Wiedersehen zweier Arno-Schmidt-Fans
Uwe Timm erzählt vom späten Wiedersehen zweier sehr verschiedener Männer, die in den frühen Sechzigern, noch vor dem großen Aufbruch, als Studenten in München ihren Weg suchten. Beiden gemeinsam ist die Begeisterung für Arno Schmidt.
Die Zeiten sind auch vorbei, in denen die Ostdeutschen literarisch unter sich bleiben durften. Mittlerweile tummeln sich immer mehr westdeutsche Autoren in östlichen Gefilden, wohl in der Hoffnung, dass dort die interessanteren Geschichten zu heben wären. Nach Wolfgang Herrndorf (Lausitz) und Moritz von Uslar (Zehdenick) ist nun die Ankunft des Münchners Uwe Timm in Anklam zu vermelden. Dort jedenfalls ist das Geschehen seiner als Novelle bezeichneten Erzählung "Freitisch" angesiedelt, der freilich alles Novellenhafte fehlt: nicht nur die unerhörte Begebenheit, sondern sogar eine mitteilenswerte Handlung. Was sich in der "sterbenden Stadt" am Oderhaff ereignet, ist nicht mehr als das erfreuliche Wiedersehen zweier älterer Herren nach bald fünfzig Jahren, die sich bei einer Tasse Kaffee in der Landbäckerei Grützmann am Markt ihrer verflossenen Studienzeit in München erinnern.
Damals, Anfang, Mitte der 60er Jahre, trafen sie sich mit zwei anderen täglich zum Mittagessen am "Freitisch" für notleidende Stipendiaten. Ein sentimentales Plauderstündchen droht also, doch der begnadete Erzähler Uwe Timm schafft es, aus diesem Fast-Nichts an Handlung eine ganze Menge herauszuholen und findet dafür einen heiteren, von leiser Melancholie durchwehten Ton.
Der Ich-Erzähler ist pensionierter Lehrer für Deutsch und Geschichte, der nebenbei ein Antiquariat in der Stadt am Oderhaff betreibt. Der andere, der gleich wieder seinen alten Spitznamen "Euler" bekommt, ist im Müllgewerbe reich geworden und möchte die Stadt mit einer neuen, ökologisch tipptopp modernen Deponie beglücken. Antikapitalistisches oder antiwestliches Konfliktpotential ergibt sich daraus nicht, vielmehr richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Erinnerungen und folglich bald auf Arno Schmidt, der damals, am Freitisch, zentraler Gegenstand der Verehrung war. Zwei Reisen zu Schmidt ins hochheilige Bargfeld drängen aus dem "aufgesprungenen Gedächtniskoffer" heraus.
Die erste, die Euler alleine unternahm, endete kläglich, weil der Meister, wie seine Frau Alice am Gartenzaun verlautbarte, "nicht empfing", so dass die Pilger beim zweiten Mal einen ziemlich fiesen Trick anwenden mussten, um ihn aus dem Haus zu locken. Da ist sie dann vielleicht doch, die "unerhörte Begebenheit".
Euler wehrt die Erinnerung daran ab. Vielleicht ist es ihm peinlich, wie er seinen Reisegefährten damals für eine Intrige missbrauchte, ohne ihn einzuweihen. Vielleicht ist alles auch zu lange her und zu fern, und er versteht selbst nicht mehr, wie aus einem jugendlichen Arno-Schmidt-Adepten ein alternder Deponie-Verkäufer werden konnte. Die schmerzliche Frage, wann die Leidenschaften und Ideale im Laufe des Lebens verloren gehen, wird nirgends explizit gestellt, und ist doch stets präsent.
Nicht immer können die Beiden ein altherrenhaftes Aufseufzen nach der "Ach ja, früher"-Melodie verhindern, damals, in den frühen Sechzigern, als noch "alles zusammenging: Hasch, Ernst Jünger und die verbotene KP". Das unvermeidlich Sentimentalische nervt ein wenig, und doch lässt Uwe Timm ein interessantes Deutschlandpanorama entstehen, das Mecklenburg und Lüneburger Heide, Berlin und München umfasst und aus der Post-89er-Wirklichkeit in die Prä-68er-Zeit zurückführt. Er bezieht also einen Standpunkt diesseits und jenseits der deutschen Zentraldaten, ja vielleicht sogar jenseits der Geschichte, geht es doch weniger um die Ereignisse selbst, als um die erzählerische Haltung zur Welt, die da vorgeführt wird.
