Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Stefanie Lazai
Technik: Jan Fraune
Sprecherin: Ilka Teichmüller
Sprecher: Tilmar Kuhn + Heino Rindler
Schwarzfahren, klauen, rasen
16 Prozent geben zu, schon mal ohne Ticket im ÖPNV gefahren zu sein. Ungünstig, wenn dann kontrolliert wird. © picture alliance / dpa / Daniel Karmann
Wie Regelverstöße unsere Gesellschaft zusammenhalten
29:35 Minuten
Bei Rot über die Ampel gehen, illegal streamen: Gegen ein Gesetz hat man schnell verstoßen. Unsere Gesellschaft bricht trotzdem nicht zusammen. Im Gegenteil, sagen manche Wissenschaftler. Solch kleinen Übertretungen seien dem System sogar förderlich.
Ich bin jetzt hier in Würzburg an der Trambahn-Haltestelle. Ich hatte es etwas eilig vom Zug her. Da kommt auch schon meine Trambahn. Da, der Fahrkartenautomat, aber das schaffe ich jetzt nicht mehr. Aber so ein Artikel über kleine Regelübertretungen ohne Regelübertretung, das wäre ja nichts, und ich bin verabredet. Man lässt Leute nicht gerne warten. Das wäre ja auch wieder ein Regelbruch, wenn ich das machen würde, also rein in die Straßenbahn! Trotz schlechtem Gewissen.
Aber solche Regelverstöße begeht vermutlich so gut wie jeder ab und zu. Vielleicht nicht unbedingt Schwarzfahren, aber mal bei Rot über die Fußgängerampel, ein Essen mit Partner oder Partnerin als Geschäftsessen abgerechnet, sich Netflix mit dem Nachbarn teilen, die Maske unter die Nase ziehen. Wir brechen doch ständig im Kleinen irgendwelche Regeln!
Eine Gesellschaft der Regelbrecher?
16 Prozent geben zu, schon mal ohne Ticket im ÖPNV gefahren zu sein, ein Drittel der Befragten haben schon mal illegal gestreamt, jeder Fünfte konsumiert Cannabis. Es gibt die Kriminalstatistiken. Es sieht so aus, als seien wir eine Gesellschaft von Regelbrechern, ganz entgegen dem Stereotyp vom ordentlichen Deutschen – und das ist ja nur die Spitze des Eisberges. Es sind ja nur aufgedeckte oder zugegebene Verstöße, eben Kontrolldelikte. Da bleibt das Meiste im Dunkeln, und das ist auch ganz gut so. Aber dazu später.
Nun bin ich mit Christine Martin verabredet. Sie ist gerade auf dem Weg zu einer Hauptverhandlung ins Strafjustizzentrum. Martin ist Anwältin. Sie hat sich auf Strafrecht spezialisiert: mal Bußgeldverfahren, aber auch knackige Strafverfahren.
Nun bin ich mit Christine Martin verabredet. Sie ist gerade auf dem Weg zu einer Hauptverhandlung ins Strafjustizzentrum. Martin ist Anwältin. Sie hat sich auf Strafrecht spezialisiert: mal Bußgeldverfahren, aber auch knackige Strafverfahren.
Ordnungswidrigkeiten und Straftaten
Von ihr will ich wissen, wo aus juristischer Perspektive, die Linie gezogen wird, zwischen „nicht so schlimm“ und „ernsthaftem Verstoß“. Das sind aber keine Kategorien, mit denen Juristinnen viel anfangen können. „Ich glaube, vernachlässigen können wir da nichts“, sagt sie deshalb. „Es wird letztlich die Frage sein, wie der Strafrahmen gesteckt ist.“ Ich bohre noch ein bisschen nach, da spricht sie über die Unterscheidung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten. Bei den Ordnungswidrigkeiten gibt es Verwarnungen und Bußgelder, bei den Straftaten entsprechend Geld- oder Freiheitsstrafen. Also weniger schlimm: Ordnungswidrigkeit. Ansonsten: Straftat.
Darüber, wie normale Bürgerinnen und Bürger den jeweiligen Regelverstoß einstufen, sagt das aber nicht unbedingt etwas aus. Darum streiten die Fachleute auch. Mit 20 km/h zu viel am Kindergarten vorbeirasen: Bußgeld. Fallobst von einer Wiese mitnehmen: Straftat, ein Eigentumsdelikt. Theoretisch könnte sogar eine Strafe von bis zu fünf Jahren Gefängnis verhängt werden. Wahrscheinlich würde das Verfahren aber eher wegen Geringfügigkeit eingestellt werden. Wegen der Verhältnismäßigkeit, das ist so ein Korrekturmechanismus im Justizsystem. Klappt aber nicht immer.
