"Wie viel Prostitution steckt im Bürgertum?"
Mit echten Sexarbeiterinnen auf der Bühne macht Volker Löschs Inszenierung "Lulu – Die Nuttenrepublik" schon vorab Schlagzeilen. Er will im besten Sinn provozieren und deshalb die Menschen in der Berliner Schaubühne zu Wort kommen lassen, "die was zu erzählen haben".
Stephan Karkowsky: Frank Wedekinds Bühnenstück "Lulu" entstand vor 100 Jahren – ein erotische Groteske, ein Panoptikum der Berliner Halbwelt und eine Anklage der Doppelmoral des Bürgertums. Für die Berliner Schaubühne adaptiert hat es nun Volker Lösch, ein Regisseur, der am liebsten Laiendarsteller auf die Bühne stellt, mit Vorliebe aus gesellschaftlichen Randgruppen. Diesmal eine Reihe von Sexarbeiterinnen. Am Samstag ist Premiere. Susanne Burkhardt hat während der Proben mit Lösch über seine Inszenierung gesprochen, und als Erstes hat Lösch hat ihr dabei verraten, ob man die Motive der literarischen Lulu mit denen von echten Prostituierten gleichsetzen kann.
Volker Lösch: Wir untersuchen jetzt einfach aufgrund der Verbindung der Biografien, Geschichten von Sexarbeiterinnen und dem, was Lulu macht, ob die Freier, die am Ende des Stückes im fünften Akt auf Lulu treffen, in ihren Verhaltensweisen, in ihren Beziehungen zu Lu so sehr viel anders sind als die Männertypen, die am Anfang auftauchen, also wie viel Prostitution steckt im Bürgertum oder in der Bürgerlichkeit.
Und andere Frage, anders herum, das ist auch sehr interessant, auch aufgrund der Geschichten, die die Frauen erzählen, wie viel Bürgerlichkeit oder wie viel bürgerliche Träume oder wie viel Sehnsucht nach Bürgerlichkeit haben denn Prostituierte. Und das durchdringt sich wechselseitig, ist bei Wedekind angelegt, und wir untersuchen es, stellen es auf den Prüfstand.
Susanne Burkhardt: Das ist ja ein von Ihnen gern gewähltes Mittel, dass sie sich einen Klassiker nehmen, eine Geschichte erzählen mit professionellen Darstellern, dass sie sich dann Betroffene oder ...
Lösch: Soziale Gruppen ...
Burkhardt: Laiengruppen, soziale Gruppen als Chor dazutun, das gab es ja bei, um nur einem Beispiel zu nennen, Gerhard Hauptmann "Die Weber". Da haben Sie das mit einem Chor von Hartz-IV-Empfängern gemacht. In "Lulu" oder "Die Nuttenrepublik", Sie haben es gerade schon angesprochen, sind es neben den Schauspielern dann auch Sexarbeiterinnen, also Frauen, die mit Sex oder mit Sexarbeit ihr Geld verdienen. Wieso ist es Ihnen so wichtig, echte Betroffene auf die Bühne zu stellen? Trauen Sie den künstlerischen Mitteln des Theaters nicht?
Lösch: Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich glaube, es gibt auch keine unechten Betroffenen, es gibt nur Betroffene, und die können erst mal aus erster Hand Geschichten erzählen. Ich lebe natürlich auch davon und mein Team lebt davon auch, dass wir am Anfang sehr viele Gespräche führen, also dass wir journalistisch arbeiten, und dass wir aufgrund dieser Gespräche ein unglaublich reichhaltiges Material zusammentragen, welches von Spezialistinnen, was Liebesbeziehungen, erotische Beziehungen, Sexbeziehungen zwischen Männern und Frauen betrifft, stammen. Es gibt keine größeren Expertinnen auf diesem Gebiet als Sexarbeiterinnen, und die können einem erst mal sehr, sehr viel dazu erzählen, können anhand ihrer Geschichten das Material gegenwärtig aufladen und können das Material, ohne es zu beschädigen, erweitern eigentlich.
