Wie sich das Verständnis von Sexualität wandelt
Der Autor Volkmar Sigusch liefert auf 540 Seiten einen spannenden und differenzierten Überblick über die Geschichte der Sexualwissenschaft. Er stellt die wichtigsten Protagonisten vor, widmet sich den wissenschaftlichen Diskursen und beschreibt die gesellschaftlichen und politischen Einflüsse auf die Sexualforschung.
Für den Sexualakt gibt es viele Wörter, in diesem Buch werden Sie kein einziges dazu oder darüber finden. Dafür bietet die Sexualwissenschaft enorm viele Themen. Denn wenn Sex und Wissenschaft sich paaren, geht es um Gleichberechtigung und Geburtenregelung, Geschlechtskrankheiten und Aufklärung, um Homosexualität und Heirat, um ledige Mütter und uneheliche Kinder, um Fragen des Sexualstrafrechts und freie Liebe, um Prostitution und Perversion. Sexualität ist mehr als Fortpflanzung. Ihre wissenschaftliche Erforschung beinhaltet immer auch die Frage nach den sozialen und kulturellen Umständen.
Volkmar Sigusch, Pionier der deutschen Sexualmedizin, liefert auf 540 Seiten einen sehr spannenden und differenzierten Überblick über die Geschichte der Sexualität. Der Autor ist seit mehr als 40 Jahren engagierter Sexualwissenschaftler und ist Gründer des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaften, das 2006 kurz nach Siguschs Emeritierung und gegen dessen ausdrücklichen Protest geschlossen wurde.
In seinem umfangreichen 720-seitigen Buch stellt er die wichtigsten Protagonisten der Sexualwissenschaft vor, widmet sich den wissenschaftlichen Diskursen auf diesem Gebiet und beschreibt die gesellschaftlichen und politischen Einflüsse auf die Sexualforschung. Nach einem allgemeinen historischen Überblick, werden kurz alle relevanten Forscher präsentiert, bevor es danach in die ausführliche Beschreibung der unterschiedlichen Epochen geht. Ein einfacher, aber didaktisch sehr kluger Aufbau, der Laien einen schnellen Einstieg bietet.
Die ersten Gelehrten der Sexualwissenschaft sind nach Siguschs Auffassung Ende des 19. Jahrhunderts der Italiener Paolo Mantegazza und der Deutsche Karl Heinrich Ulrichs. Sie veröffentlichen unanhängig voneinander mehrere Texte und Bücher über Liebe, Lust und Geschlechterfragen.
Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt die Sexualforschung dann ihre erste und zugleich größte Blüte als wissenschaftliche Disziplin.
In Berlin wird 1919 das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld gegründet. Zahlreiche Gesellschaften zur Aufklärung, wie zum Beispiel der "Bund für Mutterschutz" oder das "Wissenschaftlich-humanitäre Komitee", eine Selbsthilfeorganisation Homosexueller, entstehen. Außerdem erscheinen verschiedene Zeitschriften und Periodika, die sich mit Themen der Intersexualität, der Lustempfindung der Frau oder Fragen der Verhütung beschäftigen.
Doch ab 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschwinden in Deutschland alle liberalen Ansätze und viele Sexualforscher müssen emigrieren. Die Sexualwissenschaft wird hierzulande nur noch auf eugenische Aspekte reduziert und als pseudowissenschaftliches Argument für den Rassenwahn der Nationalsozialisten missbraucht.
Ein Schlag, von dem sich die deutsche Sexualwissenschaft nie vollkommen erholt hat. Fortan findet ernsthafte Sexualforschung nur noch im Ausland – allen voran den USA statt, wie Volkmar Sigusch eindrucksvoll belegt. Als Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft, war er seit Anfang der 70er Jahre immer wieder darum bemüht, die verloren gegangenen Schriften seiner Vorgänger zusammen zu tragen. Ihm ist es zu verdanken, dass heute an der Universität Frankfurt eine weltweit einmalige Bibliothek mit den von den Nazis verbrannten Schriften der Pioniere und Protagonisten der Sexualwissenschaft existiert.
Siguschs persönliches Engagement und seine aufklärerische Haltung, sind in allen Kapiteln spürbar. Er kritisiert überkomme Moralvorstellungen und betont mehrmals, dass es auch heute noch, lange nach der sexuellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre, immer noch sexuelle Diskriminierung in unserer Gesellschaft gibt. Als Beleg dafür liefert er unter anderem Zitate bayrischer Landespolitiker zum Thema Homosexualität.
Dass der Autor selbst Mitstreiter und Zeitzeuge der "Sexuellen Revolution" war, schlägt sich in einer angenehmen Lebhaftigkeit der Texte über diese Zeit nieder. Oswald Kolle, Beate Uhse, die Kommune I, die Aufbruchstimmung und Hoffnung auf sexuelle Befreiung kommen ausführlich zur Sprache.
Ebenso engagiert schreibt Sigusch über Freud und die Psychoanalyse, über den Amerikaner Alfred Kinsey und seinen Aufsehen erregenden Sexualreport. Sigusch lässt nichts aus. Dem Thema Aids widmet er sich ausführlich und über die Sexualwissenschaft in der DDR lässt er in einem eigenen Kapitel einen Kollegen umfangreich berichten. Woher das Wort Sexualität stammt, ist ebenso Thema wie die kritische Analyse verschiedener Therapien zu Sexualstörungen, deren Erfolg oder Misserfolg immer an das moralische Verständnis der jeweiligen Zeit geknüpft ist.
