Michael Seemann, geboren 1977, studierte Angewandte Kulturwissenschaft in Lüneburg. Seit 2005 ist er mit verschiedenen Projekten im Internet aktiv, bloggt unter mspr0.de, podcastet unter wir.muessenreden.de und schreibt für verschiedene Medien. Er ist Mitbegründer von "Otherwise Network", einem Think-Tank für Technologie, Gesellschaft und den digitalen Wandel ownw.de.
Das Weltwunder altert
04:10 Minuten
Wer das Online-Lexikon Wikipedia häufig nutzt, dem wird es aufgefallen sein: Derzeit sind mehr als 3500 Artikel als „veraltet" markiert. Für den Kulturwissenschaftler Michael Seemann ist das ein Ausdruck der Krise der digitalen Gesellschaft.
Infrastruktur hat die Eigenschaft zu verschwinden. Das tut sie auf zweierlei Arten: Zuerst verschwindet sie aus unserem Bewusstsein. Infrastruktur ist das, was wir n icht mehr wahrnehmen, weil es halt immer da ist – so wie Luft. Und genau das ist der Grund, warum Infrastruktur dann auf eine zweite Art verschwindet. Sie verfällt, weil niemand sich darum kümmert.
Die gute Nachricht ist, dass die Infrastruktur in ihrer Dysfunktionalität wieder sichtbar wird. Und deswegen sprechen wir heute über die Wikipedia. Die Wikipedia ist in der Krise. Sie ist inhaltlich oft veraltet, ihre freiwilligen Editoren auch, zumindest fehlt der Nachwuchs. Die Community ist nach wie vor zu über 90 Prozent männlich, schlohweiß und die Stimmung – insbesondere gegenüber Neulingen – wird häufig als "toxisch" bezeichnet.
Die gute Nachricht ist, dass die Infrastruktur in ihrer Dysfunktionalität wieder sichtbar wird. Und deswegen sprechen wir heute über die Wikipedia. Die Wikipedia ist in der Krise. Sie ist inhaltlich oft veraltet, ihre freiwilligen Editoren auch, zumindest fehlt der Nachwuchs. Die Community ist nach wie vor zu über 90 Prozent männlich, schlohweiß und die Stimmung – insbesondere gegenüber Neulingen – wird häufig als "toxisch" bezeichnet.
Positive Vision der digitalen Gesellschaft
Dabei ist die Wikipedia ein wesentlicher Teil der Wissenschaftsinfrastruktur der Gesellschaft geworden. Angefangen hat sie als Weltwunder. Tausende angefragte, ungelernte, meist anonyme Autoren und Autorinnen sollen gemeinsam und unentgeltlich eine umfassende Enzyklopädie entwickeln? Das konnte in der Theorie nicht funktionieren, aber in der Praxis ging es überraschend gut.
Deswegen geht die Krise der Wikipedia weit über sie hinaus. Sie ist das Vorzeigeprojekt, wenn es darum geht, eine positive Vision der digitalen Gesellschaft zu zeichnen. Die Wikipedia – so könnte man sagen – ist gerade in den Zeiten, in denen sich die Debatte um das Internet so sehr verdüstert, die letzte digitale Utopie. Ein freier Ort des Weltwissens – geschaffen aus nichts als dem Drang des Menschen, sein Wissen zu teilen. Die Wikipedia ist auch ein letztes positives Menschenbild.
Neulinge werden oft brüsk abgewiesen
Studien um Studien haben die Probleme der Wikipedia längst analysiert. Es war ausgerechnet die erfolgreiche Wachstumsphase bis 2007, die zu ihrer derzeitigen Krise führte. Als auf einmal so viele Neulinge kamen, mussten straffere Strukturen, strengere Regeln und engere Qualitätskriterien eingezogen werden. Die Folge: Neulinge werden oft brüsk abgewiesen, wenn sie zum ersten Mal etwas ändern oder hinzufügen wollen. Die Meisten kommen nach dieser Erfahrung nicht mehr wieder.
Doch da ist noch etwas anderes: Zur gleichen Zeit – ab 2007 – bekommen die Sozialen Netzwerke enormen Zulauf. Und in gewisser Weise stehen sie in Konkurrenz zur Wikipedia – denn auch hier kann man sein Wissen weitergeben.
Bei Wikipedia wird um den Standpunkt gerungen
Der Unterschied ist folgender: Während ich in der Wikipedia mein Wissen gegen eine vorhandene Gruppe von Menschen beweisen, rechtfertigen und verteidigen muss, kann ich es auf Twitter oder Facebook einfach posten. Vielleicht widerspricht mir jemand. Vielleicht wenden sich Leute von mir ab. Aber oft wenden sich mir auch Leute zu. Ein sozialer Sortierungsprozess beginnt.
In den sozialem Medien versammeln sich die Menschen um ihre jeweiligen Wahrheiten. Wem die eine Wahrheit nicht passt, der geht in die andere Gruppe. Und von der eigenen Gruppe aus kann man dann gemeinsam die andere Gruppe mit der falschen Wahrheit beschimpfen. Das Ringen mit fremden Menschen um einen "Neutralen Standpunkt", der bei der Wikipedia die Leitlinie der Zusammenarbeit bildet, wirkt dagegen anstrengend und das Ergebnis – der Kompromiss – wirkt unbefriedigend.
Sinnbild für die Krise der digitalen Gesellschaft
Insofern ist die Krise der Wikipedia ein Sinnbild für die Krise der digitalen Gesellschaft und damit der Gesellschaft im Ganzen. Das Internet hat uns Möglichkeiten der Kommunikation gezeigt, die so frei sind, dass wir uns nicht mehr einigen müssen. Aber wenn wir uns nicht mehr einigen, hören wir auf eine Gesellschaft zu sein. Wir sollten gebannt auf die Entwicklung der Wikipedia schauen. Sie ist nicht nur die Infrastruktur unseres Wissens, sondern auch unsere Zukunft.