Vom Verschmelzen mit der Natur
05:53 Minuten
Jamey Bradbury
Aus dem Englischen von Lydia Dimitrow
WildLenos, Basel 2022390 Seiten
26,00 Euro
Die Natur von Alaska ist mächtig und mysteriös: Davon erzählt Jamey Bradbury in ihrem Debüt. „Wild“ ist eine faszinierende Variante des zur Zeit hoch im Kurs stehenden „Nature Writings“ - ein Roman, der sämtliche Grenzen ignoriert.
Es ist ein seltsam zeitloses Alaska, das Jamey Bradbury in ihrem Debütroman „Wild“ ausbreitet. Eine riesige, unberührte Naturlandschaft, betörend schön, mit großer, vielfältiger Flora und Fauna, klarer, saubere Luft, einem riesigen Himmel, regelmäßig aufeinander folgenden Jahreszeiten mit allen ihren Naturgewalten – Schnee, Regen, Sturm, Nebel. Das Land ist nur dünn besiedelt, es gibt nur wenige Straßen, auf denen nur wenige Menschen mit ihren Pickups verkehren, zeitgenössische Kommunikationstechnologie scheint nicht verbreitet zu sein, man telefoniert über das Festnetz, wenn überhaupt. Von Klimawandel und Ausbeutung der Natur keine Spur.
Die Jägerin trinkt das Blut der Beute
In dieser rauen Idylle lebt die 17-jährige Tracy mit ihrem Vater und ihrem Bruder. Die Mutter ist vor einiger Zeit bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Familie lebt von der Zucht von Schlittenhunden, der Vater ist ein berühmter ehemaliger Iditarod-Musher – der Iditarod ist das längste Schlittenhunderennen der Welt, das jährlich stattfindet, Musher nennt man die Schlittenlenker.
Tracy brennt darauf, in seine Fußstapfen, besser Schlittenspuren, zu treten, selbst das Iditarod zu fahren ist ihr großer Traum. Sie ist extrem naturverbunden, am liebsten streift sie durch die Wälder, die Jagd auf Tiere ist ihre Passion. Aber nicht nur Passion: Wenn sie das Blut ihrer Beute trinkt, nimmt sie damit die Erfahrungen, die Wahrnehmungen und die Energie des jeweiligen Tieres auf.
Ein verletzter Mann im Wald
Ihre Mutter, die dieselbe Disposition hatte, hatte sie gewarnt, niemals das Blut von Menschen zu trinken. Ein Vorsatz, der sich nicht halten lässt. Denn Tracy verletzt im Wald einen Mann, der sie, wie sie glaubt, angreift. Sie ist fest davon überzeugt, dass er nach seiner Genesung auf Rache aus ist.
Stattdessen taucht ein junger Herumtreiber namens Jesse auf, in den sich Tracy verliebt – Jesse ist eine non-binäre Person, die Tracys erwachende Sexualität herausfordert. Um sich, ihre Familie und vor allem Jesse vor dem unbekannten Verletzten zu schützen, wird sie immer paranoider, immer verwirrter – und steuert auf eine Katastrophe zu.
„Wild“ ist eine faszinierende Variante des zur Zeit hoch im Kurs stehenden „Nature Writings“, ein Roman, der seine „paranormalen“ Elemente dazu benutzt, um tradierte Abgrenzungen zu schleifen beziehungsweise zu ignorieren: Die Grenzen zwischen Mensch und Natur, zwischen Intellekt und Instinkt, die Grenzen zwischen Geschlechterrollen und Geschlechteridentitäten.
Zwischen Halluzination und scharfkantiger Realität
Bradbury zieht dieses Prinzip bis zur grammatikalischen Ebene des Textes durch, in dem sie etwa mitten im Satz die Erzählerinstanz, das „Ich“, wechselt. Dadurch entstehen wundersam verwirrende Passagen zwischen Halluzination, Vision, Traum und scharfkantiger Realität. Weil Bradbury glücklicherweise jegliche Erklärung oder Plausibilisierung verweigert, die eine bestimmte Lesart – realistisch oder phantastisch – favorisieren könnten, entzieht sich der Roman auch der Kategorisierung. Er ist weder Vampir-Roman noch Country Noir, noch sonst etwas. Auch auf der Ebene der Makrostruktur gibt es keine Grenzziehungen, keine sinnvolle Definition.
Deswegen braucht Bradbury auch kein im zeitlichen Kontext festgeschriebenes Alaska, sondern nur eine mysteriöse, übermächtige Natur, mit der am Ende die Protagonistin gleichsam verschmilzt. Darin kann man gerne ein utopisches Moment sehen – wenn denn die Menschen bereit wären, die künstlichen, menschengemachten Grenzen aufzuheben. „Wild“ ist ein sehr komplexer Roman, der erhebliche Aufmerksamkeit bei der Lektüre einfordert.