Man kann das Stück natürlich so spielen, wie es da ist, aber man kann es natürlich auch anreichern, man kann es mit heutigen Assoziationen versehen, um es reicher zu machen, nicht um es schwächer zu machen, um es aufzuladen, um es ins Verhältnis zu setzen zum Heute, funktioniert der Text noch oder funktioniert er nicht. Man kann natürlich sagen, das kann ich mir auch denken dabei, ich guck zu und denk mir das Ganze selber dabei, nur die Erfahrungen, die da geschildert werden, jetzt an unserem Abend, anhand der erlebten Geschichten, sind so interessant, dass man fast einen eigenen Abend draus machen könnte. Man kann natürlich auch beide Geschichten verbinden und geht, glaube ich, dann mit einem reicheren Ergebnis raus, als wenn man es jetzt so spielt, wie es da steht.
Burkhardt: Elfriede Jelinek hat ein ähnliches Thema behandelt, also das Thema sexuelle Ausbeutung von Frauen in ihrem Stück über Tiere, und da hat sie einen Kunstgriff gewählt, indem sie Protokolle, Abhörprotokolle von der Polizei, wo es um Frauenhandel geht, um den direkten Verkauf von Frauen oder auch das Ordern von Frauen, aufgegriffen hat und in eine neue Sprache gebracht hat und das dann eine Frau erzählen lässt. Damit hat sie sich natürlich aus dem möglichen Vorwurf, voyeuristisch solche Texte darzustellen, ganz gut entzogen. Sie laufen diesem Vorwurf natürlich ziemlich oft in die Arme, oder?
Lösch: Also ein Voyeur ist ja jemand, der nicht dabei gesehen werden möchte, wenn er spannt. Das hat ja mit dem Theaterzuschauer wenig zu tun, weil ein Theaterzuschauer sitzt ja in einer Gemeinschaft und schaut in einer Gemeinschaft zu, und das Voyeuristische würde ich vielleicht dann erzeugen und könnte mir das auf den Proben auch ermöglichen, wenn ich denn nach einer sehr schlüpfrigen Art und Weise vorgehen würde, wie es dann vielleicht bestimmte Formate im Fernsehen tun oder so. Und das heißt, ich würde Dinge hören wollen oder Texte aussuchen, die so eine Art von Voyeurismus im Sinne einer Schlüpfrigkeit erfordern würden oder danach suchen würden, aber darum geht es gar nicht.
Es geht darum, dass diejenigen, die was zu erzählen haben, auf der Bühne stehen. Warum sollen die nicht auf der Bühne stehen? Das ist ein öffentliches Forum, und die haben etwas zu versenden, die haben das Bedürfnis zu reden. Wir bieten oft Gruppen auch ein Forum, die sonst keines haben. Also gerade diese Frauen haben keines. Das ist ja das Groteske, teilweise auch Perverse an der Geschichte: Die gesamte Männerwelt hält sich Teile des Lebens bei Prostituierten auf, also sind ungeheure Zahlen, wenn die denn stimmen – das ist natürlich alles nicht wirklich dokumentiert, aber es sind schon ungeheure Zahlen. Und es gibt aber keine wirkliche Akzeptanz dieser Frauen, nach wie vor nicht. Vor 100 Jahren nicht und heute nicht. Sie werden nach wie vor stigmatisiert, vor dem Geschlechtsakt und nach dem Geschlechtsakt, und während des Geschlechtsaktes oder während des Beisammenseins ist es gut, ist es okay. Es wird aber nach wie vor tabuisiert, ist ein ganz wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft, ein Kitt, der teilweise auch Sachen zusammenhält, die vielleicht so gar nicht zusammen zu erhalten sind.
Und dass diese Frauen dann auf einer Bühne stehen und Texte erzählen, die man so sonst lesen würde oder vielleicht auf irgendwelche Umwege erfahren würde, hat für mich überhaupt nichts mit Voyeurismus zu tun, es hat was im besten Falle mit Theater zu tun.
Burkhardt: Sie haben es jetzt gerade schon angesprochen, das Gewerbe der Prostituierten lebt von Diskretion, auch von Heimlichkeit, weil es gesellschaftlich natürlich nicht anerkannt ist – war es denn dann sehr schwer für Sie, diese Frauen zu finden und auch dazu zu kriegen, auf die Bühne zu gehen, sich öffentlich zu machen? Es ist ja möglicherweise auch gewerbeschädigend für sie selber, geschäftsschädigend.
