Wie Menschen mit Macht handeln
Michael Kumpfmüller interessiert die Form und Struktur politischer Inszenierungen. Anhand seiner Romanfigur des fiktiven Innenministers Selen zeigt er die Funktionsweisen von Macht auf. Klug und rasant schildert er, wie Menschen sich im politischen Gefüge verhalten und entwickeln.
Was ist Politik? So ernst sie sich gibt, ist sie doch bloß ein Spiel, in dem es darum geht, möglichst geschickt mit Formeln und Prognosen, Umfragewerten und apokalyptischen Szenarien zu jonglieren. So sieht es jedenfalls der fiktive Innenminister Selden, Hauptfigur in Michael Kumpfmüllers Roman "Nachricht an alle". Politik ist für ihn "eine Art Handel, eine Spekulation zweiter Ordnung, bei der es um den Verlauf der erweiterten Gegenwart ging. Wer ihn bestimmte, war eigentlich egal, dachte er, der Selbstmordattentäter, das Kapital, die Politik oder die Demographie. Sie alle waren mehr oder weniger blind."
"Nachricht an alle" spielt in naher Zukunft in einem nicht näher bestimmten europäischen Land. Vieles erinnert an Deutschland, doch die Aufstände in den Vororten und die gewalttätigen Proteste der Gewerkschaften laufen eher nach französischem Muster ab.
Kumpfmüller hat gründlich recherchiert. Er hat mit Ministern über ihre Erfahrungen gesprochen, hat politische Theorie von Machiavelli bis Luhmann studiert und in den TV-Nachrichten vor allem auf die Inszenierungen geachtet. Nicht die Inhalte der Politik haben ihn interessiert, sondern ihre materielle Form und die Funktionen der Macht: Wie ist es, in diesem Geflecht blind wirkender Kräfte zu agieren? Welche Fähigkeiten muss ein Mensch entwickeln, um sich darin zu behaupten? Wie verändern sich seine Beziehungsfähigkeit, seine Ehe, seine Liebschaften? Es geht also nicht um Ideologien, um rechts oder links, richtig oder falsch, sondern um die Formen und Mechanismen, in denen das alles geschieht.
Die "Arbeitsplatzbeschreibung" weitet sich rasch zum Gesellschafts- und Liebesroman. Schließlich ist Politik nur zu begreifen, wenn sie in einer konkreten Wirklichkeit angesiedelt ist. Und wenn der Politiker, um den es geht, ein möglichst konkretes, lebendiges, liebendes und leidendes Wesen ist. Dabei gelingen Kumpfmüller immer wieder überraschende Einsichten. Sein Roman ist eine große Verteidigung der Politik, die er vom Vorurteil befreien möchte, es handle sich dabei notwendigerweise um eine Tätigkeit, die anderen Gesellschaftsbereichen moralisch unterlegen ist.
Gleich im Prolog verliert Selden seine Tochter bei einem Flugzeugunglück, nachdem sie aus der abstürzenden Maschine eine letzte Mail geschickt hat - als "Nachricht an alle". Dieses Unglück, das er gerne für einen Anschlag gehalten hätte, prägt sein politisches Handeln und macht aus ihm einen Law and Order-Mann nach dem Muster eines Otto Schily. Die Proteste und gewalttätigen Aufstände sind für ihn Herausforderungen, die durchaus belebend wirken.
Nebenbei entwickelt sich eine Liebesgeschichte mit einer jungen, klugen Journalistin, die ihn porträtieren möchte. Das Verhältnis von Politik und Medien erscheint dabei als eine Art Liebesverhältnis, in dem jeder den anderen braucht, um voran zu kommen. Diese Liebe ist das Zentrum des Romans, von dem aus das disparate politische Geschehen zusammengehalten wird.
Ein strukturierendes Element sind auch die "Chöre", in denen Kumpfmüller nach dem Muster antiker Tragödien Volkes Stimme als großen Stammtischmonolog hörbar macht. Widersprüchliches steht da direkt nebeneinander, Meinung gegen Meinung, Vorurteile heben sich auf.
Überhaupt liebt er die Komplexität. Seine Neigung zu rhetorischen Mustern, die das Behauptete gleich wieder zurücknehmen oder einschränken, machen die Lektüre nicht immer einfach. Doch Politik ist nun mal die Kunst des Uneindeutigen, die weniger das klare "Ja" und "Nein" praktiziert, als das "Sowohl als auch". Eine literarische Sprache aber, die diese Bewegung nachvollzieht, riskiert, damit bloß unscharf zu werden.
Neben Medien und Politik spielt noch eine Gruppe Jugendlicher eine wichtige Rolle, auch wenn der Roman hier etwas thesenhaft und konstruiert wirkt. Ihre Protestaktionen entsprechen dem politischen Handeln insofern, dass sie ebenso blind und spielerisch sind und aus Langeweile geschehen.
