„Schabernack ist eine zu Schöllkrippen gehörende Einöde im Landkreis Aschaffenburg. (…) Der Name (…) geht aus den alten Wörtern schabe und nack hervor, was den Bergrücken abgraben bedeutet. Er hat nichts mit einem Streich zu tun.“
Wikipedia
Wikipedia Gründer Jimmy Wales. © imago / teutopress
Weltwissen ohne Gewähr
Lexikalisches Wissen für alle, kostenlos. Das ist die Idee der Wikipedia. Doch ist die Online-Enzyklopädie auch vertrauenswürdig? Eine Sendung über ein Urgestein des Internets, das immer wieder Schlagzeilen machte.
„Wikipedia ist das beste Beispiel fürs digitale Ehrenamt. Es zeigt, dass sich Menschen ehrenamtlich ohne Bezahlung, aus rein intrinsischer Motivation heraus - die nicht immer die beste Motivation sein muss - engagieren. Aber das ist immer so im Ehrenamt, es gibt solche und solche. Aber es ist ehrenamtliches Engagement. Und das können Sie nicht kaufen", sagt Pavel Richter, Autor des Buches „Die Wikipedia-Story.“
Als ehemaliger Geschäftsführer der Wikimedia Deutschland ist er zum Verfasser der „Biografie eines Weltwunders“, so der Untertitel seines Buches, nachgerade berufen. Er kennt beide Seiten: die organisatorische im Maschinenraum der Wikipedia – der kleiner ist, als man denkt – und die als ehrenamtlicher Wikipedia-Autor und -Bearbeiter. Letztere Rolle teilt er mit Ziko van Dijk, der ebenfalls ein Buch geschrieben hat: „Wikis und die Wikipedia verstehen“.
Einträge werden ständig überarbeitet
Die Texte bezeichnet van Dijlk als „geschmeidig“, weil sie nie endgültig festgelegt sind, sondern stetig verändert werden, und zwar von Autorinnen und Autoren, die nicht zwingend ihren Namen preisgeben. So wie Iva Berlin, die zur kleinen Gruppe von sehr aktiven Frauen in der Wikipedia gehört. Sie schreibt und redigiert nicht nur Artikel, sondern überprüft auch als sogenannte Sichterin neue Artikel vor der Veröffentlichung und betreut Women-Edit-Kurse, um anderen Frauen die Mitarbeit an der Wikipedia zu erleichtern.
Pavel Richter beschreibt: „Die Gruppe derjenigen, die wirklich Wikipedia am Laufen halten, mit ihrem Engagement, liegt unter tausend. Dann gibt es aber natürlich noch die vielen, vielen Menschen, die hier und da mal was beitragen, heute hier und morgen da was reinschreiben, und dann vielleicht monatelang wiederum nichts machen. Auch die gibt es, aber diejenigen, die Wikipedia als Projekt am Laufen halten – einige von ihnen auch als Administratoren, viele, die die ganzen Arbeiten im Hintergrund machen, die wir als Leserinnen und Leser gar nicht so sehen – das ist eine sehr kleine Gruppe von Menschen.“
Adminstratoren im Wahlkampf
Jeder kann mitmachen in der Wikipedia. Er oder sie braucht kein Konto anzulegen, sich nirgends auszuweisen, keine persönlichen Daten preiszugeben und keine Prüfungen zu absolvieren. Um den Status der Sichterin oder des Sichters zu erhalten, muss man 150 eigene Bearbeitungen gemacht haben, die wiederum von Sichterinnen oder Sichtern akzeptiert wurden. Und man wird nur Sichterinnen oder Sichtern, wenn man den Raum der scheinbar totalen Anonymität verlässt, sich also ein Konto bei der Wikipedia anlegt, wobei das auch mit einem Pseudonym geht.
Administrator hingegen ist ein Wahlamt – und als solches nicht frei von den Nebeneffekten aller demokratischen Verfahren: Wahlkampf, Wahlversprechungen, Klientelismus und Angst vor Niederlage oder Abwahl.
Frauen sind unterrepräsentiert
„Woman Edit ist praktisch eine Initiative von ehrenamtlichen Frauen, die sich in der Wikipedia engagieren und gerne ihr Wissen teilen und gemeinsam mit anderen Frauen für die Wikipedia arbeiten, Artikel ergänzen, verbessern, schreiben. Und eben auch Neulingen ermöglichen, den Einstieg in die Wikipedia zu finden.“ So die Bibliothekarin Marlene Neumann, die zusammen mit Katharina Leyrer zur Erlanger Women-Edit-Gruppe gehört, zur Fraueneditiergruppe, wie es sie derzeit an genau zwei Orten in Deutschland gibt: in Erlangen und in Berlin. Fakt ist: Als Autorinnen und Bearbeiterinnen sind Frauen in der Wikipedia immer noch dramatisch unterrepräsentiert.
„Die 'Projekteule 2019' habe ich stellvertretend bekommen für Women Edit, weil dieses Projekt Women Edit eines ist, was seit so vielen Jahren kontinuierlich immer wieder konstruktiv Autorinnen dabei unterstützt, bei der Wikipedia mitzuarbeiten oder zu der Wikipedia beizutragen“, erzählt Iva Berlin aus ihrer Erfahrung.