Lösch: Es war sehr schwer, ja. Es ist sehr schwer und es ist auch gewerbeschädigend. Also einige haben erzählt, dass sie seitdem, da sie es auch veröffentlicht haben im Internet, keine Angebote mehr bekommen, weil Freier keine Lust dazu haben, sich dann auf eine Art und Weise benannt oder wiedererkannt zu werden, wobei wir das natürlich nicht machen, wir nehmen natürlich keine Namen von Freiern auf der Bühne, darum geht es ja gar nicht.
Aber es ist natürlich sehr schwer, und wir haben da sehr persönlich arbeiten müssen und haben uns sehr zäh auch von Kontakt zu Kontakt dann durchgefragt und Gespräche im Vorfeld geführt und haben dann auch noch die ein oder andere Frau dazugewonnen, als wir dann angefangen haben zu proben und die anderen dann erzählt haben, komm doch da auch mal hin, das ist total interessant und lass uns das machen. Aber einfach war es nicht, das ist richtig, ja.
Burkhardt: Was war denn die verblüffendste Erkenntnis, die Sie gewinnen konnten aus diesen ganzen Gesprächen, die vorab auch schon stattgefunden haben?
Lösch: Also für mich persönlich die wirklich wechselseitige Durchdringung dieser beiden scheinbar nicht zusammengehörenden Sphären Bürgerlichkeit und Prostitution. Das ist, finde ich, sehr erstaunlich. Also es war eine Ahnung da, sonst hätten wir es ja nicht so konzipiert, aber das Überraschende für mich ist, dass die Käuflichkeit von Beziehungen, von Gefühlen und von Liebe auf eine sehr deutliche Art und Weise schon in diesen Beziehungen eingeschrieben ist und dass andererseits auch unheimlich viel Nichtkäuflichkeit auch in diesem Beruf stattfindet. Da hatte ich auch so das Klischee im Kopf, also Prostituierte, das ist doch eigentlich ein sehr kalter Beruf, also man spaltet das Innere vom Äußeren ab oder wie auch immer, arbeitet dann und verdient Geld.
Aber dass es unheimlich viel auch mit Liebe zu tun hat oder mit den Zwischenbereichen zwischen Liebe und Käuflichkeit, und dass es Frauen gibt, die sehr stolz auf diesen Beruf sind, die sich sehr wohlfühlen – sind nicht die Frauen, die in der Kurfürstenstraße stehen, aber es sind zum Beispiel Frauen, die Tantramassagen machen und so, die auch immer mit einem sexuellen Abschluss enden. Das sind alles Berufe, die, glaube ich, sehr stabilisierend wirken können für eine Gesellschaft und die auch in vielen Bereichen wirklich was mit Erotik und mit Liebe zu tun haben. Und die Frauen sagen selber, wenn es so was gäbe wie eine Hochschule für Liebe und für Sexualität, müssten wir Professorenstellen haben, Professorinnenstellen haben.
Burkhardt: Das heißt, der Begriff käufliche Liebe ist nicht nur ein Klischee für die käufliche Körperlichkeit, sondern da findet wirklich eine Form von Liebesbeziehung statt?
Lösch: Ja, durchaus. Also es werden zum Beispiel von den Frauen drei Typen von Männern geschildert, mehr gibt es leider nicht ...
Burkhardt: Welche drei sind das?
Lösch: ... schon zwei mehr, als ich dachte. Ganz kurz: Die Männer, die eben sich sehr anständig verhalten, sich gut verhalten, die aber dann den Prozess der Prostitution leugnen, die also sagen, wir sind ja gar nicht im Puff und du bist doch gar keine Prostituierte, und wenn du mal eine Therapie machst, dann ist das vorbei, oder ich hol dich hier raus, ich rette dich. Das sind die Männer, die dann sich verlieben in die Frauen, die die Handynummer haben wollen, die der Frau nachstellen, die mit der dann auch privat was machen möchten, Liebeskasper werden die genannt von den Frauen. Das ist wohl sehr unangenehm auch, was dieses Stalking betrifft danach.
