Alte Bahnstrecken, neue Möglichkeiten
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In Mecklenburg-Vorpommern träumt mancher davon, stillgelegte Bahnstrecken wiederzubeleben. Das Verkehrsministerium baut das Schienennetz stetig aus. Doch wie nachgefragt werden Strecken sein, auf denen vor ein paar Jahren leere Geisterzüge fuhren?
"Jetzt gehen wir auf dem alten Bahndamm, der ursprünglich mal zur Insel Usedom führte."
Unterwegs im Anklamer Stadtwald, auf einem zwei Meter breiten, auffällig erhöhten Waldweg. Vom Geschrei Hunderter Kormorane und Lachmöwen begleitet, spazieren Wilfried Lebrenz und Günter Hasselmann Richtung Karniner Brücke am Peenestrom. Davon, dass hier bis 1945 Gleise lagen, ist nichts zu sehen.
"Die Strecke Berlin – Stralsund: Da ist die Abzweigung in Ducherow und führt dann über mehrere Kilometer bis zur Karniner Brücke – ursprünglich der Übergang über den Peenestrom. Und auf der anderen Seite liegt dann die Insel Usedom."
Von der erst 1933 errichteten und 360 Meter langen Eisenbahnbrücke ist seit 75 Jahren nur noch ein mächtiger stählerner Solitär übrig. Der Hubteil steht verbindungslos mitten im Strom – denn, so Wilfried Lebrenz:
"Die Bahngleise wurden 1945 demontiert im Rahmen der Reparationsforderungen der Sowjetunion, weil die Strecke ja eh unterbrochen war, durch die Sprengung der Brücke. Die Brücke wurde in den letzten Kriegstagen von den Deutschen selbst gesprengt, um den Russen den weiteren Vormarsch auf die Insel Usedom zu verhindern. Lokalpolitiker und ein Verein träumen davon, diese Strecke als Usedom-Anbindung wieder in Betrieb zu nehmen. Ich glaube aber nicht, dass das irgendjemand macht, weil sich das wirtschaftlich nicht darstellen lässt. Im Sommer zwei, drei Monate: In der Saison könnte man das vielleicht irgendwo darstellen. Aber die restliche Jahreszeit eben nicht."
Die Bahn würde Usedom vom Autoverkehr entlasten
Christian Pegel sieht das anders. Er sorgte als Verkehrsminister von Mecklenburg-Vorpommern mit dafür, dass sich im gerade verabschiedeten Landeshaushalt für 2020/21 ein Posten über 2,8 Millionen Euro zum Stichwort Karniner Brücke findet. Für den SPD-Politiker ist es sinnvoll, die Karniner Strecke wieder aufleben zu lassen, auf der einst die Berliner in unschlagbaren zwei Stunden zur Insel Usedom reisen konnten – oder zurück nach Berlin.
Segensreich wäre vor allem die Entlastung der Ostseeinsel von dem Autoverkehr, in dem sie mittlerweile fast ersticke, sagt Minister Pegel. Wenn also die Länder das nächste Mal große Projekte für den Bundesverkehrswegeplan anmelden können, wolle Mecklenburg-Vorpommern wieder versuchen, die Karniner Brücke zu platzieren. Und dieses Mal mit einer fundierten Voruntersuchung in der Hinterhand.
Sinnvoll und technisch machbar
"Weil es in den letzten 30 Jahren total schwer war zu argumentieren, dass es erstens finanziell jetzt auch keinen umbringt, es zu tun. Zweitens total sinnvoll ist. Und drittens technisch machbar ist. Deswegen haben wir uns entschieden, mit landeseigenem Geld die beginnende Planung anzufangen. Da verhandeln wir gerade mit der Deutschen Bahn AG, damit es ihren Standards entspricht, denn am Ende muss es ja zu einem Eisenbahnnetz passen –, indem man einmal ermittelt: Was ist da noch? Kann man das einsetzen? Muss man neu bauen? Und was sind in etwa die Kosten, die man anpeilen müsste", sagt der Minister.
Deutlich weiter ist man da auf der Ostseehalbinsel Fischland-Darß-Zingst.
