WikiCon 2019

Hat die Wikipedia eine Zukunft?

06:52 Minuten
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Wohin entwickelt sich die Wikipedia? © Illustration: Freepik.com, Wikipedia-Logo: Nohat, Collage: Hagen Terschüren/Breitband (CC BY-SA)
Peter Welchering im Gespräch mit Jenny Genzmer und Tim Wiese |
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An diesem Wochenende treffen sich die Wikipedianer aus Deutschland zur WikiCon in Wuppertal. Die Online-Enzyklopädie hat gleich mit mehreren Problemen zu kämpfen – Peter Welchering ist vor Ort.
Jenny Genzmer: Das Aktualisieren der Artikel klappt nicht mehr wie gewünscht. Die Autoren und Autorinnen insgesamt sind nicht mehr so aktiv. Überhaupt sind Frauen in der Wikipedia-Community stark unterrepräsentiert. Es gibt also viel zu besprechen.
Tim Wiese: Peter Welchering ist auf der Wiki-Konferenz. Wie werden die Probleme dort eingeschätzt?
Peter Welchering: Wir müssen was tun. Aber das können wir eben auch nur im Rahmen unserer Möglichkeiten – Das ist so eine Einschätzung, die ich hier im Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium, wo die WikiCon stattfindet, des Öfteren gehört habe. Eine Online-Enzyklopädie bleibt eben eine Enzyklopädie. Und im Augenblick nimmt das Interesse in der Gesamtgesellschaft an enzyklopädischem Wissen eher ab. Jens Best, einer der Wikipedia-Aktivisten der ersten Stunde, bringt das so auf den Punkt:
"Die gesellschaftliche Nutzung der Wikipedia ist natürlich etwas, worüber man sich Gedanken macht, aber als Wikipedianer hat man erstmal den Anspruch, dass man die Gesellschaft auch in der Wikipedia-Community abbildet. Etwas, worauf wir natürlich achten müssen ist, dass auch marginalisierte Gruppen dort vorkommen können. Das ist oftmals ein sehr großer Streit und auch sehr schwierig – jede Community hat ihre Macken. Aber im Großen und Ganzen ist die Frage: Wird die Wikipedia nur konsumiert oder wird sie als ein wissensbildendes Projekt und Produkt gesehen? Etwas, wo man als Wikipedianer ein wenig traurig werden kann."

Die Community muss einladender werden

Genzmer: Arbeiten wir die Probleme doch mal der Reihe nach ab. Die teilweise schleppende Aktualisierung von Artikeln hängt natürlich auch damit zusammen, dass das Interesse der Autorinnen und Autoren insgesamt etwas nachgelassen hat. Wie geht die Community damit um?
Welchering: Das wird sozusagen in zwei Abteilungen diskutiert. Zum einen wird das durchaus noch unter der Perspektive der Editier-Kriege gesehen, die stattgefunden haben. Die sind zwar inzwischen bis auf ganz wenige Einzelfälle Geschichte. Aber die haben eben doch dazu geführt, dass einige Autoren frustriert aufgegeben haben. Das ist also die Abteilung Geschichtsbewältigung. Zweitens geht es um Nachwuchsgewinnung. Da bemühen sich die Aktivisten mit Projekten wie Kinder-Wiki junge Leute für Wikipedia zu interessieren. Und die sollen eben nicht nur Wikipedia nutzen, für die Schule, später fürs Studium, sondern die sollen sich auch aktiv als Autoren, als Mentoren einbringen.
Wiese: Das ist dann sozusagen das Engagement für die etwas entferntere Zukunft. Wie sieht es aktuell mit der notwendigen Aktualisierung von Artikeln aus?
Welchering: Das lässt sich eben nur schwer steuern. Wikipedia lebt vom Interesse eines jeden einzelnen Autors an der Enzyklopädie. Diese Interessen sind zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich ausgeprägt. Das hängt von der Lebenssituation der Autoren und vielen anderen Faktoren ab. Die Aktivisten hier sehen, dass das, was unter "Communitybildung" normalerweise gefasst wird, auch bei Wikipedia stärker passieren muss. Da müssen Interessen stärker gebündelt werden, da muss die gemeinsame Arbeit an der Enzyklopädie als gutes Gemeinschaftserlebnis spürbar gemacht werden. Und da muss auch innerhalb der Community mehr an Wertschätzung für die Autorenarbeit, mehr an Ermunterung passieren. Insgesamt muss und soll wieder stärker für die Relevanz enzyklopädischen Wissens geworben werden. Das aber ist nur vor einem gesamtgesellschaftlichen Hintergrund möglich. Und da liegt in der Tat ein Problem.

Netzgesellschaft statt Wissensgesellschaft

Genzmer: Wo liegt dieses gesamtgesellschaftliche Problem denn genau?
Welchering: Enzyklopädisches Wissen ist in unserer Gesellschaft zum Konsumgut geworden. Das ist ein ganz altes Problem, mit dem Enzyklopädien seit fast 300 Jahren zu kämpfen haben. Dass dieses Problem auch eine Online-Enzyklopädie betrifft oder betreffen könnte, das wurde lange Zeit beiseitegeschoben. Denn nicht nur die Wikipedia-Aktivisten haben ja für die Informationsgesellschaft gearbeitet und tun dies immer noch. Die Wissensgesellschaft, in der Wissen geteilt wird, Wissen auf der Allmende steht, also gemeinsames Gut ist, Wissen als gesellschaftlicher Wert anerkannt ist und wird – das ist eine Vision von vielen Wikipedia-Aktivisten. Nur gibt es diese erhoffte Wissensgesellschaft nicht. Wir leben in einer vernetzten Gesellschaft, in einer Netzgesellschaft. Im Netz findet Konsum statt, im Netz und aus dem Netz hat sich mit den Internet- und Datenkonzernen ein starker digitaler Kapitalismus entwickelt. Wissenschaftler wie Shoshana Zuboff sprechen sogar vom Überwachungskapitalismus. Und in dieser digitalen kapitalistischen Gesellschaft bewegen sich die Enzyklopädisten von Wikipedia.
Wiese: Hört sich nach einem argen Widerspruch an. Kann der aufgelöst werden?
Welchering: Aufgelöst kann der nicht werden. Aber es muss klarer werden, dass die Vision einer Wissensgesellschaft eben noch Vision ist. An welchen Punkten was die Online-Enzyklopädisten zur Entwicklung dieser Wissensgesellschaft beitragen wollen, aber auch was sie realistischerweise mit ihrer Arbeit in einer kapitalistischen Netzgesellschaft erreichen können, darüber wird stärker debattiert, muss stärker diskutiert werden. Und da stellt sich Frage: Wie machen wir in unserer Gesellschaft klar, dass enzyklopädisches Wissen kein reines Konsumprodukt ist. Das ist so eine der Diskussionen, die in vielen Facetten von den Wikipedia-Aktivisten geführt wird. Und von dieser Diskussion wird es letztlich abhängen, ob Wikipedia auch in Zukunft erfolgreich sein wird. Oder ob sie als Enzyklopädie Stück für Stück Einfluss verliert.
(hte)
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