Dann gibt es die brutalen Männer, die auf Machtspiele aus sind, die die Frau runterdrücken möchten, die anhand der Beziehung zu der Frau sich selber aufwerten möchten, also das sind die, die die Frau wahrscheinlich auch verachten. Und dann gibt es eben die, bei denen das alles gut läuft, also die korrekt sind, die den Bezahlvorgang auch nicht leugnen, die den auch tätigen, die regelmäßig kommen, die richtiggehende, über Jahre bestehende Beziehungen zu den Frauen aufbauen – und das endet natürlich dann manchmal in Liebesbeziehungen, auch von den Frauen ausgehend. Das ist doch ganz klar, also wenn man auf die Art und Weise miteinander umgeht, das geht ja nicht immer so rein, Hose runter und rammel, sondern da gibt es ja im Escortbereich richtig lange Anlaufzeiten – mit Treffen, mit Reden, mit Essen, vielleicht auch nur reden und dann wieder gehen, und dann kommt es irgendwann zu einer sexuellen Handlung und so.
Aber da gehört ja so ein gesamtes Paket zusammen, und das sind ja auch hochintelligente Menschen, die da in diesem Beruf unterwegs sind. Also viele Studentinnen, viele sehr intelligente Frauen. Das ist auch so ein Klischee, ja – die haben vielleicht nicht so viel in der Birne und müssen das und das machen –, das Gegenteil ist der Fall. Oder eine Frau macht bei uns mit, die mit 50 Jahren zur Prostitution gekommen ist. Sie hat ihre Sexualität entdeckt in der Prostitution und lebt diesen Beruf der Prostituierten jetzt mit 60 Jahren selbstverantwortlich und sehr zufrieden. Also die hat sich quasi gerettet durch die Prostitution. Und das sind alles so Geschichten, die sind total interessant, gehen gegen jegliches Klischee, und das macht so ein Material für mich reicher.
Burkhardt: Herr Lösch, Wedekind wollte mit seinem Stück das satte Bürgertum aus seiner Lethargie herausreißen und es zwingen, Zitat, "die Welt zu sehen, wie sie ist". Ist es auch das, was Sie wollen, das satte Bürgertum aus der Lethargie reißen, und funktioniert das in Form von Provokation?
Lösch: Ein guter Theaterabend ist immer provokant, in welche Richtung auch immer. Ich glaube nicht, dass es da ein Mittel gibt dafür, wie man provoziert, aber Provokation ist für mich positiv besetzt das Wort. Provozieren heißt für mich, dass ich mich auf einer Art und Weise, die dann dem entsprechenden Team immer jeweils zuzuordnen ist, herausfordern lasse von einer Behauptung, die auf einer Bühne stattfindet, dass ich was sehe, was ich so noch nicht gesehen habe, dass ich was erfahre, was ich vielleicht so noch nicht erfahren habe, dass mich Dinge auf eine Art und Weise irritieren und vielleicht sogar dazu bringen, etwas anders zu sehen, als ich es vorher gesehen habe – also die Art von Provokation unbedingt.
Ansonsten denke ich, ist es ein sehr auch wieder zeitloses Zitat von Herrn Wedekind, weil auch das, glaube ich, wichtig ist für jeden Theaterabend, der von irgendeiner Relevanz ist. Das Bürgertum, das satte Bürgertum also würde ich mal sagen, trifft nicht zu, weil ich gehöre ja auch dazu, ich sitze ja auch im Theater und ich bin ja auf derselben Seite wie die Zuschauer und auch am selben Punkt, an dem die Zuschauer sind. Und insofern würde ich sagen, wir, die Zuschauer, wissen schon einiges und haben auch schon einiges gelesen und sind aber vielleicht doch immer wieder noch über bestimmte Sichtweisen oder Herangehensweisen an Ästhetiken oder an Themen überrascht. Also Aufklärung in dem Sinne, dass man etwas zeigt, was man so noch nie gehört hat, ist, glaube ich, nicht angesagt, zumindest nicht in großen deutschen Theaterhäusern, in denen ja ein sehr aufgeklärtes Publikum sitzt.
Aber die Verbindung von bestimmten Dingen, das Eröffnen von neuen Denklinien, das Beschreiben von anderen inhaltlichen Horizonten, ist, glaube ich, immer wieder möglich durch unterschiedlichste Verknüpfungen und Verbindungen, die man herstellt und glaube ich nicht über das Abspielen, in Anführungszeichen, auch virtuose oder gute Abspielen von Stücken, weil das letztlich dann nur noch dazu führen kann, dass man einen Stoff, den man auch nachlesen kann, dass man diesen Stoff auf eine sehr kulinarische Art und Weise aufbereitet bekommt. Aber das wäre mir zu wenig, also da fehlt was, da ist dann das Angebot zu gering. Und es ist dann auch in der Tat so, dass mich persönlich so was langweilt.
