„Ich nenne das im Buch, dass die NS-Verbrechen – und speziell die Judenvernichtung – für mich so etwas wie eine zweite Haut waren, also ein Vorzeichen, so wie Dur und Moll und Plus und Minus. Etwas, das sozusagen einfach vor allem anderen, allen anderen politischen Prägungen da war und was auch immer mitgegangen ist und was mir bis heute sehr, sehr nah ist.“
Erinnerungskultur
Schuhe von Opfern der Shoah im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz. Wie ist der Holocaust zu sehen in Bezug auf andere Verbrechen wie die Kolonisation? © imago / Panthermedia / NomadSoul
Kosmopolitische Wende im Blick auf den Holocaust
12:17 Minuten
Im neuen Buch der Auslandskorrespondentin Charlotte Wiedemann geht es um Erinnerungskultur und die Frage danach, welche Opfer weltweit wie viel Empathie bekommen. Eine spezifisch deutsche Art, mit dem Holocaust umzugehen, sei da nicht mehr zeitgemäß.
Mitgefühl und Empathie – das klingt erst einmal nach einer individuellen Emotion. Wir fühlen oft mehr mit Personen mit, die uns selbst ähneln, in die wir uns leichter hineinversetzen können. Doch Empathie hat auch eine gesellschaftliche Dimension, die unsere Erinnerungskultur prägt und damit auch politische Entscheidungen.
In ihrem neuen Buch „Den Schmerz der anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ gehe es in erster Linie um Erinnerungskultur, sagt die Journalistin und Autorin Charlotte Wiedemann. Denn die sei immer auch Teil von Machtverteilung und durch sie ziehe sich „auch so etwas wie ein globales Machtgefüge“.
Auslöser für das Buch sei gewesen, dass sie in der Debatte über die Vergleichbarkeit des Holocaust zu viele schrille und auch unangemessene Töne entdeckte. Und dass sie etwas schreiben wollte, „was behutsam ist und eine Einladung ist, über bestimmte Dinge vielleicht mal anders nachzudenken“.
Was ihr Buch vielleicht von einigen anderen unterscheide: „Dass ich erst einmal von der Seite des Nationalsozialismus her auch auf andere Verbrechen wie koloniale blicke“, so Wiedemann.
Menschenrechte galten nicht für Kolonisierte
Durch ihre Reisen als Auslandskorrespondentin sei eine zweite Schicht dazu gekommen: die nichteuropäischen, die außereuropäischen Erfahrungen, erklärt Wiedemann. In Mali beispielsweise hab sie sich damit beschäftigt, wie Menschen auf das Sterben in eigenem Land blicken und wie sich ihr Blick vom westlichen unterscheidet, „der in der Regel die Toten, die durch Dschihadismus, islamischen Terrorismus verursacht werden, sozusagen als die wichtigsten ansieht“. Dass es hier eine Art von Skalierung oder Klassierung von Schmerz gebe, die in Mali so nicht mitvollzogen werde.
Durch die Kriegsberichterstattung der letzten Jahrzehnte seien wir fast ein wenig darauf konditioniert, „dass es unterschiedliche Klassen von Toten gibt: dass es wichtigere und weniger wichtige gibt, strategisch wichtige Tote und ganz unstrategische Tote“, sagt sie.
Wenn wir aber „so etwas wollen wie eine inklusive Erinnerungskultur – und das ist mein Anliegen – dann müssen wir diese Art von Skalierungen von Toten radikal zurückweisen“, mahnt Charlotte Wiedemann.
Das Buch zeigt anhand schockierender Beispiele auch eine spezielle Gleichzeitigkeit von Ereignissen. Etwa, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs fast zeitgleich zu den Nürnberger Prozessen, die sich auf die universellen Menschenrechte berufen haben, in ihren Kolonien Verbrechen begingen, die zeigen: Für die kolonisierte Bevölkerung galten diese Menschenrechte nicht.
