Wiedereröffnung

Im Untergang vereint

Die Schauspieler Maria Schrader, Götz Schubert, Joachim Meyerhoff, Michael Wittenborn, und Gustav Götz in einer Szene aus "Die Rasenden".
"Die Rasenden" feierte nach langem Warten in Hamburg endlich Premiere © picture alliance / dpa / Markus Scholz
Von Michael Laages |
Lange mussten die Hamburger Theaterbesucher warten, nun ernteten sie die volle Ladung Antike. Nach Umbauten und Unfällen hat das Schauspielhaus wieder aufgemacht und das fünfstündige Stück "Die Rasenden" aufgeführt. Es geht um den Krieg um Troja und die Folgen des brutalen Mordens.
Nun hat der dicke Dampfer also wirklich abgelegt; das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg ist nach langen Umbauten und dramatischen Unfällen wieder eröffnet – mit Karin Beiers Antiken-Projekt "Die Rasenden", das vor dem Trojanischen Krieg beginnt und nach ihm endet. Kurz vor der Premiere fiel auch noch eine bedeutende Kraft im Ensemble aus, aber auch das Problem wurde gelöst: Die Erleichterung über den Hamburger Start im Großen Haus war mit Händen greifbar. Selbst die Konkurrenz vom Thalia-Theater hatte mitgezogen und die eigene Premiere von Jette Steckels auch sehr viel versprechender Inszenierung von Hauptmanns "Ratten" (mit Ausflügen hin zu Gorki und Schleef) um einen Tag vorgezogen – eine große Geste!
Und wer ist nun schuld an all dem Schlachten und Morden, im Krieg um Troja, aber auch schon davor und erst recht danach? Das will Orest ja tatsächlich wissen, nachdem er im blutigen Finale die Mutter mordete, die den Vater erschlug, der die Tochter geopfert hatte. Die Götter fragt er – sie bleiben stumm. Und von den Bürgern der wirklichen Welt ist auch nur zu erfahren, dass sie nicht wissen, was das ist: Schuld. Sie kennen nur Wahrscheinlichkeiten – fifty-fifty, mehr Urteil ist nicht drin. So fatal und ohne Ausweg geht der Antiken-Marathon zu Ende.
Der Trojanische Krieg findet musikalisch statt
Die ganze Geschichte vom finstren Mythos am Beginn Europas will Karin Beier in den Blick nehmen – und die beginnt hier zwar nicht mit Atreus und Thyestes, über deren Taten der Fluch der Götter verhängt wurde, aber immerhin im Hafenstädtchen Aulis, wo die griechische Seglerflotte nur dann gen Troja aufbrechen kann mit gutem Wind, wenn Feldherr Agamemnon (wie vom Orakel befohlen) die eigene Tochter opfert, die junge, zarte Iphigenie. Er weiß, dass das Ziel (die Heimholung der geraubten oder vor Langeweile geflüchteten Helena) den Preis, diesen Preis, in keinem Fall wert ist. Aber der Gott hat’s befohlen, und schon murrt auch vor Kriegslust rasende Heer – wenn der Wahnsinn in ihm wachse, sagt der Feldherr, dann nur, weil der Gott ihn berührt hat. Das Göttliche und das Politische, vereint im Weltuntergang: das bleibt Beiers Thema den ganzen Abend über.
Der Trojanische Krieg selber findet musikalisch statt – in der Komposition für Streicher, Schlagwerk und Chor, die Jörg Gollasch mit viel atmosphärischem Bombenhagel und Sirenenton konzipiert hat; die Stimme beschwören dazu (auf altgriechisch!) Leiden und Krieg. Dann sehen wir (noch vor der ersten Pause und in der Übernahme von Beiers letzter Inszenierung vor dem Abschied von Köln) den Troerinnen zu nach der völligen Zerstörung der Stadt, im Trümmerstaub und vor dem Abtransport in Tod und Sklaverei; intensiv streiten sie über die Schuld der Helena. Dann, nach der großen Pause, wandelt sich Thomas Dreißigackers bis dahin zeichenhaft-sparsame Bühne fundamental.
Argos, die Burg des siegreichen Agamemnon, ist in völliger Dekadenz verkommen; Hausherrin Klytemnästra ließ Völlerei und Vergnügen wuchern, Striptease-Tänzerin, Küche und Köche inklusive – und die bieder-blöden Bürger schlagen sich die Mägen voll. Mit der Rückkehr des Feldherrn beginnt das Blutgericht: Erst tötet die Frau den Mann – Rache für Iphigenie! Dann kehrt (nach weiterer, kleinerer Pause) der Sohn Orest heim und tötet gemeinsam mit Schwester Elektra die Mutter – Rache für den Vater!
Und, wie gesagt, keiner ist schuld. Das ist das Schlimmste. Beiers Inszenierung zeigt immer wieder die völlige Hilflosigkeit des Menschen im göttlichen Plan – sofern es ihm nicht gelingt, auf eigenem, nicht fremdbestimmtem Handeln zu bestehen. Deshalb kommt den Stammtischbürgern im Mittelteil so große Bedeutung zu – sie wären ja das Volk, sie könnten herrschaftlicher Willkür trotzen. Sie tun es nicht, schwafeln stattdessen eher ein wenig zu heiter über den Lauf der Zeit; und dass früher alles besser war. Am Ende, im "Eumeniden"-Text, wären sie eigentlich die große, demokratische Volksversammlung, die Recht sucht und auch spricht; hier bleiben alle in allem sehr klug, aber ratlos.
Ein neues, starkes Theater
Die erste halbe Stunde ist die stärkste – ganz auf Sprache und Haltung konzentriert, verstärkt noch durch Kothurnen und Masken der Macht neben dem Menschen-Gesicht, wirken Verführung und Verhetzung zum Fundamentalismus gewalttätig wie dann nie wieder, trotz so viel Blut. Einige Male versucht Götz Schubert als Feldherr, Anne Müller als Opfertochter Iphigenie in Heldinnen-Pose zurechtzubiegen - vergebens. Dann aber entdeckt das zarte Mädchen selber die eigene Berufung und Sendung: nicht nur für die Familie, sondern für das ganz Volk da zu sein – und darum zu sterben, bereitwillig. Der Moment macht Gänsehaut.
Schuberts Agamemnon und Maria Schraders Klytemnästra sind die gewaltigsten Antipoden in diesen fünf Nettostunden Antike; Schubert als verzweifelter Grübler zu Beginn, und als halb tätowierte Kriegsmaschine, wenn er heim kommt; Schrader in verschiedenen Facetten aus Rausch und Wahn. Julia Wieninger als Hekuba der Troerinnen stößt später zu den rasenden Furien, bis schließlich Birgit Minichmayrs Elektra im Finale (und lange Zeit per Video aus dem Keller der Unterbühne herauf projiziert) die Schreckbilder komplettiert. Mit ihnen und mit allen anderen im Ensemble zeigt "Die Rasenden" schon viel von dem, was von nun an das neue Hamburger Schauspielhaus prägen kann und wird – auch dann, wenn der Druck dieser dramatisch verzögerten Eröffnung weicht und die Routine eines neuen, starken Theaters in Hamburg zu erleben ist.
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