Wild und lebendig

Von Marcus Weber |
Die Tarantella ist lebendig, wild und exstatisch. Doch in Italien gilt dieser traditionelle Tanz als bäuerlich und rückständig. Der Wahl-Berliner Francesco Campitelli möchte diese Tanz-Tradition erhalten und tritt mit seiner Tarantella-Gruppe am Wochenende beim Karneval der Kulturen in Berlin auf.
"Unsere Eltern, die haben versucht immer, uns fern davon zu halten, weil das sind die Bauern, die sind ungebildet, das ist was Unkultiviertes, bah, primitiv. Also und für uns war umso neugiererregend, ne."

Das Unbehagen der Eltern hat offensichtlich wenig genutzt. Barfuß steht Francesco Campitelli auf der Tanzfläche. Es ist Freitagabend und der inzwischen 47-Jährige hat zum "Ballo popolare" geladen – der monatlichen Tarantella-Tanznacht in Berlin. Etwa 80 Leute sind gekommen. Knapp die Hälfte von ihnen bildet in der Saalmitte einen erwartungsvollen Kreis.

Campitelli, in schwarz-grau karierter Stoffhose, einem schwarzen T-Shirt und einer ebensolchen Lederweste, erklärt die Tanzschritte.

"Stellt Euch vor, ihr seid auf einer Uhr, und ihr seid auf Halb. Also von Halb geh ich mit dem rechten Fuß auf Viertel nach. Und Antippen mit Links. Und dann mit Links auf volle Stunde und dann Antippen mit Rechts. Mit rechts auf Viertel vor …"

Wohlgemerkt: Francesco Campitelli ist kein Tanz-, sondern Deutschlehrer. Er stammt aus der Basilicata, einer dünn besiedelten, ärmlichen Region im Süden Italiens. Und dort liegen auch die Wurzeln der Tarantella. Beinahe jedes Dorf der Gegend hat seine eigene Art des Tanzes. Ursprünglich sollte mit dem Ritual der Biss der Tarantelspinne geheilt werden. Heute wird die Tarantella vor allem bei Madonnenfesten und beim Karneval getanzt.

"Tamburello, also die Schellentrommel. Dann die Gitarre – das waren die zwei rhythmischen Elemente. Und dann kamen so die melodischen Elemente, die Geige und das Akkordeon. Und die melodischen Elemente steigern sich immer in diesen Rhythmus hinein. Und die machen so wie eine Spirale, ne, es erzeugt so Trance-Zustände."

Campitelli stellt die Musik an und gibt in der Mitte des Kreises den Vortänzer. Mit seinen kurzen schwarzen Haaren, den dunklen Augen und dem Spitzbärtchen ist er der typische, etwas kleingewachsene Italiener.

Hin und wieder ruft er den Neulingen zu, welche Tanzschritte an der Reihe sind. Aber im Grunde ist er in seinen eigenen Tanz versunken. Campitelli – das gibt er gerne zu – hat den Abend arrangiert, um selbst Tarantella tanzen zu können. Das gleiche gilt für seine wöchentlichen Tarantella-Tanzkurse.

"Als Kulturnutzer ist mir Berlin einfach zu vielfältig. Ich kann in Berlin nur als aktiver Mensch Kultur erleben. Zum Beispiel, wenn ich zu einer Party geh, langweile ich mich oft. Ich find's viel besser, Partys zu organisieren, als bei Partys teilzunehmen."

Vor 20 Jahren hat Campitelli seine Heimat verlassen und ist nach Berlin gezogen - um "alternative Lebens- und Arbeitsformen zu erkunden", wie er heute sagt. Gemeinsam mit Kollegen, die wie er auf der Suche nach Arbeit waren, initiierte er das EU-Sprach-Lern-Projekt "Understandingbus". Das Lernen der Sprache und Kultur eines Landes sollte dabei eng miteinander verknüpft werden.

"Wir sind durch ganz Europa mit Jugendlichen gefahren. Und die Idee war praktisch: Wie lernt man von der Umgebung? Wie mache ich die Tatsache, dass es Werbung auf der Straße gibt, zu einer Lernerfahrung?"

Inzwischen arbeitet Campitelli als freier Dozent für Italienisch. Sprache und Tanz sind für ihn unterschiedliche Formen von Kommunikation. Denn auch bei der Tarantella gibt es eine "Grammatik" aus Schrittregeln. Aber sie allein reicht für einen Tanz nicht aus, sagt Campitelli. Vielmehr müssen die Tänzer wie in einem Gespräch aufmerksam sein und einander zuhören.

"Es gibt keine führende Person. Jeder versucht, sich irgendwie durchzusetzen. Und dann kommt das Problem: Wie mach ich das sichtbar, dass ich was machen möchte, was anders ist, als was wir vorher gemacht haben. Und da tritt die Kommunikation ein, dass die Leute sich verständigen, ohne zu sprechen."

Es ist diese alte Tradition des Tarantella-Tanzens, die Francesco Campitelli neu beleben möchte. Und dabei kämpft er noch heute gegen die Vorurteile der meisten Italiener, für die die Tarantella nach wie vor bloß etwas Bäuerlich-Dörfliches und damit rückständig ist.
"Wobei viele Sachen der Volkskultur, der bäuerlichen Kultur eigentlich ein Element an Schönheit haben, was immer verkannt worden ist. Und das sind paar Sachen auch, die man in der Großstadt retten könnte von diesem religiösen Leben."

So hat Campitelli für seinen diesjährigen Umzugswagen beim Karneval der Kulturen das Motto "Das mobile Fegefeuer" gewählt. Er will thematisieren, wie anonym in der Großstadt gestorben wird, während es in den Dörfern der Basilicata noch immer gemeinschaftliche, ritualisierte Formen des Trauerns gibt.

Allein in die Gestaltung des Wagens investierte Francesco Campitelli einen ganzen Monat Arbeit. Und das Material sowie die Anmietung des Lkws bezahlte der Single teilweise aus der eigenen Tasche. Aber das ist es ihm wert. – Er freut sich eben darauf, bald wieder Tarantella zu tanzen.

"Das ist bei mir immer so. Wenn ich also zum Beispiel einen Tag keine Tarantella gehört habe – und schon höre ich die erste Noten und schon fangen die Beine an zu zittern."