Erwin Panofsky analysiert Michelangelo
Die wissenschaftliche Analyse "Die Gestaltungsprincipien Michelangelos" des jüdischen Kunsthistorikers Erwin Panofskys galt als verschollen. Durch Zufall wurde sie 2012 im Keller des Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte gefunden – damals eine Sensation.
"Michelangelo liegt mir weltenfern", schrieb Erwin Panofsky (1892-1968) am 1. August 1949 aus den USA seinem einstigen Schüler Ludwig Heinrich Heydenreich. Heydenreich, damals Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, hatte 1928 mit einer Dissertation über "Die Sakralbau-Studien Leonardo da Vincis" bei Panofsky in Hamburg promoviert und wollte seinen Lehrer dazu bewegen, ein Buch über den italienischen Renaissancekünstler zu schreiben. Panofskys entschiedene Absage verwundert, hatte er doch 1920 seine Habilitationsschrift "Die Gestaltungsprincipien Michelangelos" in Hamburg eingereicht – fern, gar "weltenfern", lag ihm der Künstler also nicht.
Diebessicher im Panzerschrank
Heydenreich wusste nicht nur um dessen Michelangelo-Kenntnisse, sondern er war sogar im Besitz von Panofskys Habilschrift, von der Panofsky selbst glaubte, sie sei unwiederbringlich verloren, seit er 1934 emigrieren musste. Erst 2012 wurde sie durch Zufall im Keller des Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte gefunden, wo sie von Heydenreich feuer- und diebessicher in einem Panzerschrank hinterlegt worden war, als er 1970 in Pension ging. Die Wiederentdeckung war eine Sensation.
Es ist zu vermuten, dass Heydenreich die Arbeit vor dem Zugriff der Nazis gerettet hat und nach München mitnahm, als er Hamburg verließ. Warum er sie aber seinem Lehrer nach dem Krieg nicht zurückgab, bleibt ein Rätsel, das auch die Herausgeberin von Panofkys wiederentdeckter Schrift, Gerda Panofsky, in ihrer informativen Einleitung des nun erstmals veröffentlichten Buches nicht zu klären vermag.
Man konnte nicht davon ausgehen, dass Panofskys Habilschrift wieder auftauchen würde, weshalb Horst Bredekamp 1992 aus den die Arbeit beurteilenden Gutachten versucht hat zu rekonstruieren, welche Thesen Panofskys in der Habil verfolgt hatte. Doch wie er argumentativ vorging, um zu beweisen, dass Raffael sich an Michelangelos Werk orientierte, während es bei Michelangelo zwar initiatorische Einflüsse gab, aber sich sonst nur gelegentliche Einflüsse von anderen finden, lässt sich jetzt erst nachlesen.
Hochinteressant ist das methodische Verfahren des damals 27-jährigen Panofsky, dessen These, dass Raffael bestimmte Motive von Michelangelo übernimmt. Dabei bezieht er sich auf Raffaels Madonna "Caritas" im Vergleich zu Michelangelos Florentiner Marmortondo und der Sybille "Delphica" aus der Sixtina, wobei er Ähnlichkeiten in der Bewegungsaktion und im physischen Ausdruck erkennt.
Panofsky zeigt, wie sich beide Künstler im Stil unterscheiden
Was Raffael von Michelangelo nicht übernimmt – so Panofskys These –, erweist sich als das Unnachahmliche. Michelangelo hat dieses eigene Stilprinzip in der Auseinandersetzung mit den antiken Vorbildern entwickelt. Panofsky zeigt, wie sich beide Künstler im Stil unterscheiden. Während Raffael in der Lage war, den Stil seiner Epoche "synthetisch zusammenzufassen", steht Michelangelo als unabhängiger Genius "den Traditionen der eigenen Epoche mit derselben Freiheit [gegenüber] wie den Überlieferungen der klassischen Antike".
Erwin Panofsky: "Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders im Vergleich zu denen Raffaels"
De Gruyter, 2014
630 Seiten, 99,95 Euro
De Gruyter, 2014
630 Seiten, 99,95 Euro