"Wir freuen uns. Wir haben ja seit ganz vielen Jahren, seit 2003, an dem Thema gearbeitet. Und jetzt gehts los", sagt Jürgen Bosse von der Usedomer Bäderbahn über den Beschluss der Landesregierung vom 18. August 2020, den Ministerpräsidentin Manuela Schwesig noch am selben Tag auf der vorpommerschen Halbinsel verkündete.
"Die Darßbahn kommt! Gemeinsam, wir als Land und auch mit dem Bund und der Unterstützung zum Beispiel von Frau Merkel können wir die Darßbahn jetzt realisieren. 115 Millionen Euro, die wir hier investieren, damit Bürgerinnen und Bürger ÖPNV besser nutzen können, aber auch die Touristen."
Mammutprojekt der 20er-Jahre
1910 wurden Festland und Halbinsel per Schiene miteinander verbunden. Die Kleinstadt Barth am westlichen Ende, das Ostseebad Prerow am östlichen. Auch hier ging nach 1945 ein Großteil der Schienen, Weichen und Stellwerksanlagen in die Sowjetunion. Der Rest wird teilweise seit 60 Jahren nicht mehr genutzt. "Die Darßbahn wird ein Mammutprojekt der 20er-Jahre sein", sagt Verkehrsminister Christian Pegel mit Blick auf das sehr komplexe Baugeschehen, wozu auch eine neue Brücke über den Meiningenstrom gehört.
"Ich brauche also von der Festlandseite auf die Halbinsel eine neue Klappbrücke, auf der Schiene und Straße nebeneinander liegen. Das ist ein Projekt, das zwischen 50 und 60 Millionen Euro kosten wird und was mehrere Jahre Planungsvorlauf braucht, weil wir hier mitten in einem sensiblen Naturschutzbereich sind. Ich gehe aber davon aus, dass wir in der ersten Hälfte der 20er-Jahre zumindest bis zum Meiningenstrom auch schon Stück für Stück die alten Strecken reaktivieren können."
Das freut nicht jeden Einheimischen. Die Strecke führt quer durch ein Barther Wohnviertel, durchschneidet die Gemeinde Pruchten, bringt vielen Orten neben der viel befahrenen Straße eine zweite unruhige Achse. Und dann sind da die Eingriffe in das Hochmoor des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. All das für einen womöglich unrentablen Bahnbetrieb, den der Steuerzahler wie üblich bezuschussen muss?
Mehr Fahrgäste auf die Schiene holen
Jürgen Bosse kennt die Skepsis, schüttelt aber den Kopf. Der Geschäftsführer der Usedomer Bäderbahn GmbH weiß, wie Bahnbetrieb auf einer schmalen Tourismusinsel geht. Er glaubt, auch die Darßbahn vernünftig bauen und wirtschaftlich betreiben zu können.
"Also wir gehen davon aus, dass es sich ähnlich verhalten wird wie auf Usedom. Wir haben ähnliche Voraussetzungen. Man kann die Bäder Prerow und Zingst vergleichen im Aufkommen mit den drei Kaiserbädern. Da wissen wir also, worum es geht, und wir rechnen schon damit, dass wir deutlich über eine Million zusätzliche Fahrgäste auf die Schiene holen."
Auf das Geräusch von Bahndurchsagen muss Rainer Raeschke seit sechs Jahren verzichten, jedenfalls auf einem guten Teil der Mecklenburgischen Südbahn, die einst über 117 Schienenkilometer hinweg von Hagenow nach Neustrelitz führte.
"Ich komme aus der Gemeinde Granzin, bin Gemeindevertreter und bin von Bürgern insbesondere aus Lübz angesprochen worden, ob ich dort nicht mitmachen wollen würde in der Bürgerinitiative. Es waren vor allem ältere Leute, die Mobilität haben wollten, die ihnen oder uns allen jetzt genommen worden ist. Das kann man einfach so sagen."
Strecke mittendrin gekappt
Die mecklenburgische Südbahn wurde 1883 als eine von nur zwei Ost-West-Achsen errichtet, mit Bahnhöfen in Parchim, Plau am See, Malchow, Waren an der Müritz. Zu DDR-Zeiten viel genutzt, ließen Abwanderung und Umstieg auf den eigenen PKW die Fahrgastzahlen nach der Wiedervereinigung rapide sinken. 2012, als immer häufiger leere Geisterzüge durchs Land fuhren, kündigte das Landesverkehrsministerium an, seine Bestellungen von Bahnverkehr auf der Südbahn deutlich zurückzufahren.
