Autor: Frank Drescher
Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Frank Merfort
Technik: Martin Eichberg
Sprecher und Sprecherin: Monika Oschek, Ulrich Lipka und der Autor
Produktion Deutschlandfunk Kultur 2018
Die Vermessung der Aufmerksamkeit
29:54 Minuten
Was bleibt beim Verbraucher hängen, wenn ihn täglich Tausende Werbebotschaften erreichen? Und wann veranlasst ihn das auch wirklich zum Kauf? Ein Besuch bei Wissenschaftlern und Werbetreibenden - und ein Selbstversuch.
Mein Name ist Frank Drescher, 45 Jahre alt, Reporter aus Berlin. Worüber ich staune? Über das, was die Werbeindustrie so alles weiß. Über mich, über Sie und weitere 78 Millionen Deutsche ab sechs Jahren aufwärts. Deren Aufmerksamkeit will sie erregen, messen und verkaufen. Wie stellt sie das an? Dazu ein Selbstversuch.
Morgens, kurz vor sieben. Ich lasse mich vom Radio wecken. 78,1 Prozent aller Deutschen schalten täglich ein. Ich höre heute mal fremd. Denn bei Deutschlandfunk Kultur läuft ja keine Werbung und das wäre schlecht für meinen Selbstversuch. 10.000 Werbebotschaften erreichen den Durchschnittskonsumenten angeblich jeden Tag. Steht sogar im Fachblatt "Absatzwirtschaft". Das will ich überprüfen.
Zehn Werbespots in zweieinhalb Minuten. Vier Werbepausen bekomme ich einschließlich Autoradio morgens mit: Macht schon mal 40 Werbebotschaften.
Meine Joggingrunde. Sie führt an einer Litfaßsäule vorbei, da kleben heute sieben Plakate dran. Außerdem komme ich an fünf großen Plakatwerbeflächen vorbei. Und an einer Buswartehalle. Macht weitere 13 Kontakte mit Werbung.
Strenggenommen 15. "Für die Zigarette danach", kalauert es mir vom leuchtend orangenen Müllbehälter der Berliner Stadtreinigung entgegen. Und die Berliner Verkehrsbetriebe werben seit einiger Zeit für sich mit dem Slogan "Weil wir Dich lieben".
Am Kiosk sehe ich Werbung für fünf verschiedene Prepaid-Anbieter, einen Paketdienst, drei staatliche Glücksspiele und die Schlagzeilen-Aufsteller von fünf Zeitungen und Zeitschriften draußen. Innen drin, am Zeitungskarussell oben, ist auch noch einmal Reklame einer Tageszeitung angebracht. Macht noch mal 15 Werbekontakte.
10.000 Werbebotschaften pro Tag?
Meine Tageszeitung, die ich wie 41 Millionen Deutsche noch gedruckt lese, enthält heute 23 Anzeigen, darunter auch Kleinanzeigen mit Bild.
Macht zusammen: 93 Werbekontakte in den ersten zwei Stunden des Tages. Wenn das so weitergeht, werde ich bis zum Schlafengehen auf nicht einmal 1000 Werbebotschaften kommen – und nie im Leben auf die 10.000, von denen so viel die Rede ist.
"Sie haben vollkommen recht: Wenn Sie die Kontakte zusammenrechnen, werden es mehr als 100 Kontakte sein. Aber es gibt keine belastbaren Zahlen, wie viele Werbekontakte es tagtäglich gibt."
Tino Meitz von der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Er lehrt Kommunikationspsychologie an der Uni Jena.
"Dazu muss man auch sagen: Solche Zahlen werden natürlich gern in die Welt gesetzt, um der Branche ein gewisses Gewicht zu verleihen. Ich glaube, der Mythos besteht darin, dass man kultivieren möchte, dass wir in einem Aufmerksamkeitswettbewerb stehen. Diese Zahlen sind allerdings aus dem Bauch heraus schon zu hinterfragen. Wenn man seinen eigenen Fernsehkonsum sieht, dann liegen wir, je nachdem, welche Altersklasse Sie sind, bei 210, 220 Minuten. Wenn man sich dann vergegenwärtigt, wie hoch ist der Anteil an Werbung innerhalb dieses Programms, dann kommt man allein da schon nicht ran an die Bruttozahlen, die solche Werbekontakte zulassen würden."