Als zum Beispiel in Amsterdam die erste Ausgabe der „Tagebücher der Anne Frank“ erschien – das hieß damals noch nicht „Tagebuch“, das hieß „Das Hinterhaus“ – zur gleichen Zeit haben holländische, niederländische Soldaten in der Kolonie Indonesien Massenexekution begangen, die den Kindern ganzer Dörfer die Väter genommen haben.
Sie frage sich, so die Journalistin: Wer hat in Europa damals um diese Kinder geweint, die in Indonesien sterben mussten, weil die Niederlande es nicht akzeptieren konnte, dass die Kolonie frei und unabhängig sein wollte?“
Allmählich nähmen Länder wie die Niederlande diesen Teil ihrer Vergangenheit in ihre Gedenkkultur auf. Momentan gebe es etwa in Amsterdam eine Ausstellung, wo – zunächst noch sehr vorsichtig – die niederländischen Kolonialverbrechen der damaligen Zeit Thema sind. „Aber alles geschieht eigentlich immer nur auf das sehr hartnäckige Drängen von Menschen aus diesen Ländern.“ Auch dass Entschuldigungen vor Gericht eingeklagt werden müssten, gehöre leider dazu, sagt Charlotte Wiedemann.
Die Ökonomie der Empathie
Dabei sei eine Entschuldigung immens wichtig, besonders wenn Leid über viele Jahrzehnte nicht anerkannt worden war.
Erinnerung ist immer auch Respekt und nicht erinnern und sich nicht entschuldigen, ist verweigerter Respekt und verweigertes Lebensrecht.
Im Moment sei sehr genau zu sehen, wie die Ökonomie der Empathie funktioniert. Die Willkommenskultur für die Geflüchteten aus der Ukraine finde sie sehr schön, so Wiedemann. „Aber zugleich haben wir die Situation, dass zum Beispiel an der polnisch-belarussischen Grenze weiterhin eine unglaublich kleine Zahl von Geflüchteten brutal und hartnäckig zurückgewiesen und zurückgepusht wird.“
Wir seien in der Lage, eine große Zahl von Geflüchteten aufzunehmen, in dem Augenblick, in dem sie politisch so bezeichnet würden, dass sie zu uns gehören, dass sie das Recht haben, zu uns zu kommen. „Andererseits werden viel, viel kleinere Zahlen von Geflüchteten regelmäßig eben als nicht zugehörig, als fremd und ohne Zugangsrecht zu uns bezeichnet.“
Seenotrettung als Erinnerungskultur
Auch hier sieht sie eine Verbindung zur Erinnerungskultur.
Ich glaube, wir haben eben längst nicht mehr nur eine Erinnerungskultur, wir haben mehrere.
Für sie sei die Seenotrettung von Flüchtlingen, die auf dem Mittelmeer zu ertrinken drohen – diese Seenotrettung durch private Menschen, private Initiativen, sei für sie auch eine Form von Erinnerungskultur, erklärt Charlotte Wiedemann. „Denn was wäre eine bessere Konsequenz aus der Shoah, als dass wir heute versuchen, Leben das als überflüssig erachtet wird, als nicht maßgeblich, dieses Leben zu retten?“
Was es in Bezug auf die Erinnerungskultur braucht, könne uns zum Beispiel die Klimakrise zeigen: Denn sie lehre uns, „planetarisch“ zu denken in Bezug auf Rechte und Lebensmöglichkeiten. Und das gelte im Grunde auch für die für die Erinnerungskultur, so die Journalistin.
Zum einen müsse das Recht aller Menschen auf Unversehrtheit anerkannt werden. Dann hätten „auch alle Erzählungen, die von den großen Versehrungen handeln, die sich Menschen zugefügt haben, das gleiche Recht, gehört zu werden, und Respekt zu erfahren.“
Da sei die deutsche Art nicht zeitgemäß, stellt Wiedemann fest. „Ich denke, wir müssen tatsächlich eine kosmopolitische Wende schaffen, in der Weise, wie wir auf Holocaust und auf Nationalsozialismus blicken.“