Wiener Industrie-Fotografin Marianne Strobl

Blick in die Tiefe

05:44 Minuten
Aufgestellt un dgut verteilt auf den einzelnen Ebenen der Baustelle warten die Bauarbeiter bis das Foto fertig ist.
Arbeit an den Sammelkanälen der Sophienbrücke, 1898 © © Photoinstitut Bonartes, Wien
Von Lotta Wieden |
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Das Wien der Jahrhundertwende gilt als ein Kristallisationspunkt der Moderne. Mittendrin: die Fotografin Marianne Strobl. Doch statt gefälliger Postkartenromantik zeigen ihre Bilder den Alltag auf Baustellen, in Tunneln und in der Kanalisation.
Wien, 1898: Sechzig, vielleicht siebzig Männer auf einer Baustelle. In kleinen Grüppchen verteilt stehen sie um eine gewaltige Baugrube herum. Während im oberen Bilddrittel noch Straßenlaternen und Bürgerhäuser zu sehen sind, lenkt Marianne Strobl unseren Blick tief ins Erdreich hinein bis auf den Baugrund, zu den künftigen Abwasserspeichern der Wiener Kanalisation.
Auch hier ausnahmslos Männer: junge, alte, Aufseher, Vorarbeiter, Tagelöhner. Alle tragen sie Hüte oder Mützen. Alle halten sie Schaufeln in den Händen. Und alle schauen im Moment des Auslösens direkt in die Kamera.

Ungewöhnlicher Blick auf die Stadt

"Das war nötig wegen der damals noch längeren Belichtungszeiten von einigen Sekunden. Dadurch wirken diese Aufnahmen wie lebende Bilder, tablaux vivants", sagt die Strobl-Expertin Ulrike Matzer. Um möglichst viele Menschen und das Baugeschehen zusammen aufs Bild zu bekommen, habe Strobl die Arbeiter genau platzieren müssen.
"Marianne Strobl stand da meistens an einem sehr exponierten, auch erhöhten Punkt, mitten in der Baustelle unter ihrem großen Dunkeltuch und hat da quasi Regie geführt gegenüber dieser Riege von Männern. In einer Zeit, wo es ungewöhnlich war, dass bürgerliche Frauen sich allein auf der Straße bewegen oder Fahrrad fuhren."

M. Strobl - verzweifelt gesucht

Gut hundert Jahre lang sind Strobls Arbeiten nahezu vergessen. Im Herbst 2015 erst wird die Wiener Fotohistorikerin Ulrike Matzer auf eine Serie von Fotos aufmerksam, die Fuhrwerke aus dem Jahr 1894 zeigen. Einfache Leiterwagen, zweirädrige Karren, robuste Planwagen.
Ein Dokumentations-Auftrag der damaligen Militärbehörde, selbstbewusst in rot signiert von einer Marianne Strobl. Ein ungewöhnlicher Fund. Ulrike Matzer beginnt Museumsarchive zu durchforsten, fragt bei Sammlern nach. Wer ist diese Frau, und: Gibt es noch mehr Fotos von ihr?
"Und es war für mich auch eine Herausforderung in der Recherche, denn Marianne Strobl hat ihren Aufnahmen nur Anfangs in den ersten zwei Jahren mit vollem Namen signiert. Dann ist sie dazu übergegangen ihren Vornamen abzukürzen, um eben ihr Geschlecht auf diese Art zu verschleiern."
Ein Plakat an der Wand zeigt den Schriftzug "Marianne Strobel", davor steht ein Herr mit Zigarette und einem Bild in der Hand, ein anderer sitzt vor einem abgedunkelten kleinen Rahmen und retuschiert eine Fotografie. Auf dem Tisch sind einzelne Untensilien zur fotografischen Arbeit ordentlich ausgebreitet.
Mitarbeiter des Ateliers von Marianne Strobl bei der Arbeit© © Gemeinde Semmering
Auch für ihren Firmenstempel wählt Strobl die männliche Bezeichnung. "Spezialist für Blitzlichtfotografie", und später: "M. Strobl – Industriefotograph".
"Es waren auch alle sehr überrascht, dass sich hinter dem Kürzel M. Strobl eine Frau verbirgt. Wir kennen bislang auch international kein vergleichbares Beispiel von einer Frau, die als Fotografin derart tätig gewesen ist", sagt Kuratorin Ulrike Matzer.

Pionierin der Industriefotografie

Gut 60 Aufnahmen von Strobl sind derzeit im "Verborgenen Museum" Berlin zu sehen. Beindruckend der enorme Detailreichtum, die Tiefenschärfe. Bilder, in denen das Auge spazieren geht wie in einer Landschaft. Etwa in den Bildern des neu entstehenden Gaswerks in Wien-Leopoldau. Über zwei Jahre lang dokumentierte Strobl den Aufbau des Werks. Eines der Fotos, aufgenommen 1912 vom Gasometer aus, zeigt eine weite Ebene mit Baubaracken, eingerüsteten Gebäudeteilen, Schornsteinen und irgendwo dazwischen, winzig klein, fünf Arbeiter.
"Wenn man den Terminus Industriefotografie hört, denken viel wahrscheinlich an Bernd und Hilla Becher, die ab den 1960er-Jahren das Ende dieser Industriekultur festgehalten haben. Marianne Strobl dagegen hat 50 Jahre zuvor die Hochblüte dieser Industrie eingefangen und zwar auf eine Weise, die für unseren Blick unglaublich modern erscheint, die auch an Aufnahmen des Neues Sehens aus den 1920er-, 1930er-Jahre erinnert, die das quasi vorwegnimmt."

Prägende Industrialisierung

Während andere Fotografen um 1910 die schönsten Ecken Wiens ablichten und ihre Bilder hinterher an Touristen verkaufen, interessiert sich Strobl ganz für das Neue und Unfertige. Ihr Wien ist eine Stadt under construction, nackt, roh - kein Puderzucker.
Bleibt die Frage, wie Strobl ohne Ausbildung – Frauen werden erst ab 1908 an der Wiener Fotoakademie zugelassen – zu einer so viel beschäftigen Fotografin werden konnte.
Neben den Kontakten ihres Ehemanns Josef Strobl, der als Vermessungsingenieur beste Beziehungen zu Industrie und Behörden unterhielt, dürfte Strobl vor allem die Entwicklung Wiens selbst geholfen haben: Die rasant voranschreitende Industrialisierung kurz vor der Jahrhundertwende, die Verdreifachung der Einwohnerzahl innerhalb weniger Jahrzehnte. Überall wird gebaut. Und die neuen Bauherren wollen repräsentieren.
So lesen sich Strobls Arbeiten heute nicht nur als Zeugnisse städtebaulichen Entwicklung, sondern auch als frühe Beispiele fotografischer PR. Und natürlich als die Geschichte einer Frau, die sich Industriephotograph nannte – lange, bevor sich so etwas wie ein Genre der Industriefotografie überhaupt etablierte.
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