Karkowsky: Sie hörten Susanne Burkhardt im Gespräch mit dem Theaterregisseur Volker Lösch, dessen Inszenierung "Lulu – Die Nuttenrepublik" am Samstag Premiere hat in der Berliner Schaubühne.
Service: "Lulu – Die Nuttenrepublik" von Volker Lösch nach Frank Wedekind mit Texten von Berliner Sexarbeiterinnen hat am 11.12.10 Premiere. Weitere Termine finden sie auf der Webseite der Berliner Schaubühne.
Volker Lösch: Wir untersuchen jetzt einfach aufgrund der Verbindung der Biografien, Geschichten von Sexarbeiterinnen und dem, was Lulu macht, ob die Freier, die am Ende des Stückes im fünften Akt auf Lulu treffen, in ihren Verhaltensweisen, in ihren Beziehungen zu Lu so sehr viel anders sind als die Männertypen, die am Anfang auftauchen, also wie viel Prostitution steckt im Bürgertum oder in der Bürgerlichkeit.
Und andere Frage, anders herum, das ist auch sehr interessant, auch aufgrund der Geschichten, die die Frauen erzählen, wie viel Bürgerlichkeit oder wie viel bürgerliche Träume oder wie viel Sehnsucht nach Bürgerlichkeit haben denn Prostituierte. Und das durchdringt sich wechselseitig, ist bei Wedekind angelegt, und wir untersuchen es, stellen es auf den Prüfstand.
Susanne Burkhardt: Das ist ja ein von Ihnen gern gewähltes Mittel, dass sie sich einen Klassiker nehmen, eine Geschichte erzählen mit professionellen Darstellern, dass sie sich dann Betroffene oder ...
Lösch: Soziale Gruppen ...
Burkhardt: Laiengruppen, soziale Gruppen als Chor dazutun, das gab es ja bei, um nur einem Beispiel zu nennen, Gerhard Hauptmann "Die Weber". Da haben Sie das mit einem Chor von Hartz-IV-Empfängern gemacht. In "Lulu" oder "Die Nuttenrepublik", Sie haben es gerade schon angesprochen, sind es neben den Schauspielern dann auch Sexarbeiterinnen, also Frauen, die mit Sex oder mit Sexarbeit ihr Geld verdienen. Wieso ist es Ihnen so wichtig, echte Betroffene auf die Bühne zu stellen? Trauen Sie den künstlerischen Mitteln des Theaters nicht?
Lösch: Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich glaube, es gibt auch keine unechten Betroffenen, es gibt nur Betroffene, und die können erst mal aus erster Hand Geschichten erzählen. Ich lebe natürlich auch davon und mein Team lebt davon auch, dass wir am Anfang sehr viele Gespräche führen, also dass wir journalistisch arbeiten, und dass wir aufgrund dieser Gespräche ein unglaublich reichhaltiges Material zusammentragen, welches von Spezialistinnen, was Liebesbeziehungen, erotische Beziehungen, Sexbeziehungen zwischen Männern und Frauen betrifft, stammen. Es gibt keine größeren Expertinnen auf diesem Gebiet als Sexarbeiterinnen, und die können einem erst mal sehr, sehr viel dazu erzählen, können anhand ihrer Geschichten das Material gegenwärtig aufladen und können das Material, ohne es zu beschädigen, erweitern eigentlich.
Man kann das Stück natürlich so spielen, wie es da ist, aber man kann es natürlich auch anreichern, man kann es mit heutigen Assoziationen versehen, um es reicher zu machen, nicht um es schwächer zu machen, um es aufzuladen, um es ins Verhältnis zu setzen zum Heute, funktioniert der Text noch oder funktioniert er nicht. Man kann natürlich sagen, das kann ich mir auch denken dabei, ich guck zu und denk mir das Ganze selber dabei, nur die Erfahrungen, die da geschildert werden, jetzt an unserem Abend, anhand der erlebten Geschichten, sind so interessant, dass man fast einen eigenen Abend draus machen könnte. Man kann natürlich auch beide Geschichten verbinden und geht, glaube ich, dann mit einem reicheren Ergebnis raus, als wenn man es jetzt so spielt, wie es da steht.
