Umstrittene pädagogische Maßnahme: Bayern hält am Sitzenbleiben fest
In Bayern bleiben im bundesweiten Vergleich die meisten Kinder und Jugendlichen sitzen. Laut Statistischem Bundesamt waren es im Schuljahr 2019/20 3,8 Prozent – bundesweit nur 2,3. Wie sinnvoll ist es, ein Schuljahr zu wiederholen?
Kein Sitzenbleiben
Kann der Unterricht so gestaltet werden, dass alle Kinder im Unterricht mitkommen? (Symbolbild) © picture alliance / dpa / guido Kirchner
Wiederholt wird in Bremen nur freiwillig
07:33 Minuten
In Sachen Sitzenbleiben gibt es im kleinsten Bundesland Deutschlands einen Sonderweg: Das zwangsweise Wiederholen wurde 2009 abgeschafft. Stattdessen soll jedes Kind individuell so gefördert werden, dass Sitzenbleiben unnötig ist. Kann das gelingen?
Im Büro von Schulleiter Jörg Helmke ist an diesem Montagmorgen viel los: Es fehlen Coronatests, neue müssen schnell organisiert werden, eine Lehrerin wartet ungeduldig an der Tür und braucht Unterschriften. Die Oberschule Bremen-Findorff ist eine typische Bremer Oberschule mit gymnasialer Oberstufe: Von Klasse 5 bis Klasse 13 lernen hier mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler und streben wahlweise das Abitur, einen Mittleren Schulabschluss oder die Erweiterte Berufsbildungsreife an.
Sitzenbleiben ist teuer und unwirksam
Seit 2009 hat hier – wie in ganz Bremen – kein Kind eine Klasse wiederholen müssen. Damals hat der Bremer Senat das Sitzenbleiben abgeschafft. Eine gute Entscheidung, findet Jörg Helmke. Vor vielen Jahren blieb er nämlich selbst sitzen – mit drei Fünfen im Zeugnis. „Ich sehe mich noch weinend im Unterricht sitzen“, erinnert er sich. Das war sehr hart.“ Und es habe auch auf keinen Fall dazu geführt, dass er im Folgejahren ein besserer Schüler war. „Nein, ich war ein sehr schlechter Schüler.“
Was Helmke berichtet, bestätigt auch die Wissenschaft, beispielsweise eine Bertelsmann-Studie aus dem Jahr, in dem Bremen sich gegen das Sitzenbleiben entschieden hat. Das Fazit: Klassenwiederholungen sind teuer und unwirksam. Eine Auffassung, die auch die Bremer Senatorin für Kinder und Bildung, Sascha Aulepp, teilt. Laut Bildungsforscherinnen und - forschern sei es für fast kein Kind sinnvoll, den gesamten Unterricht einer gesamten Klasse noch mal eins zu eins wiederholen. „Richtig ist, dass manche Kinder das Tempo, was in einer Klasse vorgelegt wird, in bestimmten Fächern nicht mithalten können, und dass diese Kinder dann individuell in diesen Fächern besondere Förderung brauchen, die sie dann während des Unterrichts bekommen. Das macht das Sitzenbleiben, was ohnehin nicht sinnvoll ist, überflüssig.“
Der Bremer Senat schaffte das Sitzenbleiben ab und etablierte stattdessen für Haupt-, Real- und Gymnasialzweige die Oberschulen. Ihr Ziel: Jedes Kind soll so gefördert werden, dass es den individuell passenden Abschluss schafft. An der Oberschule Findorff, die Jörg Helmke leitet, sieht das so aus, „dass die Schüler wählen können“. Es gebe Kurse auf einem erweiterten Niveau und auf einem grundsätzlichen Niveau. „Das sind Unterscheidungen in E- und G-Kurse. Das zeigt eigentlich, dass wir in der Oberschule schöne Möglichkeiten der Differenzierung haben, um auch individuell auf die Kinder einzugehen.“
An Material zur Differenzierung mangelt es nicht, sagt Helmke. Auch die iPads, die inzwischen allen Bremer Schulkindern zur Verfügung stehen, haben hier noch einmal neue Möglichkeiten eröffnet. Aber für die Lehrkräfte ist die individuelle Förderung und die Differenzierung im Klassenzimmer auf jeden Fall ein Mehraufwand, dem nicht immer entsprochen werden kann.