Grässlicher Höhepunkt ist die öffentliche Selbstverbrennung einer jungen Frau, die ihre Aktion als postmodernes Zeichen für Nichts verstanden wissen will: Kein Protest, keine Verzweiflung. Ihr Tod ist die Kunst der Bedeutungslosigkeit. "Politik ist Sprache", sagt Kumpfmüllers Innenminister. "Der eine redet, der andere zündet Autos an. So kann man sich natürlich nicht verständigen."
Wie aber die verschiedenen Gesellschaftsbereiche aufeinander reagieren, ohne sich zu verstehen - davon handelt dieser kluge, rasante Roman.
Rezensiert von Jörg Magenau
Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
384 Seiten. 19,90 Euro
"Nachricht an alle" spielt in naher Zukunft in einem nicht näher bestimmten europäischen Land. Vieles erinnert an Deutschland, doch die Aufstände in den Vororten und die gewalttätigen Proteste der Gewerkschaften laufen eher nach französischem Muster ab.
Kumpfmüller hat gründlich recherchiert. Er hat mit Ministern über ihre Erfahrungen gesprochen, hat politische Theorie von Machiavelli bis Luhmann studiert und in den TV-Nachrichten vor allem auf die Inszenierungen geachtet. Nicht die Inhalte der Politik haben ihn interessiert, sondern ihre materielle Form und die Funktionen der Macht: Wie ist es, in diesem Geflecht blind wirkender Kräfte zu agieren? Welche Fähigkeiten muss ein Mensch entwickeln, um sich darin zu behaupten? Wie verändern sich seine Beziehungsfähigkeit, seine Ehe, seine Liebschaften? Es geht also nicht um Ideologien, um rechts oder links, richtig oder falsch, sondern um die Formen und Mechanismen, in denen das alles geschieht.
Die "Arbeitsplatzbeschreibung" weitet sich rasch zum Gesellschafts- und Liebesroman. Schließlich ist Politik nur zu begreifen, wenn sie in einer konkreten Wirklichkeit angesiedelt ist. Und wenn der Politiker, um den es geht, ein möglichst konkretes, lebendiges, liebendes und leidendes Wesen ist. Dabei gelingen Kumpfmüller immer wieder überraschende Einsichten. Sein Roman ist eine große Verteidigung der Politik, die er vom Vorurteil befreien möchte, es handle sich dabei notwendigerweise um eine Tätigkeit, die anderen Gesellschaftsbereichen moralisch unterlegen ist.
Gleich im Prolog verliert Selden seine Tochter bei einem Flugzeugunglück, nachdem sie aus der abstürzenden Maschine eine letzte Mail geschickt hat - als "Nachricht an alle". Dieses Unglück, das er gerne für einen Anschlag gehalten hätte, prägt sein politisches Handeln und macht aus ihm einen Law and Order-Mann nach dem Muster eines Otto Schily. Die Proteste und gewalttätigen Aufstände sind für ihn Herausforderungen, die durchaus belebend wirken.
Nebenbei entwickelt sich eine Liebesgeschichte mit einer jungen, klugen Journalistin, die ihn porträtieren möchte. Das Verhältnis von Politik und Medien erscheint dabei als eine Art Liebesverhältnis, in dem jeder den anderen braucht, um voran zu kommen. Diese Liebe ist das Zentrum des Romans, von dem aus das disparate politische Geschehen zusammengehalten wird.
Ein strukturierendes Element sind auch die "Chöre", in denen Kumpfmüller nach dem Muster antiker Tragödien Volkes Stimme als großen Stammtischmonolog hörbar macht. Widersprüchliches steht da direkt nebeneinander, Meinung gegen Meinung, Vorurteile heben sich auf.
Überhaupt liebt er die Komplexität. Seine Neigung zu rhetorischen Mustern, die das Behauptete gleich wieder zurücknehmen oder einschränken, machen die Lektüre nicht immer einfach. Doch Politik ist nun mal die Kunst des Uneindeutigen, die weniger das klare "Ja" und "Nein" praktiziert, als das "Sowohl als auch". Eine literarische Sprache aber, die diese Bewegung nachvollzieht, riskiert, damit bloß unscharf zu werden.
Neben Medien und Politik spielt noch eine Gruppe Jugendlicher eine wichtige Rolle, auch wenn der Roman hier etwas thesenhaft und konstruiert wirkt. Ihre Protestaktionen entsprechen dem politischen Handeln insofern, dass sie ebenso blind und spielerisch sind und aus Langeweile geschehen.
Grässlicher Höhepunkt ist die öffentliche Selbstverbrennung einer jungen Frau, die ihre Aktion als postmodernes Zeichen für Nichts verstanden wissen will: Kein Protest, keine Verzweiflung. Ihr Tod ist die Kunst der Bedeutungslosigkeit. "Politik ist Sprache", sagt Kumpfmüllers Innenminister. "Der eine redet, der andere zündet Autos an. So kann man sich natürlich nicht verständigen."
Wie aber die verschiedenen Gesellschaftsbereiche aufeinander reagieren, ohne sich zu verstehen - davon handelt dieser kluge, rasante Roman.
Rezensiert von Jörg Magenau
Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
384 Seiten. 19,90 Euro