Ins Gefängnis für Schwarzfahren
Und das Schwarzfahren? „Schwarzfahren ist, juristisch betrachtet, das Erschleichen von Leistungen. Das ist dann schon im Strafgesetzbuch geregelt und stellt eine Straftat dar“, sagt Anwältin Christine Martin. Doch wer erwischt wird und kooperativ ist, zahlst dann meist nur ein erhöhtes Beförderungsentgelt. Dann ist die Sache erledigt.
Wer nicht zahlt, „muss ich Einspruch einlegen“, so Martin. „Denn es handelt sich ansonsten nach Ablauf der Rechtsmittelfrist um einen rechtskräftigen Bescheid. Daraus kann dann auch die Vollstreckung betrieben werden.“ Gibt es nichts zu vollstrecken oder zahlt der Betroffene beharrlich nicht, könne er dann ersatzweise in Haft gehen. Für Schwarzfahren – oder für welche Geldstrafe auch immer.
Im Juni waren deswegen rund 4000 Menschen in deutschen Gefängnissen, 50.000 Knastneuzugänge jährlich – die größte Gruppe tatsächlich wegen Beförderungserschleichung. Die Botschaft hier ist: Wer wissen will, was ein geringer Regelverstoß ist, der frage lieber keine Juristen. Und wer wissen will, warum es zu Regeln einfach dazugehört, sie zu übertreten: Der wahrscheinlich auch nicht.
Keiner kennt alle Regeln
Stattdessen besuche ich Tobias Eule. Er ist Professor für Rechtssoziologie an der Universität Bern, und leitet die Forschungsgruppe Rechtssoziologie am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Als Rechtssoziologe beschäftigt sich Eule mit den Wechselwirkungen zwischen Gesetzesordnungen und der Gesellschaft. Wie kommen wir zu unseren Regeln, wie gehen wir damit um, was bewirken sie bei uns? Wie kommen wir eigentlich durch einen Alltag, der geregelt wird von unzähligen Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften, die noch dazu historisch gewachsen sind und dadurch mitunter inkohärent und widersprüchlich sind?
Wir würden vermutlich gar nicht alle Regeln kennen, die uns betreffen, sagt Eule, vielleicht gerade einmal zwei Prozent. „Aber wir haben ungefähr eine Vorstellung davon, welche Regeln gelten könnten oder wer uns maßregeln könnte oder was für Erwartungen entstehen. Das heißt, die Frage des Wissens in so einer Alltagssituation hat viel damit zu tun, was wir uns vorstellen, was das Recht eigentlich ist und wofür das Recht eigentlich da ist.“ Rechtsbewusstsein nennt Eule diesen inneren Kompass.
Rechtsbewusstsein ist prägender
Eine Reihe von Studien würden zeigen, dass dieses Bewusstsein sehr viel prägender ist als, was im Gesetz steht. Man muss das Gesetz also nicht kennen, um es zu befolgen: Sozialisation, Moralvorstellungen, Einstellungen und Erfahrungen helfen, in offenen Situationen das Richtige zu tun – oder sich es zu erlauben, genau das sein zu lassen. Das ist ein komplexes System, viele Bereiche, die interagieren. Nichts mit einer großen Stellschraube, über die das Verhalten der Bürger einfach gesteuert werden kann.
In der gesellschaftspolitischen Diskussion dominieren deshalb meist einfachere Modelle, die Regelkonformität und Abweichung erklären und den öffentlichen Umgang damit prägen. Gruppendruck? Angst vor Strafe? Anerkennung der Legitimität der Gesetze?
Der Rechtssoziologe ist skeptisch. Schließlich könne man dies kaum testen. Letztendlich ließe sich nur beobachten: „Wir verhalten uns häufig in trivialen Bereichen eher nicht regelkonform und nicht nichttrivialen Bereichen eher regelkonform. Aber warum wir das genau tun, ist vielleicht auch uns selbst nicht bewusst. Vielleicht ist es auch etwas, wo es reicht, es einfach zu beobachten und als etwas Gutes stehenzulassen. Kleine Regelbrüche führen nicht dazu, dass Gesellschaften zusammenbrechen oder dass die Kriminalität drastisch ansteigt.“
Regelbruch als Bestandteil der Regeln
Vielleicht ist der Regelbruch auch ein funktionaler Bestandteil der Regel, gibt Tobias Eule zu bedenken. Er bezieht sich dabei auf Überlegungen des französischen Gesellschaftswissenschaftlers Émile Durkheim. „Einerseits ist das Strafrecht etwas, was wir als Menschen geschaffen haben“, führt Eule aus. Es stehe also nicht außerhalb der Gesellschaft, vielmehr definiere die Gesellschaft das Strafrecht – und das Strafrecht wiederum die Kriminalität. „Der Regelverstoß ist ein Verstoß gegen Regeln, die wir uns selbst gesetzt haben, und wenn es zum Regelverstoß kommt und der irgendwie geahndet wird, dann erinnert uns das an die Regeln.“ Das Maßregeln sei also etwas, das uns an die Regelhaftigkeit unserer Gesellschaft erinnert.