Und wenn es auch nur ein paar hundert Werbebotschaften sind: Es sind definitiv mehr, als unsere Gehirne verarbeiten können. Deswegen arbeitet Werbung mit vielerlei Aufmerksamkeitserregern. Und um die ranken sich auch wieder Mythen. Zum Beispiel:
"Sex sells", heißt es. Ob das auch in Zeiten der MeToo-Debatte noch stimmt, lässt sich mit einer sogenannten Blickverlaufsmessung erforschen. Die Probanden einer solchen Untersuchung bekommen Werbemotive gezeigt. Ein Messgerät protokolliert dabei, worauf sich die Pupillen der Probanden richten.
"Generell ist es immer noch so, also, wenn man irgendwie ein Plakat hat, wo Brüste drauf abgebildet sind, dann geht der Blickverlauf dahin, ganz klar. Da haben wir letztens noch einen kleinen Test gemacht."
Linda Rheinfelder, "Group Head Consumer Analytics" bei Mediacom, einer der größten Media-Agenturen der Welt.
Pepsis PR-Desaster und die Sprüche der Stadtreinigung
Lange bevor in einer Werbung nackte Haut zu sehen ist, beschäftigt sich die Marktforschung mit dem Produkt und seinen möglichen Käufern. Wollte ich zum Beispiel ein Deo auf den Markt bringen, sollte ich wissen: Wächst der Deo-Markt oder schrumpft er? Welche Konkurrenten habe ich? Und sind die eher teuer oder billig? Wenn ich das alles weiß, stellt sich die Frage, wer mein Deo kaufen könnte: Männer oder Frauen? Ältere oder Jüngere? Und wieviel Geld werden die vermutlich dafür ausgeben?
Antworten liefern Meinungsumfragen. Aber die muss man als Werbender auch richtig deuten. Denn sonst wird es peinlich:
"Eine Pepsi-Dose wird geöffnet. Auf einem Hochhausdach spielt ein junger Asiate Kontrabass. Schnitt auf eine Menge demonstrierender Zwanzigjähriger. Auf ihren Schildern stehen Losungen wie 'Love' und 'Join the conversation'. Schnitt auf eine junge Fotografin mit Nasenpiercing, Jeansjacke und Kopftuch im Atelier, neben ihr eine offene Dose Pepsi. Schnitt auf US-Reality-Star Kendall Jenner beim Foto-Shooting. Der Anblick der Demonstranten fasziniert sie. Der Kontrabass-Mann vom Dach schließt sich der Demo an. Die Fotografin auch. Junge Schwarze tanzen Breakdance, junge Weiße packen Gitarren aus und spielen, der Kontrabass-Mann auch. Er blickt Kendall Jenner tief in die Augen. Sie reißt sich die blonde Perücke vom Kopf, wischt den Lippenstift ab und läuft auch auf die Demo. Schnitt auf eine Reihe grimmig blickender Polizisten. Schnitt auf fröhliche Transgender-Personen, Schnitt auf eine weiße Frau zwischen zwei schwarzen Männern. Kendall Jenner bringt einem der Polizisten eine Dose Pepsi. Gespannte Stille. Dann lächelt der Polizist, nimmt die Pepsi-Dose und trinkt. Dann die Schrift: Live Bolder. Live Louder. Live for Now. Schlussbild: Ein animiertes Pepsi-Logo."
Sofort ergießen sich Häme und Kritik aus den sozialen Netzwerken über den Clip – die Anbiederung an den Zeitgeist störte viele. Und die einfältige Geschichte:
"Das haben wir in Baltimore auch probiert. Aber es änderte nichts", kommentierte ein Twitter-User und schickte dazu ein Foto, auf dem ein schwarzes Kind weißen Polizisten in Kampfmontur etwas zu trinken anbietet, aber die zeigen sich ablehnend.
Die nächsten entdeckten in dem Clip eine problematische Aussage: So sehr Menschen aller Hautfarben auch demonstrieren, erst der Auftritt einer reichen weißen Frau sorge für Frieden. Nach nur einem Tag nahm Pepsi das Video aus seinen Social-Media-Profilen und erklärte:
"Pepsi versuchte, eine globale Botschaft von Einheit, Frieden und Verständigung zu vermitteln. Dieses Ziel haben wir klar verfehlt, und wir bitten um Entschuldigung. Es war nicht unsere Absicht, irgendeine ernsthafte Angelegenheit zu verharmlosen."
