Wie Tunesiens Islamisten die Frauenrechte beschneiden wollen
Die islamistische Ennahda-Partei wurde bei den Wahlen in Tunesien stärkste Kraft. Das soll sich nun auch in der neuen Verfassung zeigen - die Ennahda will die Rechte der Frauen einschränken. Welche Debatten das in Tunesien ausgelöst hat, erklärt Elisabeth Braune, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis.
Stephan Karkowsky: Im Dezember 2010 begann die Arabellion, das Aufbegehren der Araber gegen ihre Herrscher. Die Tunesier waren die ersten, aber schon bei den ersten freien Wahlen siegte bei manchen das Bedürfnis nach Ordnung im Land über das nach Freiheit. Die islamistische Ennahda-Partei, bestens befreundet mit der radikalen Hamas in Gaza, wurde stärkste Kraft. Das soll sich auch in der neuen Verfassung zeigen. Die Ennahda möchte darin die Frau als bloßen Gefährten des Mannes definiert wissen. Wie Tunesien damit umgeht, das kann uns Elisabeth Braune verraten. Sie leitet in Tunis die Friedrich-Ebert-Stiftung. Guten Morgen, Frau Braune!
Elisabeth Braune: Guten Morgen!
Karkowsky: Staatsreligion war der Islam in Tunesien ja schon immer. Waren die Rechte von Frauen nicht auch schon immer eingeschränkt?
Braune: Es ist tatsächlich so, dass Tunesien im Vergleich zu anderen Ländern der arabischen Welt im Hinblick auf die Rechte der Frauen eine wirklich avantgardistische Rolle schon immer eingenommen hat. Tatsächlich jährt sich am nächsten Montag, am 13. August, zum 56. Mal die Verabschiedung des Personenstandsrechts, was also schon 1956, schon vor der Verfassung Tunesiens, verabschiedet worden ist und was also den Frauen tatsächlich weitreichende Rechte seit jeher zusichert.
Karkowsky: Waren das die gleichen Rechte, wie es sie in westlichen Gesellschaften gibt?
Braune: Es war ein weitgehender Kompromiss, der tatsächlich auch zu einer faktischen, doch sehr fortgeschrittenen Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der tunesischen Gesellschaft geführt hat, auch wenn bis heute, insbesondere im Hinblick auf Erbschaftsregelungen, Feministinnen sich noch viel mehr Nachbesserungen wünschen. Aber Fakt ist, dass die tatsächliche Gleichberechtigung im Vergleich zu anderen arabischen Ländern trotz der muslimischen Identität und Tradition wirklich außerordentlich weit vorangeschritten ist.
Karkowsky: Heute trifft sich nun in Tunis die verfassungsgebende Versammlung. Was genau steht denn drin in diesem Entwurf der Ennahda-Partei zur Rolle der Frau?
Braune: Ja, ich würde gerne kurz was zum Verfahren sagen. Und zwar ist es jetzt eben der Verfassungsreformprozess, in dem sechs verschiedene Kommissionen zu unterschiedlichen thematischen Bereichen Vorschläge erarbeitet haben, artikelweise. Der Artikel, der jetzt diese Kontroverse hervorgerufen hat, ist der Artikel 27 der Kommission "Rechte und Freiheiten". Die Formulierung lautet: Der Staat gewährleistet den Schutz der Rechte der Frau und ihrer Errungenschaften unter der Achtung des Prinzips, dass die Frau den Mann innerhalb der Familie ergänzt und ihm bei der Entwicklung des Landes zur Seite steht.
Was daran problematisch ist, ist natürlich insbesondere die Hierarchie, also diese Ergänzung der Frau, die Frau ergänzt den Mann innerhalb der Familie. Zum anderen die Kausalität, also der Staat garantiert nur die Rechte der Frau und ihre Errungenschaften unter eben der Voraussetzung, dass diese Konstellation in der Familie so gewährleistet ist. Und diese Festschreibung der Familienorientierung bedeutet ja auch eine Diskriminierung von ledigen Frauen und ledigen Müttern, die extrem problematisch ist.