So ist im Müllmann dann eben doch noch der alte "Euler" zu erkennen, und in diesem womöglich der Autor Uwe Timm, über den sich dasselbe sagen ließe: "In seinem Erzählen war keine Spur von Renommieren, in seiner Inbrunst, mit der er über Elefanten, Turbane und Müllabfuhr redete, wurde mir seine damalige Arno-Schmidt-Begeisterung wieder gegenwärtig."
Besprochen von Jörg Magenau
Uwe Timm: Freitisch. Novelle
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
160 Seiten, 16,95 Euro
Damals, Anfang, Mitte der 60er Jahre, trafen sie sich mit zwei anderen täglich zum Mittagessen am "Freitisch" für notleidende Stipendiaten. Ein sentimentales Plauderstündchen droht also, doch der begnadete Erzähler Uwe Timm schafft es, aus diesem Fast-Nichts an Handlung eine ganze Menge herauszuholen und findet dafür einen heiteren, von leiser Melancholie durchwehten Ton.
Der Ich-Erzähler ist pensionierter Lehrer für Deutsch und Geschichte, der nebenbei ein Antiquariat in der Stadt am Oderhaff betreibt. Der andere, der gleich wieder seinen alten Spitznamen "Euler" bekommt, ist im Müllgewerbe reich geworden und möchte die Stadt mit einer neuen, ökologisch tipptopp modernen Deponie beglücken. Antikapitalistisches oder antiwestliches Konfliktpotential ergibt sich daraus nicht, vielmehr richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Erinnerungen und folglich bald auf Arno Schmidt, der damals, am Freitisch, zentraler Gegenstand der Verehrung war. Zwei Reisen zu Schmidt ins hochheilige Bargfeld drängen aus dem "aufgesprungenen Gedächtniskoffer" heraus.
Die erste, die Euler alleine unternahm, endete kläglich, weil der Meister, wie seine Frau Alice am Gartenzaun verlautbarte, "nicht empfing", so dass die Pilger beim zweiten Mal einen ziemlich fiesen Trick anwenden mussten, um ihn aus dem Haus zu locken. Da ist sie dann vielleicht doch, die "unerhörte Begebenheit".
Euler wehrt die Erinnerung daran ab. Vielleicht ist es ihm peinlich, wie er seinen Reisegefährten damals für eine Intrige missbrauchte, ohne ihn einzuweihen. Vielleicht ist alles auch zu lange her und zu fern, und er versteht selbst nicht mehr, wie aus einem jugendlichen Arno-Schmidt-Adepten ein alternder Deponie-Verkäufer werden konnte. Die schmerzliche Frage, wann die Leidenschaften und Ideale im Laufe des Lebens verloren gehen, wird nirgends explizit gestellt, und ist doch stets präsent.
Nicht immer können die Beiden ein altherrenhaftes Aufseufzen nach der "Ach ja, früher"-Melodie verhindern, damals, in den frühen Sechzigern, als noch "alles zusammenging: Hasch, Ernst Jünger und die verbotene KP". Das unvermeidlich Sentimentalische nervt ein wenig, und doch lässt Uwe Timm ein interessantes Deutschlandpanorama entstehen, das Mecklenburg und Lüneburger Heide, Berlin und München umfasst und aus der Post-89er-Wirklichkeit in die Prä-68er-Zeit zurückführt. Er bezieht also einen Standpunkt diesseits und jenseits der deutschen Zentraldaten, ja vielleicht sogar jenseits der Geschichte, geht es doch weniger um die Ereignisse selbst, als um die erzählerische Haltung zur Welt, die da vorgeführt wird.
So ist im Müllmann dann eben doch noch der alte "Euler" zu erkennen, und in diesem womöglich der Autor Uwe Timm, über den sich dasselbe sagen ließe: "In seinem Erzählen war keine Spur von Renommieren, in seiner Inbrunst, mit der er über Elefanten, Turbane und Müllabfuhr redete, wurde mir seine damalige Arno-Schmidt-Begeisterung wieder gegenwärtig."
Besprochen von Jörg Magenau
Uwe Timm: Freitisch. Novelle
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
160 Seiten, 16,95 Euro