"Es ist sukzessive abgeknapst worden. Also die Streckenführung von Waren nach Neustrelitz ist aus dem Takt rausgenommen worden. Dadurch ist eine Stunde Wartezeit. In unserem Territorium ist die Strecke mittendrin gekappt worden zwischen Parchim und Malchow."
Die Folge, so Rainer Raeschke: "Lübz ist abgehängt. Passow ist abgehängt. Gallin ist abgehängt. Karow ist abgehängt. Alt Schwerin ist abgehängt."
Ganz abgehängt nicht, denn für diesen Zwischenabschnitt heißt es seit Ende 2014: Bitte umsteigen in den Bus! Der Bus steuert sogar mehr Haltepunkte an als die Bahn. Aber: "Die Strecke war mal 55 Minuten insgesamt, und jetzt ist sie zwei Stunden."
Bus statt Bahn
Das Land Mecklenburg-Vorpommern schieße immer viel Steuergeld in den Personennahverkehr mit der Bahn. Allein in diesem Jahr rund 220 Millionen Euro. Doch es gebe Grenzen. Und Alternativen, verteidigt sich Verkehrsminister Christian Pegel von der SPD.
"Auf der Südbahn waren die Fahrgastzahlen einfach in einer Größenordnung, die Sie mit einem Bus selbst in den Rushhour-Zeiten ohne Schwierigkeiten hinbekommen."
Reporterin: "Übersetzt: Es gab wenige Fahrgäste."
"Es gab weniger Fahrgäste, als ein Bus Sitzplätze hat. Und dann müssen Sie abwägen. Ein Bus kostet pro gefahrenem Kilometer circa ein Viertel bis ein Fünftel des Zuschussbedarfs, den Sie für eine Eisenbahn brauchen."
Testbetrieb zur Mecklenburgischen Seenplatte
Doch Ende vorigen Jahres: ein Sinneswandel, verbunden mit acht Millionen Euro aus dem Landeshaushalt. Die Kritik vor allem von Touristikern und Kommunen hatte verfangen, derzufolge das Land mit der unterbrochenen Südbahn vor allem Wochenendausflügler und Sommertouristen aus anderen Teilen Deutschlands abschrecke oder ins Auto treibe, obwohl die doch eigentlich gern per Zug in das Gebiet der Mecklenburgischen Seenplatte reisen wollten. Nun bestellt das Land bei einem privaten Bahnunternehmen für einige Jahre versuchsweise wieder etwas Bahnverkehr auf der schon totgesagten Zwischenstrecke Parchim – Malchow. Dieses Jahr war Premiere mit drei Verbindungen pro Richtung. Allerdings nur in der Hochsaison von Mai bis Ende August und, so Minister Pegel:
"An den Wochenenden – freitags, samstags, sonntags – und an Feiertagen. Und ganz bewusst in den Takten der von Hamburg aus dem Westen und Südwesten kommenden Züge, sodass man umsteigen kann und mit den langlaufenden Eisenbahnverbindungen vor allem im Fernverkehr gut in die Mecklenburgische Seenplatte hinein und auch wieder hinauskommt."
Bürger brauchen Infrastruktur
Corona hat die Bilanz in diesem Startjahr verhagelt. Doch der Verkehrsminister verspricht, sich die Fahrgastentwicklung erst nach drei und dann noch einmal nach fünf Jahren anzuschauen. Der stellvertretende Landrat in Deutschlands größtem Landkreis Mecklenburgische Seenplatte ist sich jetzt schon sicher: Die 117 Kilometer lange Südbahntrasse quer durchs mecklenburgische Land gehört vollständig reaktiviert und sollte täglich mit vernünftigen Anschlusszeiten zum Fern- und Busverkehr befahren werden.
"Das wird garantiert angenommen, weil: Bahn ist Infrastruktur. Und Infrastruktur brauchen unsere Bürger in der Fläche. Klimabilanz et cetera pp., das spielt da in meinen Augen alles rein. Und Schienenstränge abzubauen und Fahrradwege drauf zu bauen, so schön wie das ist, ist aber eine falsche Entscheidung gewesen. Das muss man sich eingestehen und muss da jetzt auch neue Wege gehen."