Aber der Regelbruch demonstriert uns auch, dass wir anders leben und handeln können, als es die Vorschriften vorgeben. Manchmal wird das sogar im großen Stil inszeniert: Bacchanalien am Ballermann, Karneval in Köln – da ist das über die Stränge schlagen Programm.
Grenzen neu ausloten
Und auch das: Formen des Diebstahls, die Eigentumsrechte infrage stellen. Erschleichungen, die Mobilität einfordern. Proteste die Ungerechtigkeiten anprangern. Das Verbrechen von heute ist oft die Moral von Morgen, schreibt Durkheim. Nichts ist alternativlos, deswegen kann in jedem Gesetz auch eine Herausforderung stecken. „Das gehört vielleicht zum Menschsein dazu, dass man seine Grenzen immer neu auslotet, besonders, wenn man jünger ist“, sagt der Rechtssoziologe Tobias Eule.
Das bedeute aber nicht, dass man schwere Formen von Regelverstößen, bei denen Menschen oder Sachen zu Schaden kommen, verstärkt mache. Sondern im Gegenteil: „Vielleicht ist der kleine Kontrollverlust, der kleine Regelverstoß etwas, dass uns unsere Menschlichkeit, die Möglichkeit unseres eigenen Regelverstoßenden Ichs näherführt, aber nichts, das unbedingt eskaliert.“
Vieles geht ohne Polizei
Menschlich, irgendwie transformativ, notwendig. Aber klingt das nicht schon fast zu entspannt? Denn spricht sich herum, dass Verstöße gegen Regeln unvermeidlich sind, sogar nützlich sein können, würde bald jeder ungehemmt Gesetze übertreten, so die Befürchtung. Eine Eskalation, von der Tobias Eule sagt, dass sie bisher nicht eingetreten ist.
Damit es so weit nicht kommt, wird auch eine Menge getan: mehr als 250.000 Polizisten in Deutschland, dazu die kommunalen Überwachungsdienste, Parkwächter, Kontrolleure, die immer ausgefeiltere Computertechnik zur Verbrechensbekämpfung, die Kameras auf Bahnhöfen und Kreuzungen. Aber vielleicht ist das nicht der Grund dafür, dass es so friedlich bleibt. Das meint auf jeden Fall der Hamburger Kriminologe Nils Zurawski. Er arbeitet an der Akademie der Polizei in Hamburg und spricht mit seinen dortigen Schülerinnen und Schülern über Polizei und Überwachung und ihre Rolle als Garanten der öffentlichen Ordnung.
Aus seiner Sicht sei es „eine zivilisatorische Leistung, dass wir nicht immer einen haben müssen, der neben uns steht und droht: Ihr müsst das so machen oder so“. Stattdessen hätten wir all dies „im Kindergarten, in der Schule, auf der Arbeit“ gelernt und bekämen es täglich immer wieder gespiegelt. „Von daher ist die Rolle, die sich Polizei herausnimmt – es gibt ja durchaus die Haltung 'Wir sind die letzte Linie vor der Barbarei' – Quatsch!“
Dass Kameras kaum bis keinen Effekt auf die Sicherheit im öffentlichen Raum haben, ist immer wieder belegt worden. Dass die Kriminalität kontinuierlich sinkt, liegt sicher nicht an der polizeilichen Aufrüstung, sondern daran, dass die Bevölkerung immer älter und gesetzter wird. Meistens geht es ohne.
Alles ahnden – kaum möglich
Zurawski sagt, dass wir erst seit rund 250 Jahren so etwas wie die Polizei haben. Davor habe Zusammenleben ja auch funktioniert. Das Argument, dass die Gesellschaft heute ja so viel komplexer sei als früher, wirkt ziemlich schwach, wenn man sieht, was Archäologen und Anthropologen über die erstaunlichen Gemeinschaften unserer Vorfahren herausgefunden haben. Die Polizei ist es also nicht. Und überhaupt, wo ist sie, wenn man sie braucht?