Karkowsky: Was befürchten denn genau die Kritiker, was könnte dieser Artikel auslösen, wenn er denn tatsächlich Teil der Verfassung wird?
Braune: Also grundsätzlich gibt es hier eine extrem heftig geführte Diskussion um die Vereinbarkeit von religiösen Werten und die grundsätzliche Ausrichtung des neuen tunesischen Staats, und wie Sie das vorhin auch gesagt haben, also die islamistische Ennahda-Partei hat nach den ersten freien Wahlen im Oktober letzten Jahres hier die Mehrheit im Parlament erhalten und ist auch in der Koalitionsregierung zweifelsohne der absolut dominante Akteur.
Und obgleich es im März gelungen ist, die Ennahda zu einem Verzicht auf die Konnotierung der Scharia im Verfassungskontext festzuschreiben, versucht sie also bei jeder Gelegenheit, jetzt in einzelnen Artikeln quasi durchs Fenster wieder hereinzukommen mit Relativierungen insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Frauen, auf Meinungsfreiheit und auch akademische Freiheit, künstlerische Freiheit in dem Sinne, als dass es da eben eine Einschränkung geben soll im Hinblick auf öffentliche Ordnung und Anstand und Sitte.
Karkowsky: Wie real ist denn die Gefahr, dass der Ennahda das gelingt, die Freiheitsrechte in Tunesien einzuschränken? Umgekehrt gefragt, wie groß ist der Widerstand, und von wem kommt der?
Braune: Also dazu zwei Antworten, im einen Hinblick auf den tatsächlichen Prozess – also diese unterschiedlichen Kommissionen legen jetzt ihre Entwürfe vor. Die Kommissionen sind entsprechend der Verteilung der Sitze und der Parteien im Parlament zusammengesetzt. Insbesondere zu diesem Artikel 27 gibt es zwei Versionen, die vorgelegt worden sind. Die Kommission konnte sich nicht auf eine einheitliche Version dieses Artikels einigen, es gibt einen Gegenvorschlag, der von den linken Parteien und der Opposition eingebracht worden ist und der ganz uneingeschränkt eben die Rechte der Frau in den Vordergrund stellt.
Darüber muss nach der Parlamentspause dann die gesamte verfassungsgebende Versammlung Artikel für Artikel bestimmen. Und insbesondere ist auch schon mal zu sagen, dass es Widersprüche gibt im Hinblick auf andere Artikel, die nämlich die Gleichheit der Geschlechter und auch die Nichtdiskriminierung von allen Bürgerinnen und Bürgern festschreibt. Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss, das wird so nicht durchgehen. Die Ennahda hat zwar eine Mehrheit, aber keine absolute Mehrheit, und es wird also ihr auch nicht so leicht fallen, das jetzt einfach gegen die Proteste im Parlament so durchzuwinken.
Die andere Antwort geht ganz stark auf die Reaktion der Zivilgesellschaft. Seit dieser Gesetzesentwurf bekannt geworden ist, schlagen also hier wirklich die Wellen hoch. Es hat jetzt also jeden Tag in unterschiedlichen Teilen des Landes große Protestdemonstrationen und Aufrufe gegeben, und insbesondere für den nächsten Montag, also zu dem Jahrestag vom Personenstandsrecht ist also eine riesengroße Demonstration geplant, wo unterschiedliche große Frauenorganisationen, aber auch die Menschenrechtsliga und Amnesty International und die Gewerkschaften und verschieden Oppositionsparteien gemeinsam zu aufrufen. Und also diese Vehemenz des Protestes ist auf jeden Fall extrem bemerkenswert und wird hoffentlich dazu führen, dass die Kommission intern noch mal diesen Vorschlag überdenkt und revidiert.