Hoaxe und Fälschungen
"Fehlinformationen machen nur einen verschwindend kleinen Teil der Wikipedia aus. Das Gros der Wikipedia-Einträge führt vielleicht auf abseitige Wissenswege, den sogenannten Inklusionisten zum Wohlgefallen, verkörpert zugleich aber", wie Iva Berlin betont, "genau jenes unerwartet Neue, das über die Idee der gedruckten, klassischen Enzyklopädie hinausgeht."
Pavel Richter warnt hingegen: „Glaubt nichts, was in Wikipedia steht! Tut es nicht! Aber glaubt auch nicht, was in der FAZ oder was im Deutschlandradio läuft! Man soll nicht glauben, was einem vorgesetzt wird. Man soll kritisch denken, man soll mitdenken, man soll möglichst mehrere Quellen nehmen. Natürlich tun wir das nicht alle, und in ganz vielen Situationen ist es auch einfach nicht nötig, weil davon ja weder Leben noch Gesundheit abhängt. Aber man sollte niemandem einfach erstmal so vertrauen. Das gilt für die Wikipedia, wie es auch aus meiner Sicht für alle anderen Medien gilt.“
Als Lexikon forscht Wikipedia nicht selbst, sondern sammelt nur, was andere eruiert haben. Der Kernsatz dazu lautet: keine Theoriefindung.
Philip Roth ist "keine glaubwürdige Quelle"
„Liebe Wikipedia, ich bin Philip Roth. Ich hatte kürzlich Anlass, zum ersten Mal den Wikipedia-Eintrag zu lesen, der meinen Roman ‚Der menschliche Makel‘ behandelt. Der Eintrag enthält eine schwerwiegende Falschaussage, die ich bitte, entfernen zu lassen.“ So beginnt ein offener Brief des berühmten, inzwischen verstorbenen amerikanischen Romanciers Philip Roth vom 6. September 2012 im New Yorker. „Als ich kürzlich über einen offiziellen Gesprächspartner Wikipedia bat, diese (…) Falschaussage zu löschen, wurde vom ‚englischen Wikipedia-Administrator‘ mitgeteilt, dass ich, Roth, keine glaubwürdige Quelle sei.“
Noch gravierender wird es allerdings, wenn Falschinformationen in einem biografischen Wikipedia-Eintrag das Potenzial haben, den Ruf eines Menschen zu ruinieren. Richters Leitspruch dazu lautet: „Ein Wikipedia-Artikel ist nicht falsch, er ist nur noch nicht fertig.“
Dass viele Menschen an einer Enzyklopädie mitarbeiten, ist historisch nichts Neues – wohl aber die für jeden offen zugängliche Versionierung. Richter findet es spannend „wenn Sie das unter kulturhistorischen Betrachtungen sehen und jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie können sich einfach angucken, wie sich ein Artikel in den letzten zwanzig Jahren verändert hat. Denn was Sie dann eigentlich sehen, ist nicht, wie sich der Wikipedia-Artikel verändert hat, sondern was Sie sehen, ist, wie sich unser eigenes kulturelles Gedächtnis verändert hat."
Zahlendreher im Brockhaus
Richter erwähnt in diesem Zusammenhang folgendes Beispiel: „Wenn Sie, liebe Hörerin oder lieber Hörer, zu Hause noch eine gedruckte Enzyklopädie haben, eine deutsche, die nach 1950 erschienen ist, dann können Sie jetzt aufstehen. Nehmen Sie sich den Band des Buchstaben 'R' und gucken nach dem Artikel über den Rhein, den deutschesten aller Flüsse. Und dann gucken Sie mal, wie lang der Rhein ist. Da steht: Der Rhein ist 1.320 Kilometer lang. Das stand auch jahrelang so in Wikipedia, das stimmt aber leider nicht.
Der Rhein ist 1.230 Kilometer lang. Das war ein Zahlendreher, der irgendwann mal entstanden ist. In den 1920er- und 30er-Jahren, in den Meyers und Brockhauses dieser Zeit steht 1.230 Kilometer drin. Da war’s also richtig. Und irgendwann gab’s einen Fehler, und alle haben diesen Fehler übernommen. Gucken Sie jetzt mal in Wikipedia nach. Da ist der Rhein nicht nur 1.230 Kilometer drin, sondern ist, glaub ich, mittlerweile 1.236 Kilometer, weil er tatsächlich noch mal nachgemessen wurde. Und sich eben auch die Erkenntnisse über die Länge des Rheins immer wieder verändern. Also was ich damit sagen will, ist: Fehlerfreiheit ist nicht anzustreben, Fehler sind in Wikipedia aber eben korrigierbar."
Ist Wikipedia also Weltwissen ohne Gewähr? Weltwissen war, ist und bleibt immer ohne Gewähr. Es ändert sich unaufhörlich, wie ein bewegter Ozean, in dessen Tiefen Schätze warten und Gefahren lauern. Vielleicht ist der Vergleich mit einem Garten das schönste Bild. Denn darin erblühen und verwelken kurzlebige Pflanzen ebenso, wie uralte Bäume die Zeitläufte überdauern. So könnte es auch mit dem Wissen sein. Und man sieht: Manche Pflanzen brauchen lange Zeit zum Wachsen.
Literatur:
Jimmy Wales: Alles über Wikipedia, Hoffmann und Campe Verlag, September 2011
Pavel Richter: Die Wikipedia Story, Campus Verlag, November 2020
Ziko van Dijk: Wikis und die Wikipedia verstehen, transcript Verlag, März 2021
Das Manuskript zur Sendung finden Sie hier.