Individuelle Förderung gelingt nicht immer
Christina, die eigentlich anders heißt, ist Mutter eines fünfzehnjährigen Sohns. Schon in sechsten Klasse bemerkt sie Mängel bei seiner Förderung. Als sie ihn im Homeschooling erlebte, sei ihr deutlich geworden, was für Probleme er hatte – „mit Lesen, Schreiben. Das war ja schon, dass ich zwei Jahre lang immer wieder insistiert hatte, auch an der Schule, dass ich das Gefühl hatte, mein Sohn kommt da nicht gut mit.“ Man gucke drauf, sei ihr versichert worden. „Wir wollten jetzt ja auch nicht so eine Sonderbehandlung. Also hatte ich gesagt: Können wir was zu Hause machen, mit ihm mehr üben oder so? Und mir wurde gesagt: Nein, das soll in der Schule stattfinden.“
Doch dann kommt eines zum anderen: Die Klassenlehrerin und außergewöhnlich viel Unterricht fallen aus. Außerdem trennen sich Christina und ihr Mann. „Dann ist mein Kind im Homeoffice hier richtig aufgeflogen“, erzählt Christina. „Er hat die Aufgaben teilweise gar nicht verstanden – was die von ihm wollten. Da habe ich mich mit dem Vater kurzgeschlossen und einen Antrag auf Nichtversetzung gestellt, in Absprache mit meinem Sohn.“
Nichtversetzung aus Kapazitätsgründen abgelehnt
Zuerst signalisiert die Schule Zustimmung. „Dann haben wir hier die Champagnerkorken knallen lassen. Mein Sohn war total erleichtert.“ Später sei dann ein Anruf gekommen: Aus Kapazitätsgründe sei die Nichtversetzung abgelehnt worden.
Für die Familie ein Schock. „Mein Sohn war völlig fertig. Ich war völlig fassungslos, wütend. Dann habe es ein langes Gespräch mit der Schulleitung gegeben, „wo sich ganz viel entschuldigt wurde, was ich auch ja angemessen und in Ordnung fand. Ich würde da keinem Lehrer persönliches Versagen vorwerfen, weil Menschen einfach krank werden, da kann niemand was dafür.“ Das sei ein strukturelles Problem.
Der Jugendliche rückte also vor, obwohl er freiwillig hätte wiederholen sollen und wollen. Gerade die zentral gelegenen Schulen in Bremen sind quasi immer auf Anschlag gefüllt. Das heißt für die Betroffenen am Ende: Es gibt wenig Flexibilität.
Freiwilliges Sitzenbleiben als Chance
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel von Eva. Sie wohnt in einem Stadtteil am Rand von Bremen. Ihr Sohn lernt entwicklungsverzögert. Deshalb stand die Option, ein Jahr zu wiederholen, schon in der Grundschule zur Debatte. „Schon in der zweiten Klasse hat man gemerkt, unser Sohn verliert so ein bisschen den Anschluss an die anderen.“
In der dritten Klasse folgen weitere Probleme, und im engen Austausch mit einer Psychologin und der Schule entscheiden die Erwachsenen gemeinsam, dass ihr Sohn die dritte Klasse wiederholen soll. Von dem zusätzlichen Jahr profitiert ihr Sohn entgegen der allgemein geltenden Annahmen sehr. „Das ist wunderbar“, sagt Eva. „Er hat genau das aufgeholt, was wir uns als Eltern erhofft haben.“ Auch die Schule sei ganz begeistert. „Er hat wirklich Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, alles in einem Jahr. Er hat in dem Jahr das aufgeholt, was in den Jahren zuvor ja in seinem Gehirn nicht ankommen konnte, aus unterschiedlichen Gründen.“
Ein Beispiel für eine gelungene Wiederholung und Inklusion: Weil die Schule die personellen Ressourcen hatte, individuell auf das Kind einzugehen, es individuell zu fördern. Außerdem Eltern, die sich sehr engagiert um ihr Kind kümmern, es begleiten, dafür sorgen, dass eine persönliche Assistenz und eine psychologische Begleitung da sind. Eher seltene ideale Bedingungen.
Mehr Personal an Schulen
Deshalb plädiert man an der Oberschule Findorff für individuelle Flexibilität: Jörg Helmke und seine Kollegen wünschen sich zum Beispiel, dass nicht nur Eltern, sondern auch Lehrkräfte einen Antrag auf Nichtversetzung stellen können.
Bevor Helmke hier Schulleiter wurde, arbeitete er an einem Gymnasium und hat dort oft erlebt, dass das „Mitschleifen“ von Schülerinnen und Schülern, die sich aufgegeben haben, auch keine Lösung ist. „Da haben sich Kollegen massiv darüber beschwert, weil sie sagen, sie haben hier Schüler sitzen, die haben acht, neun Fünfen.“ Das führe zu Beeinträchtigungen der Mitschülerinnen und Mitschüler. Weil die Betroffenen „verständlicherweise auch gesagt haben, ich habe hier sowieso keine Chance, ich komme gar nicht mit. Die sind sich darin ergangen, da den Unterricht zu stören.“
So würde es Christina im Fall ihres Sohnes nicht nennen, auch wenn er sein siebtes Schuljahr nicht wie geplant freiwillig wiederholen konnte. Die Mutter wünscht sich dennoch, dass mehr Personal an die Schulen kommt, damit das Ideal der individuellen Förderung auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Freiwilliges Wiederholen dürfe nicht von elterlichem Engagement oder privater Förderung abhängen, findet sie.