Karkowsky: Sie hören aus Tunis die Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung Elisabeth Braune. Frau Braune, was Sie mir erzählen, klingt doch alles ganz wunderbar demokratisch, oder nicht?
Braune: Ja, sowohl als auch. Es ist so, dass die Ennahda seit ihrem Wahlsieg Ende letzten Oktobers unheimlich an Oberwasser gewonnen hat, und insbesondere die vielen radikalislamistischen und gewaltbereiten salafistischen Elemente, die es im Land gibt und die jetzt also wirklich an allen Ecken und Enden versuchen, massiv gesellschaftlich und politisch Einfluss zu nehmen, überhaupt nicht im Zaum hält, also da wirklich unheimlich viel zulässt und relativiert und an mehreren Stellen durch unterschiedliche vermeintliche Einzelfälle - Übergriffe auf Künstler, auf Intellektuelle, auf Journalisten, auf vermeintlich unislamisch gekleidete Frauen - da also das Gewaltmonopol des Staates systematisch untergraben wird.
Und das ist extrem problematisch, also das will ich wirklich überhaupt nicht relativieren, vor allem, weil eben die Regierung sich dazu sehr zögerlich verhält, und das insgesamt und gerade jetzt im Fastenmonat Ramadan ein Klima der Aggression und der Unsicherheit schafft, das sehr bedenklich ist. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass gleichzeitig die sozialen Belange, die ja wirklich der Ausgangspunkt der Revolution hier in Tunesien, insbesondere in den Landesteilen im Inneren war, sich in keiner Weise verändert haben und dafür auch überhaupt keine konkreten Angebote bislang diskutiert werden.
Karkowsky: Würden Sie sagen, das ist so eine Art Diktatur der öffentlichen Moral, die sich da gerade abzeichnet?
Braune: Es besteht die Gefahr, ja, also das ist auf jeden Fall die Richtung, in die Ennahda sich orientiert. Die arbeiten sehr viel mit Testballons, also mit provokanten Statements. In diese Richtung würde ich auch eben jetzt diese Gesetzesvorlage zum Artikel 27 werten, wo dann zurückgerudert wird, aber erst mal versuchen und erst mal gucken, wie weit es geht, um ein potenzielles, sehr konservativ islamistisches Wählerspektrum nicht zu vergrätzen und aber gleichzeitig den demokratischen Prozess weiter mitzuspielen und auch, ja, also gewisse Flexibilität beziehungsweise Kompromissbereitschaft immer wieder manifestieren zu können. Also das ist eine wirklich sehr komplexe Angelegenheit, aber ich denke, die Zivilgesellschaft und die politische Opposition ist doch auf jeden Fall gewappnet, da genau hinzugucken, und hat jetzt gerade eben wieder im Hinblick auf diese Gesetzesvorlage gezeigt, dass sie also sofort reagiert, und zwar mit aller Kraft.
Karkowsky: Sie sagen, die Zivilgesellschaft in Tunesien ist intakt. Sie diskutiert. Wo kommt sie denn überhaupt her, diese Diskussionskultur in einem Land, in dem jahrzehntelang gar nicht diskutiert werden durfte, zumindest nicht über die offizielle Politik?
Braune: Das ist einerseits richtig, andererseits ist es so, dass es eine starke Zivilgesellschaft gerade im Hinblick auf Frauenorganisationen immer schon gegeben hat. Das ist auch der Bereich gewesen, der mit dem Personenstandsrecht schon aus der Bourguiba-Zeit im Rücken, sich sehr viel kritische Freiheiten erlauben konnte in einem gewissen Rahmen, also auf jeden Fall sehr viel mehr Freiheit hatte für kritische Positionen als das zum Beispiel Menschenrechtsorganisationen oder Journalisten hatten. Insofern ist das durchaus auch eine starke Struktur, die da jetzt zum Tragen kommt. Es gab eben trotzdem auch sehr, sehr viele kritische Stimmen und viele Ansätze von zivilgesellschaftlicher Opposition im letzten Jahr, die ja letztlich auch die Revolution mitgetragen haben, ganz stark versucht haben, jetzt auch die neue gesellschaftliche Transformation eben zu begleiten und zu unterstützen in ihrem Sinne.