Was Pepsis PR-Desaster mit falsch verstandener Marktforschung zu tun hat? Es gibt Untersuchungen, denen zufolge ein Fünftel bis die Hälfte aller "Millennials", also der zwischen 1980 und 2000 Geborenen, sich selbst als Aktivisten sieht, für was auch immer. Gut möglich also, dass Pepsi durch solche Erkenntnisse auf die Idee mit der Demonstration, für was auch immer, in seinem Clip gekommen ist.
Nun ist Pepsi nicht das einzige Großunternehmen, das sich mit seiner Werbung blamiert hat. Offenbar gar nicht so einfach, deren Wirkung zu kalkulieren.
Was mag die Berliner Stadtreinigung zum Thema wissen? Welches Kalkül steckt hinter den lustigen Sprüchen auf den Mülleimern? Ich rufe da mal an:
"Wenn sich die Leute schon freuen, was sie auf dem nächsten Papierkorb wieder sehen für einen Spruch, dann motiviert das auch, mal näher dranzugehen, und wenn man schon da steht, dann tut man sein Bonbonpapier auch da rein."
Immerhin: Die Sprecherin kann mir eine Kampagne nennen, die wie geplant funktioniert habe. Biomülltrennung habe sich innerhalb von zehn Jahren um 40 Prozent erhöht.
Was sagt das "Handbuch Werbeforschung"?
Ich will es genauer wissen und begebe mich in die Uni-Bibliothek. Ich will wissen: Was lernen angehende Werbeleute über die Wirkung von Werbung? Das Standard-Werk "Handbuch Werbeforschung" nennt mir eine Vielzahl von Theorien für die Wirkung von Werbung.
Ein neues Deo wird mir sympathisch, wenn ein mir sympathischer Prominenter es präsentiert, sagt die evaluative Konditionierung. Moment, da klingelt was: evaluative Konditionierung? War wohl der Herr Pawlow, der an dieser Stelle schöne Grüße ausrichtet.
Eine andere Theorie: Das neue Deo wird mir sympathisch, wenn ich es immer wieder und wieder gezeigt bekomme. Das besagt der sogenannte "Mere-Exposure-Effect". Der soll auch dann eintreten, wenn ich mich an die Deo-Werbung später weder erinnere, noch das Deo selbst wiedererkenne – sollen Experimente gezeigt haben.
Schlauer bin ich durch das Handbuch nicht geworden, im Gegenteil: Ich bin verwirrt. Darum frage ich lieber einen Experten.
Zu Gast beim Medienpsychologen
"Was man dabei erklären muss: Es gibt keinen ganzheitlichen Werbewirkungsansatz."
Oha, kein ganzheitlicher Ansatz? Tino Meitz, Medienpsychologe von der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.
"Die meisten ernstzunehmenden wissenschaftlichen Modelle in der Werbewirkungsforschung fokussieren auf ganz unterschiedliche Prozesse. Das eine sind emotionale Prozesse. Es geht um Affekte, die Werbung auslösen kann. Andere Menschen beschäftigen sich in der Wissenschaft mit der Wirkung von kognitiven Prozessen, also: Werden Einstellungen verändert, werden Verhaltensweisen beeinflusst dadurch? Und all diese Prozesse haben ihre Berechtigung, und vor allen Dingen, das ist das Dilemma, man kann sie nicht in einem Prozess messen, sondern man muss es halt parzellieren, zerlegen und muss sich konzentrieren."
In der Werbe-Zentrale
In einem kernsanierten mehrstöckigen Industriegebäude hat Mediacoms Deutschland-Zentrale ihren Sitz. Früher baute Rheinmetall hier Panzer zusammen. Jetzt sieht es hier wie in einem Start-up aus: weitläufige, tageslicht-durchströmte Büroetagen, helle Hölzer und gläserne Wände. Dazwischen smarte, junge Menschen, im Schnitt um die 30, schätze ich. Viele haben Abschlüsse in BWL, Soziologie, Psychologie. Sie kennen sich aus mit Zahlen, Statistik und IT.
15 Milliarden Euro gab die deutsche Wirtschaft 2017 für die Platzierung von Anzeigen, Werbespots und Plakaten aus. Die deutsche Mediacom-Niederlassung kanalisiert davon gut ein Fünftel, knapp vier Milliarden.