Zudem fällt es einer Gesellschaft schwer, alles zu ahnden, was Regelübertretungen wären, ist sogar fast unmöglich. Insofern muss eine gewisse Toleranz akzeptiert werden, die situationsgebunden über- oder unterschritten wird. Alles andere würde eine unglaubliche Ressource an Mitteln und Menschen erfordern – und zur Totalüberwachung führen. Gerichte wären mit den zahlreichen Strafverfahren überfordert.
Die Dunkelziffer stützt das System
Nils Zurawski, meint, dass das dem Ordnungssystem auch schaden würde. Weil wir jeweils merken würden, dass sich nur wenige an eine bestimmte Norm halten, und dadurch käme die Norm unter Druck. Es wäre einfach zu deutlich in bestimmten Bereichen, dass ein Gesetz unzureichend, unzeitgemäß oder unsinnig ist. So etwas wie bei Rot an einer Fußgängerampel nachts um halb drei in einer verlassenen Nebenstraße warten. Oder einen Joint rauchen. Besser man beachtet solche Verstöße nicht so. Lässt das im Dunkeln.
Die Dunkelziffer stützt das System. So zumindest würde es der Soziologe Heinrich Poppitz sagen. Laut ihm ist eine Präventionswirkung des Nichtwissens durchaus vorhanden.
Kleine Regelbrüche und ihre Folgen
Der Umgang des Staates mit kleineren Regelbrüchen, lässt sich am Beispiel Verkehr ganz gut zeigen. Olaf Gräf und Florian Heurig haben gerade einen Blitzer in einer 30er-Zone vor eine Schule aufgebaut, im Stadtteil Garitz in Bad Kissingen.
Die Polizisten stehen ziemlich gut sichtbar am Straßenrand, sie zeigen eher Präsenz als Jagdeifer. Soll ich mal was Fieses sagen: Wer hier erwischt wird, sollte eigentlich noch ein extra Verwarngeld zahlen, weil er unaufmerksam war und die Kontrolle nicht gesehen hat.
Florian Heuring hat sein Messgerät so eingestellt, dass es erst ab 39 Km/h anschlägt. Eigentlich darf ja niemand mehr als 30 fahren. Aber die beiden Beamten kämen mit dem Verwarnen der Verstöße bestimmt nicht nach, wenn sie pingeliger wären, und die Ertappten am Steuer wären auch nicht so einsichtig und verständnisvoll.
Der eine wird erwischt, der andere nicht
42 km/h: Olaf Gräf winkt einen schwarzen Kleinwagen auf die Seite. „Sie haben Recht, das ist ihr Job“, sagt der Geblitzte – und gibt sich einsichtig. Als Autofahrer habe er zur Auslegung der Regel aber eine andere Meinung. Schließlich sei kein Kind in der 30er-Zone, kein Gegenverkehr. „Da hätte man doch sagen können – passt schon, fahr weiter, du Pfeife.“
„Zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort!“, sagt er noch und fährt weiter. Eine treffende Beobachtung. Letztes Jahr sind wieder rund 2,5 Millionen Geschwindigkeitsübertretungen festgestellt worden, bei vier Millionen Ordnungswidrigkeiten laut Verkehrszentralregister. Das klingt nach viel. Aber wie hoch ist die Chance, erwischt zu werden, bei 50 Millionen Fahrzeugen, die 700 Milliarden Kilometer pro Jahr in Deutschland zurücklegen.
Eine Frage der Gerechtigkeit: Die einen werden erwischt, die anderen nicht. Klar könnte mehr kontrolliert werden. Aber von polizeilicher Seite aus sei eine lückenlose Verkehrsüberwachung nicht möglich und auch nicht wünschenswert, sagt Florian Heuring. „Die Idealvorstellung ist hier, dass der Bürger mit dem Bewusstsein die Kontrollstelle verlässt, zukünftig hier langsamer zu fahren, um auf die Kinder Rücksicht zu nehmen.“
Sozialmoral und Gesetze
Es ist unwahrscheinlich, bei so alltäglichen Sachen erwischt werde. Die Polizei als Institution hat auch kein wirkliches Interesse, uns alle zu schnappen. Der Verkehr und die Gesellschaft brechen trotzdem nicht zusammen. Stattdessen scheinen wir uns ganz gut selbst organisieren, im Alltag. Es gibt Leute, die sagen, dass der ganze Sicherheits- und Regelapparat dafür gar nicht nötig ist.
Anarchie ist machbar? So in etwa. Schließlich stelle sich überhaupt die Frage, warum man sich an Vorschriften, Gesetze und Verordnungen halten soll, die man sich nicht selbst ausgedacht habt und bei denen man in den seltensten Fällen gefragt wurde, ob man ihnen zustimmt.