Karkowsky: Heute trifft sich in Tunesien die verfassungsgebende Versammlung zum letzten Mal vor der Ramadan-Pause. Zur möglichen Beschneidung von Freiheitsrechten hörten sie die Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis, Elisabeth Braune. Frau Braune, Ihnen besten Dank für das Gespräch!
Braune: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Elisabeth Braune: Guten Morgen!
Karkowsky: Staatsreligion war der Islam in Tunesien ja schon immer. Waren die Rechte von Frauen nicht auch schon immer eingeschränkt?
Braune: Es ist tatsächlich so, dass Tunesien im Vergleich zu anderen Ländern der arabischen Welt im Hinblick auf die Rechte der Frauen eine wirklich avantgardistische Rolle schon immer eingenommen hat. Tatsächlich jährt sich am nächsten Montag, am 13. August, zum 56. Mal die Verabschiedung des Personenstandsrechts, was also schon 1956, schon vor der Verfassung Tunesiens, verabschiedet worden ist und was also den Frauen tatsächlich weitreichende Rechte seit jeher zusichert.
Karkowsky: Waren das die gleichen Rechte, wie es sie in westlichen Gesellschaften gibt?
Braune: Es war ein weitgehender Kompromiss, der tatsächlich auch zu einer faktischen, doch sehr fortgeschrittenen Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der tunesischen Gesellschaft geführt hat, auch wenn bis heute, insbesondere im Hinblick auf Erbschaftsregelungen, Feministinnen sich noch viel mehr Nachbesserungen wünschen. Aber Fakt ist, dass die tatsächliche Gleichberechtigung im Vergleich zu anderen arabischen Ländern trotz der muslimischen Identität und Tradition wirklich außerordentlich weit vorangeschritten ist.
Karkowsky: Heute trifft sich nun in Tunis die verfassungsgebende Versammlung. Was genau steht denn drin in diesem Entwurf der Ennahda-Partei zur Rolle der Frau?
Braune: Ja, ich würde gerne kurz was zum Verfahren sagen. Und zwar ist es jetzt eben der Verfassungsreformprozess, in dem sechs verschiedene Kommissionen zu unterschiedlichen thematischen Bereichen Vorschläge erarbeitet haben, artikelweise. Der Artikel, der jetzt diese Kontroverse hervorgerufen hat, ist der Artikel 27 der Kommission "Rechte und Freiheiten". Die Formulierung lautet: Der Staat gewährleistet den Schutz der Rechte der Frau und ihrer Errungenschaften unter der Achtung des Prinzips, dass die Frau den Mann innerhalb der Familie ergänzt und ihm bei der Entwicklung des Landes zur Seite steht.
Was daran problematisch ist, ist natürlich insbesondere die Hierarchie, also diese Ergänzung der Frau, die Frau ergänzt den Mann innerhalb der Familie. Zum anderen die Kausalität, also der Staat garantiert nur die Rechte der Frau und ihre Errungenschaften unter eben der Voraussetzung, dass diese Konstellation in der Familie so gewährleistet ist. Und diese Festschreibung der Familienorientierung bedeutet ja auch eine Diskriminierung von ledigen Frauen und ledigen Müttern, die extrem problematisch ist.
Karkowsky: Was befürchten denn genau die Kritiker, was könnte dieser Artikel auslösen, wenn er denn tatsächlich Teil der Verfassung wird?
Braune: Also grundsätzlich gibt es hier eine extrem heftig geführte Diskussion um die Vereinbarkeit von religiösen Werten und die grundsätzliche Ausrichtung des neuen tunesischen Staats, und wie Sie das vorhin auch gesagt haben, also die islamistische Ennahda-Partei hat nach den ersten freien Wahlen im Oktober letzten Jahres hier die Mehrheit im Parlament erhalten und ist auch in der Koalitionsregierung zweifelsohne der absolut dominante Akteur.