Burkhardt: Elfriede Jelinek hat ein ähnliches Thema behandelt, also das Thema sexuelle Ausbeutung von Frauen in ihrem Stück über Tiere, und da hat sie einen Kunstgriff gewählt, indem sie Protokolle, Abhörprotokolle von der Polizei, wo es um Frauenhandel geht, um den direkten Verkauf von Frauen oder auch das Ordern von Frauen, aufgegriffen hat und in eine neue Sprache gebracht hat und das dann eine Frau erzählen lässt. Damit hat sie sich natürlich aus dem möglichen Vorwurf, voyeuristisch solche Texte darzustellen, ganz gut entzogen. Sie laufen diesem Vorwurf natürlich ziemlich oft in die Arme, oder?
Lösch: Also ein Voyeur ist ja jemand, der nicht dabei gesehen werden möchte, wenn er spannt. Das hat ja mit dem Theaterzuschauer wenig zu tun, weil ein Theaterzuschauer sitzt ja in einer Gemeinschaft und schaut in einer Gemeinschaft zu, und das Voyeuristische würde ich vielleicht dann erzeugen und könnte mir das auf den Proben auch ermöglichen, wenn ich denn nach einer sehr schlüpfrigen Art und Weise vorgehen würde, wie es dann vielleicht bestimmte Formate im Fernsehen tun oder so. Und das heißt, ich würde Dinge hören wollen oder Texte aussuchen, die so eine Art von Voyeurismus im Sinne einer Schlüpfrigkeit erfordern würden oder danach suchen würden, aber darum geht es gar nicht.
Es geht darum, dass diejenigen, die was zu erzählen haben, auf der Bühne stehen. Warum sollen die nicht auf der Bühne stehen? Das ist ein öffentliches Forum, und die haben etwas zu versenden, die haben das Bedürfnis zu reden. Wir bieten oft Gruppen auch ein Forum, die sonst keines haben. Also gerade diese Frauen haben keines. Das ist ja das Groteske, teilweise auch Perverse an der Geschichte: Die gesamte Männerwelt hält sich Teile des Lebens bei Prostituierten auf, also sind ungeheure Zahlen, wenn die denn stimmen – das ist natürlich alles nicht wirklich dokumentiert, aber es sind schon ungeheure Zahlen. Und es gibt aber keine wirkliche Akzeptanz dieser Frauen, nach wie vor nicht. Vor 100 Jahren nicht und heute nicht. Sie werden nach wie vor stigmatisiert, vor dem Geschlechtsakt und nach dem Geschlechtsakt, und während des Geschlechtsaktes oder während des Beisammenseins ist es gut, ist es okay. Es wird aber nach wie vor tabuisiert, ist ein ganz wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft, ein Kitt, der teilweise auch Sachen zusammenhält, die vielleicht so gar nicht zusammen zu erhalten sind.
Und dass diese Frauen dann auf einer Bühne stehen und Texte erzählen, die man so sonst lesen würde oder vielleicht auf irgendwelche Umwege erfahren würde, hat für mich überhaupt nichts mit Voyeurismus zu tun, es hat was im besten Falle mit Theater zu tun.
Burkhardt: Sie haben es jetzt gerade schon angesprochen, das Gewerbe der Prostituierten lebt von Diskretion, auch von Heimlichkeit, weil es gesellschaftlich natürlich nicht anerkannt ist – war es denn dann sehr schwer für Sie, diese Frauen zu finden und auch dazu zu kriegen, auf die Bühne zu gehen, sich öffentlich zu machen? Es ist ja möglicherweise auch gewerbeschädigend für sie selber, geschäftsschädigend.
Lösch: Es war sehr schwer, ja. Es ist sehr schwer und es ist auch gewerbeschädigend. Also einige haben erzählt, dass sie seitdem, da sie es auch veröffentlicht haben im Internet, keine Angebote mehr bekommen, weil Freier keine Lust dazu haben, sich dann auf eine Art und Weise benannt oder wiedererkannt zu werden, wobei wir das natürlich nicht machen, wir nehmen natürlich keine Namen von Freiern auf der Bühne, darum geht es ja gar nicht.
Aber es ist natürlich sehr schwer, und wir haben da sehr persönlich arbeiten müssen und haben uns sehr zäh auch von Kontakt zu Kontakt dann durchgefragt und Gespräche im Vorfeld geführt und haben dann auch noch die ein oder andere Frau dazugewonnen, als wir dann angefangen haben zu proben und die anderen dann erzählt haben, komm doch da auch mal hin, das ist total interessant und lass uns das machen. Aber einfach war es nicht, das ist richtig, ja.