Erasmus Mayr leitet den Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er sieht in den Gesetzen und Vorschriften, die unser Zusammenleben bestimmen, eine Konkretisierung von moralischen und ethischen Vorstellungen, die weithin geteilt werden: Konsens, eine Sozialmoral.
Kant und die Vertragstheorie
Aber es gibt Bereiche, bei denen besteht Uneinigkeit. „Wenn ein Polizist von Ihnen verlangt, Sie sollen vom Fahrrad absteigen, dann sollen sie etwas machen, wozu sie sich gar nicht frei entschieden haben und wozu sie sich auch gar nicht frei entscheiden würden“, gibt Mayr ein Beispiel, „und viele Philosophen haben gedacht, da können wir eine Brücke schlagen, indem wir sagen, der Staat beruht auf etwas, dem wir irgendwann mal zugestimmt haben.“
Vertragstheorie: In einem sehr hypothetischen Urzustand entscheiden unabhängige Subjekte, wie sie zusammenleben wollen. Daraus resultiert dann eine Art von imaginärem Gesellschaftsvertrag. Am bekanntesten sind derartige Konstruktionen von Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und John Locke. Im deutschsprachigen Kulturraum wirken vor allem die Gedanken zur Legitimität staatlicher Gewalt und Moral des Königsberger Denkers Immanuel Kant fort: „Handele so, dass du wollen sollst, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz würde.“
Das ist Mayrs Fachgebiet. „Bei Kant gibt es die spannende Idee, dass er sagt, dass das Problem nicht darin besteht, dass wir alle böse seien und einander den Schädel einschlagen würden – so wie sich Hobbes das gedacht hat“, sagt Mayr. Sondern laut Kant sei das Problem, dass wir, bevor es einen Staat gibt, alle selbst entscheiden können, was gut und richtig ist. „Und dann ist es so, dass ich zu einem Ergebnis komme, sagen wir, dass das Mikrofon mir gehört, weil es auf meinem Tisch steht. Sie dagegen denken sich, das ist völlig unrecht, dass ich Ihnen das Mikrofon wegnehme, weil das gehört doch Ihnen.“
Hier klärt und hilft staatliche Gewalt, und weil wir vernünftig sind, meint Kant, müssten, wir das auch so wollen. Es folgt daraus auch, dass wir uns den staatlichen Gesetzen unterwerfen, selbst wenn sie uns nicht passen.
Kleine Regelbrüche – nach Kant unmoralisch
Kant würde den kleinen Regelbruch eher nicht gutheißen, meint Rechtsphilosoph Mayr. Für ihn bestehe unmoralisches Verhalten darin, für sich selbst eine Ausnahme zu mache. „Nehmen wir zum Beispiel den Dieb, das ist so der klassische Fall: Der will eigentlich schon, dass die Eigentumsordnung weiterbesteht, weil er ja auch seine Beute genießen will. Aber er will sich eben nicht an die Regeln für den Eigentumsschutz halten müssen. Das wäre für Kant so ein Fall, in dem sich die subjektive Maxime des Diebes nicht universalisieren ließe.“ Laut Kant einer der Kernpunkte von Unmoralität.
Aber geistlose, ja roboterhafte Gesetzestreue, sollte aus solchen Erwägungen nicht folgen. Auch Kant sieht im individuellen Gewissen die letzte Instanz. Es gibt Grenzen für die Autorität des Staates, betont der Rechtsphilosoph. Zum einen, wenn Menschenrechte massiv verletzt werden. Außerdem gebe es noch einen zweiten interessanten Bereich: die Frage, für welches Themengebiet der Staat zuständig ist. „Ein Fall wären bestimmte Sexualpraktiken, die erwachsene Personen völlig einvernehmlich ausführen. Eigentlich geht das nur die was an, das geht nicht die Gesellschaft als Ganzes etwas an. Da darf man sich schon fragen, wie weit die Gehorsamspflicht bei solchen Regeln geht.“
Moralvorstellungen ändern sich
Gesetze sind immer nur Ausdruck gesellschaftlicher Moralvorstellungen und Machtkonstellationen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Vorstellungen und Konstellationen ändern sich, aber der Wandel der Gesetze hinkt oft hinterher, beobachtet Erasmus Mayr.
Manchmal zeigen Abweichungen auch, dass eine Regel überholt ist. „De facto ist es so, dass die Regeln, die überhaupt nicht mehr sozial verankert sind, nicht lange halten. Wenn jeder die bricht und auch kein schlechtes Gewissen hat und jeder weiß auch, dass der andere es macht, dann halten sich Regeln nicht lange.“