Und obgleich es im März gelungen ist, die Ennahda zu einem Verzicht auf die Konnotierung der Scharia im Verfassungskontext festzuschreiben, versucht sie also bei jeder Gelegenheit, jetzt in einzelnen Artikeln quasi durchs Fenster wieder hereinzukommen mit Relativierungen insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Frauen, auf Meinungsfreiheit und auch akademische Freiheit, künstlerische Freiheit in dem Sinne, als dass es da eben eine Einschränkung geben soll im Hinblick auf öffentliche Ordnung und Anstand und Sitte.
Karkowsky: Wie real ist denn die Gefahr, dass der Ennahda das gelingt, die Freiheitsrechte in Tunesien einzuschränken? Umgekehrt gefragt, wie groß ist der Widerstand, und von wem kommt der?
Braune: Also dazu zwei Antworten, im einen Hinblick auf den tatsächlichen Prozess – also diese unterschiedlichen Kommissionen legen jetzt ihre Entwürfe vor. Die Kommissionen sind entsprechend der Verteilung der Sitze und der Parteien im Parlament zusammengesetzt. Insbesondere zu diesem Artikel 27 gibt es zwei Versionen, die vorgelegt worden sind. Die Kommission konnte sich nicht auf eine einheitliche Version dieses Artikels einigen, es gibt einen Gegenvorschlag, der von den linken Parteien und der Opposition eingebracht worden ist und der ganz uneingeschränkt eben die Rechte der Frau in den Vordergrund stellt.
Darüber muss nach der Parlamentspause dann die gesamte verfassungsgebende Versammlung Artikel für Artikel bestimmen. Und insbesondere ist auch schon mal zu sagen, dass es Widersprüche gibt im Hinblick auf andere Artikel, die nämlich die Gleichheit der Geschlechter und auch die Nichtdiskriminierung von allen Bürgerinnen und Bürgern festschreibt. Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss, das wird so nicht durchgehen. Die Ennahda hat zwar eine Mehrheit, aber keine absolute Mehrheit, und es wird also ihr auch nicht so leicht fallen, das jetzt einfach gegen die Proteste im Parlament so durchzuwinken.
Die andere Antwort geht ganz stark auf die Reaktion der Zivilgesellschaft. Seit dieser Gesetzesentwurf bekannt geworden ist, schlagen also hier wirklich die Wellen hoch. Es hat jetzt also jeden Tag in unterschiedlichen Teilen des Landes große Protestdemonstrationen und Aufrufe gegeben, und insbesondere für den nächsten Montag, also zu dem Jahrestag vom Personenstandsrecht ist also eine riesengroße Demonstration geplant, wo unterschiedliche große Frauenorganisationen, aber auch die Menschenrechtsliga und Amnesty International und die Gewerkschaften und verschieden Oppositionsparteien gemeinsam zu aufrufen. Und also diese Vehemenz des Protestes ist auf jeden Fall extrem bemerkenswert und wird hoffentlich dazu führen, dass die Kommission intern noch mal diesen Vorschlag überdenkt und revidiert.
Karkowsky: Sie hören aus Tunis die Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung Elisabeth Braune. Frau Braune, was Sie mir erzählen, klingt doch alles ganz wunderbar demokratisch, oder nicht?
Braune: Ja, sowohl als auch. Es ist so, dass die Ennahda seit ihrem Wahlsieg Ende letzten Oktobers unheimlich an Oberwasser gewonnen hat, und insbesondere die vielen radikalislamistischen und gewaltbereiten salafistischen Elemente, die es im Land gibt und die jetzt also wirklich an allen Ecken und Enden versuchen, massiv gesellschaftlich und politisch Einfluss zu nehmen, überhaupt nicht im Zaum hält, also da wirklich unheimlich viel zulässt und relativiert und an mehreren Stellen durch unterschiedliche vermeintliche Einzelfälle - Übergriffe auf Künstler, auf Intellektuelle, auf Journalisten, auf vermeintlich unislamisch gekleidete Frauen - da also das Gewaltmonopol des Staates systematisch untergraben wird.