Burkhardt: Was war denn die verblüffendste Erkenntnis, die Sie gewinnen konnten aus diesen ganzen Gesprächen, die vorab auch schon stattgefunden haben?
Lösch: Also für mich persönlich die wirklich wechselseitige Durchdringung dieser beiden scheinbar nicht zusammengehörenden Sphären Bürgerlichkeit und Prostitution. Das ist, finde ich, sehr erstaunlich. Also es war eine Ahnung da, sonst hätten wir es ja nicht so konzipiert, aber das Überraschende für mich ist, dass die Käuflichkeit von Beziehungen, von Gefühlen und von Liebe auf eine sehr deutliche Art und Weise schon in diesen Beziehungen eingeschrieben ist und dass andererseits auch unheimlich viel Nichtkäuflichkeit auch in diesem Beruf stattfindet. Da hatte ich auch so das Klischee im Kopf, also Prostituierte, das ist doch eigentlich ein sehr kalter Beruf, also man spaltet das Innere vom Äußeren ab oder wie auch immer, arbeitet dann und verdient Geld.
Aber dass es unheimlich viel auch mit Liebe zu tun hat oder mit den Zwischenbereichen zwischen Liebe und Käuflichkeit, und dass es Frauen gibt, die sehr stolz auf diesen Beruf sind, die sich sehr wohlfühlen – sind nicht die Frauen, die in der Kurfürstenstraße stehen, aber es sind zum Beispiel Frauen, die Tantramassagen machen und so, die auch immer mit einem sexuellen Abschluss enden. Das sind alles Berufe, die, glaube ich, sehr stabilisierend wirken können für eine Gesellschaft und die auch in vielen Bereichen wirklich was mit Erotik und mit Liebe zu tun haben. Und die Frauen sagen selber, wenn es so was gäbe wie eine Hochschule für Liebe und für Sexualität, müssten wir Professorenstellen haben, Professorinnenstellen haben.
Burkhardt: Das heißt, der Begriff käufliche Liebe ist nicht nur ein Klischee für die käufliche Körperlichkeit, sondern da findet wirklich eine Form von Liebesbeziehung statt?
Lösch: Ja, durchaus. Also es werden zum Beispiel von den Frauen drei Typen von Männern geschildert, mehr gibt es leider nicht ...
Burkhardt: Welche drei sind das?
Lösch: ... schon zwei mehr, als ich dachte. Ganz kurz: Die Männer, die eben sich sehr anständig verhalten, sich gut verhalten, die aber dann den Prozess der Prostitution leugnen, die also sagen, wir sind ja gar nicht im Puff und du bist doch gar keine Prostituierte, und wenn du mal eine Therapie machst, dann ist das vorbei, oder ich hol dich hier raus, ich rette dich. Das sind die Männer, die dann sich verlieben in die Frauen, die die Handynummer haben wollen, die der Frau nachstellen, die mit der dann auch privat was machen möchten, Liebeskasper werden die genannt von den Frauen. Das ist wohl sehr unangenehm auch, was dieses Stalking betrifft danach.
Dann gibt es die brutalen Männer, die auf Machtspiele aus sind, die die Frau runterdrücken möchten, die anhand der Beziehung zu der Frau sich selber aufwerten möchten, also das sind die, die die Frau wahrscheinlich auch verachten. Und dann gibt es eben die, bei denen das alles gut läuft, also die korrekt sind, die den Bezahlvorgang auch nicht leugnen, die den auch tätigen, die regelmäßig kommen, die richtiggehende, über Jahre bestehende Beziehungen zu den Frauen aufbauen – und das endet natürlich dann manchmal in Liebesbeziehungen, auch von den Frauen ausgehend. Das ist doch ganz klar, also wenn man auf die Art und Weise miteinander umgeht, das geht ja nicht immer so rein, Hose runter und rammel, sondern da gibt es ja im Escortbereich richtig lange Anlaufzeiten – mit Treffen, mit Reden, mit Essen, vielleicht auch nur reden und dann wieder gehen, und dann kommt es irgendwann zu einer sexuellen Handlung und so.
