Zerhackte Worte, massive Beats
Hauptsache Aufmerksamkeit – wer es als Künstler nicht schafft, innerhalb von 30 Sekunden zu überzeugen, wird weggeklickt und bekommt kein Geld. Streamingdienste verändern unsere Hörgewohnheiten und damit auch unsere Musikkultur. Und der Markt wächst.
Vielleicht war es im März 2017 als Musikstreaming der neue Standard des Musikhörens wurde. Ed Sheeran veröffentlichte "÷" und den größten Hit des Jahres "Shape Of You". Der meistgestreamte Song 2017. Allein Spotify-Hörer riefen das Lied bislang 1,5 Milliarden Mal ab und machten es zum am häufigsten gestreamten Song bislang. Eingängige Melodie, gemächlicher Beat. Eine Formel, die beim Streaming-Publikum offenbar besonders gut funktioniert. Und diese Formel wird versucht zu kopieren, denn Streaming ändert nicht nur, wie Musik gehört wird, sondern auch wie sie gemacht wird, meint der Musikproduzent Jason Moss.
"Hits, die kurz hell leuchten, aber dann genau so schnell wieder vergessen sind, wird es weniger geben. Musik muss langfristig funktionieren. Sie muss eine tiefere Bindung mit dem Hörer eingehen als bislang."
Streaming verändert die Hörgewohnheiten
Kein Wunder, dass auch Sia, die meistgestreamte Künstlerin 2017, nach einer ganz ähnlichen Formel produziert wie Ed Sheeran. Pop-Songs, beeinflusst von Dance-Musik. Ein Musikkritiker der New York Times meint: "hot, but not too hot". Das sei der Sound des Jahres. Eher gemächlich. Aber auch ungeduldig. Weil ein Stream erst nach 30 Sekunden Abspielzeit gezählt wird, ändern sich Songstrukturen. Songs müssen in kurzer Zeit mehr bieten, damit sie nicht gleich weggeklickt werden. Der Pop-Drop setzt sich durch. Zerhackte Worte, massive Beats, Hauptsache Aufmerksamkeit.
Im Sommer plötzlich: Latin Pop."Despacito". Vier Silben, gekommen, um zu bleiben. Platz zwei der meist gestreamten Songs: Luis Fonsi und Daddy Yankee. Spotify sagt, dass Latin Pop 100 Prozent mehr gehört wird als im Vorjahr. Streaming beschleunigt Trends. Sie sind viel schneller sichtbar als vorher, meint auch Désirée Vach, Vorsitzende des Verbands unabhängiger Musikunternehmen in Deutschland.
"Bei den drei Fragezeichen, da nennen sie es immer 'die Telefonlawine'. Also, wenn fünf Leute es hören, dann hören es wieder fünf Leute, dann sind es schon 25, dann wieder 25, sehr exponentiell wächst die Gruppe der Zuhörer eigentlich."
Was die Künstler verdienen ist unklar
Doch die Marktmacht der Streaminganbieter war 2017 nicht ohne Kritik. Immer noch ist nicht transparent, wie Künstler genau entlohnt werden. Zudem sind die Anbieter Datensammelmaschinen. Doch da Streaming so praktisch ist, scheint das viele nicht zu stören, beklagt Gloria González Fuster von der Uni Brüssel.
"Ich glaube, das ist der Trick. Sie tun alles dafür, dass du wieder und wieder Musik hörst und wertvolle Daten produziert. Das ist das Verhalten, das du annehmen sollst. Du wirst quasi dazu diszipliniert, unablässig Daten zu produzieren. Je mehr, desto besser."
Gibt es auf Spotify Fake Artists?
Die sprudelnden Einnahmen wecken auch bei den Streaming Plattformen selbst neue Begehrlichkeiten. Im Juli wurde dem Marktführer Spotify vorgeworfen, er produziere Fake Artists, indem er selbst Songs beauftrage, und dann in besonders populären Playlists platziere. So würden Künstler, die es nur auf Spotify gebe, millionenfach gehört werden – ohne dass das Unternehmen dafür Tantiemen bezahlen muss. Ein Fake Artist soll etwa Karin Borg sein. Borg hat nur drei Songs auf Spotify. Einer davon mit über 20 Millionen Abrufen. Borg scheint außerhalb der Plattform nicht zu existieren und klingt – erstaunlicherweise – ganz ähnlich wie Amity Cadet.
Auch er oder sie ein Fake Artist? Spotify dementiert vehement. Fake oder real – Streaming bricht Musik auf Zahlen runter. Der Algorithmus ist der wichtigste Spieler auf dem Musikmarkt 2017. Bereits jetzt sorgt er in Deutschland für ein Viertel des Gesamtumsatzes. Anbieter wie Deezer oder Apple Music erweitern ihre Marktanteile. Apple Music hat etwa halb so viele bezahlte Abos wie Spotify – ist aber auch erst zweieinhalb Jahre alt. Und selbst Labels, die bislang nicht auf Streaming Seiten zu finden waren, sind jetzt da. Etwa das eher elitäre Jazz-Label ECM, seit kurzem vertreten mit Künstlern wie Keith Jarrett, Arvo Pärt oder Steve Reich.
Einfluss via Playlist
2017 sind Streaminganbieter mächtiger denn je. Über ihre einflussreichen Playlists diktieren sie, was erfolgreich wird. Gleichzeitig bieten sie eine Vielfalt, die in der Prä-Streaming-Ära kaum vorstellbar war. In nur wenigen Jahren haben die Anbieter die Verfügbarkeit von Musik für alle revolutioniert. Streaming wurde zum Retter einer Musikindustrie, die sich beide Beine gebrochen hatte und jetzt langsam wieder laufen lernt.