Und das ist extrem problematisch, also das will ich wirklich überhaupt nicht relativieren, vor allem, weil eben die Regierung sich dazu sehr zögerlich verhält, und das insgesamt und gerade jetzt im Fastenmonat Ramadan ein Klima der Aggression und der Unsicherheit schafft, das sehr bedenklich ist. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass gleichzeitig die sozialen Belange, die ja wirklich der Ausgangspunkt der Revolution hier in Tunesien, insbesondere in den Landesteilen im Inneren war, sich in keiner Weise verändert haben und dafür auch überhaupt keine konkreten Angebote bislang diskutiert werden.
Karkowsky: Würden Sie sagen, das ist so eine Art Diktatur der öffentlichen Moral, die sich da gerade abzeichnet?
Braune: Es besteht die Gefahr, ja, also das ist auf jeden Fall die Richtung, in die Ennahda sich orientiert. Die arbeiten sehr viel mit Testballons, also mit provokanten Statements. In diese Richtung würde ich auch eben jetzt diese Gesetzesvorlage zum Artikel 27 werten, wo dann zurückgerudert wird, aber erst mal versuchen und erst mal gucken, wie weit es geht, um ein potenzielles, sehr konservativ islamistisches Wählerspektrum nicht zu vergrätzen und aber gleichzeitig den demokratischen Prozess weiter mitzuspielen und auch, ja, also gewisse Flexibilität beziehungsweise Kompromissbereitschaft immer wieder manifestieren zu können. Also das ist eine wirklich sehr komplexe Angelegenheit, aber ich denke, die Zivilgesellschaft und die politische Opposition ist doch auf jeden Fall gewappnet, da genau hinzugucken, und hat jetzt gerade eben wieder im Hinblick auf diese Gesetzesvorlage gezeigt, dass sie also sofort reagiert, und zwar mit aller Kraft.
Karkowsky: Sie sagen, die Zivilgesellschaft in Tunesien ist intakt. Sie diskutiert. Wo kommt sie denn überhaupt her, diese Diskussionskultur in einem Land, in dem jahrzehntelang gar nicht diskutiert werden durfte, zumindest nicht über die offizielle Politik?
Braune: Das ist einerseits richtig, andererseits ist es so, dass es eine starke Zivilgesellschaft gerade im Hinblick auf Frauenorganisationen immer schon gegeben hat. Das ist auch der Bereich gewesen, der mit dem Personenstandsrecht schon aus der Bourguiba-Zeit im Rücken, sich sehr viel kritische Freiheiten erlauben konnte in einem gewissen Rahmen, also auf jeden Fall sehr viel mehr Freiheit hatte für kritische Positionen als das zum Beispiel Menschenrechtsorganisationen oder Journalisten hatten. Insofern ist das durchaus auch eine starke Struktur, die da jetzt zum Tragen kommt. Es gab eben trotzdem auch sehr, sehr viele kritische Stimmen und viele Ansätze von zivilgesellschaftlicher Opposition im letzten Jahr, die ja letztlich auch die Revolution mitgetragen haben, ganz stark versucht haben, jetzt auch die neue gesellschaftliche Transformation eben zu begleiten und zu unterstützen in ihrem Sinne.
Karkowsky: Heute trifft sich in Tunesien die verfassungsgebende Versammlung zum letzten Mal vor der Ramadan-Pause. Zur möglichen Beschneidung von Freiheitsrechten hörten sie die Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis, Elisabeth Braune. Frau Braune, Ihnen besten Dank für das Gespräch!
Braune: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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