Aber da gehört ja so ein gesamtes Paket zusammen, und das sind ja auch hochintelligente Menschen, die da in diesem Beruf unterwegs sind. Also viele Studentinnen, viele sehr intelligente Frauen. Das ist auch so ein Klischee, ja – die haben vielleicht nicht so viel in der Birne und müssen das und das machen –, das Gegenteil ist der Fall. Oder eine Frau macht bei uns mit, die mit 50 Jahren zur Prostitution gekommen ist. Sie hat ihre Sexualität entdeckt in der Prostitution und lebt diesen Beruf der Prostituierten jetzt mit 60 Jahren selbstverantwortlich und sehr zufrieden. Also die hat sich quasi gerettet durch die Prostitution. Und das sind alles so Geschichten, die sind total interessant, gehen gegen jegliches Klischee, und das macht so ein Material für mich reicher.
Burkhardt: Herr Lösch, Wedekind wollte mit seinem Stück das satte Bürgertum aus seiner Lethargie herausreißen und es zwingen, Zitat, "die Welt zu sehen, wie sie ist". Ist es auch das, was Sie wollen, das satte Bürgertum aus der Lethargie reißen, und funktioniert das in Form von Provokation?
Lösch: Ein guter Theaterabend ist immer provokant, in welche Richtung auch immer. Ich glaube nicht, dass es da ein Mittel gibt dafür, wie man provoziert, aber Provokation ist für mich positiv besetzt das Wort. Provozieren heißt für mich, dass ich mich auf einer Art und Weise, die dann dem entsprechenden Team immer jeweils zuzuordnen ist, herausfordern lasse von einer Behauptung, die auf einer Bühne stattfindet, dass ich was sehe, was ich so noch nicht gesehen habe, dass ich was erfahre, was ich vielleicht so noch nicht erfahren habe, dass mich Dinge auf eine Art und Weise irritieren und vielleicht sogar dazu bringen, etwas anders zu sehen, als ich es vorher gesehen habe – also die Art von Provokation unbedingt.
Ansonsten denke ich, ist es ein sehr auch wieder zeitloses Zitat von Herrn Wedekind, weil auch das, glaube ich, wichtig ist für jeden Theaterabend, der von irgendeiner Relevanz ist. Das Bürgertum, das satte Bürgertum also würde ich mal sagen, trifft nicht zu, weil ich gehöre ja auch dazu, ich sitze ja auch im Theater und ich bin ja auf derselben Seite wie die Zuschauer und auch am selben Punkt, an dem die Zuschauer sind. Und insofern würde ich sagen, wir, die Zuschauer, wissen schon einiges und haben auch schon einiges gelesen und sind aber vielleicht doch immer wieder noch über bestimmte Sichtweisen oder Herangehensweisen an Ästhetiken oder an Themen überrascht. Also Aufklärung in dem Sinne, dass man etwas zeigt, was man so noch nie gehört hat, ist, glaube ich, nicht angesagt, zumindest nicht in großen deutschen Theaterhäusern, in denen ja ein sehr aufgeklärtes Publikum sitzt.
Aber die Verbindung von bestimmten Dingen, das Eröffnen von neuen Denklinien, das Beschreiben von anderen inhaltlichen Horizonten, ist, glaube ich, immer wieder möglich durch unterschiedlichste Verknüpfungen und Verbindungen, die man herstellt und glaube ich nicht über das Abspielen, in Anführungszeichen, auch virtuose oder gute Abspielen von Stücken, weil das letztlich dann nur noch dazu führen kann, dass man einen Stoff, den man auch nachlesen kann, dass man diesen Stoff auf eine sehr kulinarische Art und Weise aufbereitet bekommt. Aber das wäre mir zu wenig, also da fehlt was, da ist dann das Angebot zu gering. Und es ist dann auch in der Tat so, dass mich persönlich so was langweilt.
Karkowsky: Sie hörten Susanne Burkhardt im Gespräch mit dem Theaterregisseur Volker Lösch, dessen Inszenierung "Lulu – Die Nuttenrepublik" am Samstag Premiere hat in der Berliner Schaubühne.
Service: "Lulu – Die Nuttenrepublik" von Volker Lösch nach Frank Wedekind mit Texten von Berliner Sexarbeiterinnen hat am 11.12.10 Premiere. Weitere Termine finden sie auf der Webseite der Berliner Schaubühne.