Volkmar Sigusch ist es hervorragend gelungen, die enorme Wandelbarkeit des Verständnisses von Sexualität zu dokumentieren. Die "Geschichte der Sexualwissenschaft" ist ein erhellendes, sehr facettenreiches Werk, das seinen Titel zu Recht trägt und zum Standardwerk der Sexualwissenschaft werden dürfte.
Rezensiert von Susanne Nessler
Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft, Campus Verlag, Frankfurt a. M., 720 Seiten, 39,90 Euro
Volkmar Sigusch, Pionier der deutschen Sexualmedizin, liefert auf 540 Seiten einen sehr spannenden und differenzierten Überblick über die Geschichte der Sexualität. Der Autor ist seit mehr als 40 Jahren engagierter Sexualwissenschaftler und ist Gründer des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaften, das 2006 kurz nach Siguschs Emeritierung und gegen dessen ausdrücklichen Protest geschlossen wurde.
In seinem umfangreichen 720-seitigen Buch stellt er die wichtigsten Protagonisten der Sexualwissenschaft vor, widmet sich den wissenschaftlichen Diskursen auf diesem Gebiet und beschreibt die gesellschaftlichen und politischen Einflüsse auf die Sexualforschung. Nach einem allgemeinen historischen Überblick, werden kurz alle relevanten Forscher präsentiert, bevor es danach in die ausführliche Beschreibung der unterschiedlichen Epochen geht. Ein einfacher, aber didaktisch sehr kluger Aufbau, der Laien einen schnellen Einstieg bietet.
Die ersten Gelehrten der Sexualwissenschaft sind nach Siguschs Auffassung Ende des 19. Jahrhunderts der Italiener Paolo Mantegazza und der Deutsche Karl Heinrich Ulrichs. Sie veröffentlichen unanhängig voneinander mehrere Texte und Bücher über Liebe, Lust und Geschlechterfragen.
Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt die Sexualforschung dann ihre erste und zugleich größte Blüte als wissenschaftliche Disziplin.
In Berlin wird 1919 das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld gegründet. Zahlreiche Gesellschaften zur Aufklärung, wie zum Beispiel der "Bund für Mutterschutz" oder das "Wissenschaftlich-humanitäre Komitee", eine Selbsthilfeorganisation Homosexueller, entstehen. Außerdem erscheinen verschiedene Zeitschriften und Periodika, die sich mit Themen der Intersexualität, der Lustempfindung der Frau oder Fragen der Verhütung beschäftigen.
Doch ab 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschwinden in Deutschland alle liberalen Ansätze und viele Sexualforscher müssen emigrieren. Die Sexualwissenschaft wird hierzulande nur noch auf eugenische Aspekte reduziert und als pseudowissenschaftliches Argument für den Rassenwahn der Nationalsozialisten missbraucht.
Ein Schlag, von dem sich die deutsche Sexualwissenschaft nie vollkommen erholt hat. Fortan findet ernsthafte Sexualforschung nur noch im Ausland – allen voran den USA statt, wie Volkmar Sigusch eindrucksvoll belegt. Als Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft, war er seit Anfang der 70er Jahre immer wieder darum bemüht, die verloren gegangenen Schriften seiner Vorgänger zusammen zu tragen. Ihm ist es zu verdanken, dass heute an der Universität Frankfurt eine weltweit einmalige Bibliothek mit den von den Nazis verbrannten Schriften der Pioniere und Protagonisten der Sexualwissenschaft existiert.
Siguschs persönliches Engagement und seine aufklärerische Haltung, sind in allen Kapiteln spürbar. Er kritisiert überkomme Moralvorstellungen und betont mehrmals, dass es auch heute noch, lange nach der sexuellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre, immer noch sexuelle Diskriminierung in unserer Gesellschaft gibt. Als Beleg dafür liefert er unter anderem Zitate bayrischer Landespolitiker zum Thema Homosexualität.
Dass der Autor selbst Mitstreiter und Zeitzeuge der "Sexuellen Revolution" war, schlägt sich in einer angenehmen Lebhaftigkeit der Texte über diese Zeit nieder. Oswald Kolle, Beate Uhse, die Kommune I, die Aufbruchstimmung und Hoffnung auf sexuelle Befreiung kommen ausführlich zur Sprache.
Ebenso engagiert schreibt Sigusch über Freud und die Psychoanalyse, über den Amerikaner Alfred Kinsey und seinen Aufsehen erregenden Sexualreport. Sigusch lässt nichts aus. Dem Thema Aids widmet er sich ausführlich und über die Sexualwissenschaft in der DDR lässt er in einem eigenen Kapitel einen Kollegen umfangreich berichten. Woher das Wort Sexualität stammt, ist ebenso Thema wie die kritische Analyse verschiedener Therapien zu Sexualstörungen, deren Erfolg oder Misserfolg immer an das moralische Verständnis der jeweiligen Zeit geknüpft ist.
Volkmar Sigusch ist es hervorragend gelungen, die enorme Wandelbarkeit des Verständnisses von Sexualität zu dokumentieren. Die "Geschichte der Sexualwissenschaft" ist ein erhellendes, sehr facettenreiches Werk, das seinen Titel zu Recht trägt und zum Standardwerk der Sexualwissenschaft werden dürfte.
Rezensiert von Susanne Nessler
Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft, Campus Verlag, Frankfurt a. M., 720 Seiten, 39,90 Euro