"Ein Bruchteil von den vier Milliarden liegt dann auf meinem Tisch."
Das ist Wiebke Utzig. Sie ist Consultant und berät Unternehmen, wo sie ihre Werbung schalten sollen.
"Aktuell buchen wir ja noch sehr viel Print. Ja, ich glaube, das sind einfach bewährte Medien, um die immer noch kein Weg herumführt. Beispielsweise, wenn es jetzt um aktuelle Informationen geht oder auch Angebote, die irgendwie kurzfristig beworben werden sollen, ist eine Tageszeitung immer noch ein bewährtes Medium."
Allein in den letzten fünf Jahren haben Tageszeitungen ein Fünftel ihrer Werbeeinnahmen eingebüßt. Trotzdem sind sie immer noch Deutschlands zweitwichtigster Werbeträger, nach dem Fernsehen, so Zahlen des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW). Denn gleichzeitig lesen auch immer weniger Menschen eine Tageszeitung. Radio übrigens ist als Werbeträger weit abgeschlagen, auf Platz neun.
Wiebke Utzig weiß, wer wie welches Medium nutzt. Auf dem Bildschirm vor ihr ist ein Programm offen, in dem die Daten aus vielen Meinungsumfragen zusammenlaufen. Mal sehen, was sie über Menschen wie mich so in den Datenbanken hat.
Aber je mehr meiner Persönlichkeitsmerkmale Wiebke Utzig in ihre Software eingibt, umso weniger Informationen haben die Datenbanken über Menschen wie mich. Wollte sie eine Kampagne für ein Deo planen, das für mich interessant wäre, erfährt sie: 68 Prozent der Männer über 40 verwenden täglich eins. Wie das aber bei Journalisten aus Berlin im Alter von 45 aussieht, dazu weiß die Marktforschung nichts. Denn es gibt einfach zu wenige 45-jährige Berliner Journalisten, über die es repräsentative Daten gibt.
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Zurück in meinem Büro. Wenn ich ins Internet gehe, will die Werbeindustrie mich auch hier so gezielt wie möglich ansprechen. Wenn ich auf spiegel.de, faz.net oder sueddeutsche.de gehe, versteigern die Nachrichtenportale in Sekundenbruchteilen meine Aufmerksamkeit.
Je länger ich im Internet unterwegs bin, umso detailliertere Informationen halten die Cookie-Dateien in meinem Browser über mich bereit. Und umso wertvoller werde ich für die Nachrichtenseite. Kulturpessimisten reden in dem Zusammenhang sogar schon von "Überwachungskapitalismus". Dem kann ich mich aber ganz einfach entziehen: Ich habe meinen Browser so eingestellt, dass er die Cookie-Daten jedes Mal löscht, wenn ich ihn schließe. Surfe ich jetzt auf die Nachrichtenseite, bin ich jedes Mal aufs Neue ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Was sagen Sie dazu, Herr Seidl?
"Da würde man jetzt kein konkretes Werbemittel ausspielen, wo man vielleicht da noch mal konkret aufruft mit einem bestimmten Preis oder da noch mal eine Erinnerung schickt mit einem bestimmten Produkt."
Ich bekomme stinknormale Werbung, die einfach nur ein Produkt bekannt machen will und sich nicht um meine sonstigen Interessen schert.
Das, was Sie da gerade hören, sind die platzenden Träume der Werbewirtschaft mit Online. Zwar ist das Internet inzwischen viertwichtigster Werbeträger Deutschlands, auf den ein Zehntel der hiesigen Werbebuchungen entfällt. Aber auf dem Weg dorthin verflog die naive Hoffnung, das Internet würde potenzielle Kunden zielgerichtet und ohne Streuverluste erreichen.
Wirkt Reklame noch?
Wenn es ums Bekanntmachen von Marken geht, ganz bestimmt. Wenn ich mich in meinem Haushalt so umsehe, dann gibt es schon ein paar Produkte, bei denen Werbung eine Rolle gespielt haben könnte. Die grünen Äpfel etwa, die ich immer zum Frühstück esse: Wer weiß, welchen Anteil daran die Reklame der Zahnpasta-Marke hat, die ich ansonsten noch nie benutzt habe?
(Auszüge aus dem Manuskript)