stube von St. Pauli, im Wohnzimmer."
"Im Hinterzimmer! Ist auch ganz gut so, dass es von draußen nicht zu sehen ist. Denn unten ist der Veranstaltungsort, da laufen dann Filme, sind Lesungen und Vorträge. Würde man das von vorne sehen, dass hier hinten eine Bar ist, dann wäre es schon längst überlaufen. Das ist eben der Charme dabei, dass hier hinten so was Gebärmutterartiges ist. Die gute Stube, wo man genug zu trinken bekommt und auch rauchen darf und immer in gute Gespräche verwickelt wird. Wohl oder übel. So heißt das zum einen. Und zum anderen ist es so, weil es hier so klein ist!"
Kaum Geld, aber dafür Unterstützung
Die Idee, ein Stadtteilwohnzimmer auf St. Pauli zu eröffnen, kam ihr zusammen mit ihrer Freundin Anna an einem Kneipentresen, weit nach Mitternacht, erzählt Dorothee. Anna wusste: Das alte Ladengeschäft wird bald frei und die Miete ist bezahlbar. Feste Getränkepreise sollte es nicht geben, für Bier und Schnaps und Sekt soll jeder etwas spenden. Und von den Spenden wird die Miete gezahlt: "Wir wurden also ganz toll unterstützt von allen, die hier im Beritt sich auch mit engagieren wollen. Und es hat unglaublich viel Spaß gemacht und man musste gar nicht viel Werbung machen, denn die Hütte war ständig voll!"
Geld verdienen Anna und Dorothee mit dem "Wohl-oder-Übel" nicht. Die beiden schaffen einfach einen Ort für die Menschen im Viertel, erklärt Dorothee Wolter. Jeden Mittwoch treffen sich hier die Menschen aus der Nachbarschaft, diskutieren über Neubauprojekte im Viertel, über die große und die kleine Politik, über Gott und die Welt oder den großartigen Humor von Wolfgang Neuss.
Das Problem mit der Polizei
Vom "Wohl-oder-Übel" aus sind es fünf Minuten zu Fuß bis in die Bernhard-Nocht-Straße, direkt am Elbhang. Oben an der breiten Steintreppe, die runter zum Hafenrand führt, stehen am frühen Nachmittag sechs junge Männer. Die meisten stammen aus Westafrika, dealen mit Gras. Wer Blickkontakt sucht, wird angesprochen, wer es lässt, bleibt unbehelligt. 200 Meter entfernt, an einem der üppigen Blumenbeete im sogenannten Park Fiction, wartet Margit Cenki unter zwei stählernen Palmen. Sie hat kein Problem mit den Dealern, sondern mit der Polizei:
"In der letzten Zeit, das heißt schon ein Jahr lang, treibt die Polizei die Leute mit einer anderen Hautfarbe durch die Gegend. Das ist sehr, sehr unangenehm. Und ein Teil davon sind Dealer, das ist so. Ein anderer Teil sind einfach Leute mit anderer Hautfarbe. Und das geht so überhaupt nicht. Weder das eine, noch das andere. Man darf Leute nicht jagen."
Seit die sogenannte Taskforce Betäubungsmittel der Polizei hier täglich unterwegs ist, sagt Margit Cenki, würden die Dealer immer wieder weggejagt und sich im ganzen Viertel verteilen.
Der Stigmatisierung etwas entgegensetzen
Das Park-Fiction-Kollektiv, das sich bisher unentgeltlich um die Grünflächen kümmert, will den Kontrollen und der, so Margit Cenki, Stigmatisierung der schwarzen Community jetzt etwas entgegensetzen.
Das Projekt "Fifty-Fifty Sparclub – Für Gartenarbeit und Migration": "Wir sind so wechselnd zwölf Leute. Da haben wir überlegt, wir könnten ja zusammen, mit diesen Leuten, die hier immer rumgetrieben werden, die Gartenarbeit machen. Die kriegen dann Jacken, richtig offiziell, wo die Palmen drauf sind und die Insel und sind dadurch eine Autorität, hoffen wir."
Und für ihre Arbeit an den Beeten, im Park bekommen die Menschen dann die Spenden geschenkt, die im Musikclub "Golder Pudel" gleich neben dem Park gesammelt werden.
"Für uns ist das ein Testlauf, um Alternativen wirklich zu haben für die Jungs, die nicht dealen wollen. Die müssen ja überleben. Das ist nicht deren Hobby, sondern damit überleben die."
Dass die Dealer an der Hafentreppe dadurch ganz verschwinden könnten, glaubt Margit Cenki nicht. Am Ende gehe es einfach darum, den Männern eine neue Perspektive zu geben, dass sich herumspricht, dass sich auch mit legaler Arbeit Geld verdienen lässt – wenn denn eine Arbeitserlaubnis vorliegt.
Fifty-Fifty - nicht nur beim Gärtnern
Margit Cenki begrüßt Ibrahim Jabbi. Er ist einer von bislang zwei Teilnehmern des "Fifty-Fifty-Sparclubs". Im Frühjahr hat er mit ihr schon Unkraut gejätet. Seit drei Jahren lebt der 32-Jährige aus Gambia in Hamburg. Er selbst dealt zwar nicht. Weiß aber, dass die Grasverkäufer an der Hafentreppe offen für den "Fifty-Fifty-Sparclub" sind:
"Um ehrlich zu sein: Auch ein paar von meinen Freunden dealen da hinten an der Ecke mit Marihuana. Aber ich habe ihnen von diesem 'Fifty-Fifty'-Projekt erzählt. Und die sind froh darüber. Sie sagen: 'Das wäre cool! Das Dealen ist schlecht: Damit verdienen wir kaum etwas und es gibt eine Menge Ärger!' Und wenn es 'Fifty-Fifty' gibt, ist das besser für uns!"
Nach und nach sollen jetzt immer mehr Dealer für die neue Idee gewonnen werden. Und in Zukunft sollen nicht nur Gärtnerjobs angeboten werden, sondern auch solche in der Gastronomie oder in Handwerksbetrieben. Und vielleicht, hofft Margit Cenki, gibt es dann auch eine Unterstützung durch den Bezirk oder den Hamburger Senat.