Wälder und Naturschutz
Die Natur sich selbst überlassen – das wollen auch Umweltschützerinnen und Umweltschützer in einem großen Projekt rund um das Stettiner Haff an der deutsch-polnischen Grenze. © imago / Nature Picture Library / Wild Wonders of Europe
Europa soll wieder wilder werden
29:07 Minuten
Mit dem sesshaften Menschen verschwanden auch wilde Tierarten. Durch ambitionierte Naturschutzprogramme sollen nun ursprüngliche Naturlandschaften von Lappland bis Rumänien wieder entstehen. Mit der Wildnis kommen aber auch alte Ängste zurück.
Im 18. Jahrhundert beschreibt der italienische Gelehrte Giambattista Vico die ersten Menschen als wilde Waldbewohner. In seinem Hauptwerk „Scienza Nuova“ schildert er ein Gewitter als Schlüsselerlebnis für die Bewohner dieser dunklen Welt – und für die ganze Zivilisationsgeschichte.
"Sie hörten Blitz und Donner und begriffen bei der Gelegenheit zum ersten Mal, dass es ein Jenseits des Waldes gibt. Und sie wollten dieses Jenseits erkunden. … Sie brannten und schlugen eine Lichtung in den Wald. Und das – dieses Schneiden der Lichtung in den Wald – das ist nach Vico die Ursprungsszene der Zivilisation. Weil jetzt inmitten dieses Dickichts, dieser Wildnis, dieser letztlich ursprünglichen Heimat ein neuer Ort entsteht. Ein freier Ort, ein offener Ort, an dem man den Himmel beobachten kann.“
Christoph Quarch, organisiert als Philosoph und Publizist regelmäßig philosophische Waldwanderungen.
"Sie siedelten auf der Lichtung, wurden dort heimisch. Und in dem Augenblick, als das geschah, wurde der Wald, die ursprüngliche Heimat, zu einem unheimlichen Ort. Zur Gegenwelt der Lichtung, aus der man sich entfernt hatte. Und von der man sich mit jedem Tag, den man sich auf der Lichtung einrichtete, immer mehr entfernte."
Wild, wilder, Wald
Auch aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der Wald in unseren Breiten die wesentliche Form der Wildnis.
"Ein sehr, sehr großer Teil Deutschlands wäre wohl von Wald bedeckt, wenn wir nichts tun würde."
Manuel Schweiger, langjähriger Wildnis-Experte der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. Seit September leitet er den Nationalpark Kellerwald-Edersee in Hessen.
"Wenn wir Wälder sich selbst überlassen, dann entstehen da durchaus interessante und vielfältige Lebensräume. … Je nach der Dynamik, die in dem Gelände besteht – zum Beispiel an Hängen – können durchaus auch dauerhaft offene Bereiche bestehen. Wenn wir auch gerade im Zusammenhang mit Fließgewässern wieder Dynamik zulassen und dann eben auch die Wildtiere zulassen, die dann die Flächen länger offenhalten, haben wir durchaus auch immer Offenlandbereiche drin."
Die Natur sich selbst überlassen – das wollen auch Umweltschützerinnen und Umweltschützer in einem großen Projekt rund um das Stettiner Haff an der deutsch-polnischen Grenze. Morgendunst liegt über der Lichtung im dichten Wald bei Stepnica. Nur ein Kolkrabe ist schon unterwegs. Sonst ist es still.
In der Dämmerung dieses Herbstmorgens bin ich mit dem Naturschützer Peter Torkler hier, um Wildtiere zu beobachten. Davon soll es in dem ausgedehnten Waldgebiet auf der polnischen Seite des Stettiner Haffs reichlich geben. Reglos warten wir unter einem Baum, um die Tiere nicht zu verschrecken.
„Wir sind gerade in der Zeit der Hirschbrunft. Und mit viel Glück sehen wir eben einige Hirsche, die hier ihr Gebrüll von sich geben. Wenn man richtig Glück hat, kommt auch mal ein Wolf vorbei. Das ist sicherlich nicht auf Bestellung möglich.“
Die Erstausstrahlung dieses Features war am 25.11.2021.
Man kann solche Begegnungen in freier Natur nicht planen. So lassen sich an diesem Morgen weder Rotwild noch Raubtier blicken. Nur ein Rehweibchen und zwei Jungtiere fressen für einige Minuten lautlos auf der Lichtung, bevor sie mit federnden Sprüngen wieder im Wald verschwinden.
„Wir sind jetzt dabei rauszufinden, wie die Vielfalt hier ist an Tieren. Haben also auch begonnen, mit Wildkameras Aufnahmen zu machen. Und ab und zu ist es eben auch sinnvoll, selber im Gelände mal zu schauen, ob und wo die wirklich relevanten Wildwechsel stattfinden und wo die Tiere lang wandern, dass man dann natürlich auch weiß, wo man genauer hingucken sollte.“
Artenvielfalt zwischen Ostsee und Stettin
Peter Torkler arbeitet an einem Wildnisprojekt auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze. Im Stettiner Haff mit seiner 70.000 Hektar großen Wasserfläche mündet die Oder in die Ostsee. Die Region rundherum ist dünn besiedelt.
„Das gesamte Gebiet umfasst die Fläche von 450.000 Hektar. Das sind Gebiete 20, 30 Kilometer westlich, östlich des Stettiner Haffs zwischen Ostsee und Stettin, in denen wir aktiv sind. Also mit großen Waldkomplexen, die noch relativ unzerschnitten sind.
Große Wasserflächen, also das gesamte Haff-Gebiet, Dünengebiete, Feuchtgebiete, Flussauen. Die Vielfalt der Landschaft ist eben auch etwas, was die Vielfalt der Tierwelt ausmacht. Weil viele verschiedene Lebensräume natürlich auch die Interaktion von vielen verschiedenen Tieren ermöglichen. Und die dann Lebensraum finden.“
Torkler und seine Mitstreiter wollen dafür sorgen, dass die vorhandene Wildnis wieder wachsen kann. Ganz ohne Zaun und offiziellen Schutzstatus wollen sie dafür die richtigen Bedingungen schaffen. „Rewilding Oderdelta“ heißt die Initiative.
„Tiere wie Elch, Wolf, Biber, Stör, auch Wisent – das sind eigentlich Tiere, die hier in diese Landschaft reingehören. Und das wollen wir eben möglichst auch den Leuten bewusst machen, dass hier eine einzigartige Natur existiert. Die es lohnt, auch zu bewahren, und die man durchaus auch genießen kann.“
Von Lappland bis zu den Karpaten
In Videos mit bombastischer Musik wirbt die Initiative „Rewilding Europe“ für ihre Ziele. Das Projekt am Stettiner Haff gehört zu diesem Netzwerk aus neun ähnlichen Vorhaben in ganz Europa – vom schwedischen Lappland bis zu den südlichen Karpaten in Rumänien.
Die Organisation will, dass Europa wieder wilder wird. Sie unterstützt Projekte, in denen landwirtschaftlich genutzte Flächen aufgegeben werden, um die Natur sich selbst zu überlassen. Große Pflanzenfresser wie Rotwild, Wisente oder Wildpferde sollen dafür sorgen, dass nicht überall nur Wald entsteht. Raubtiere wie der Wolf oder der Luchs wiederum kontrollieren den Bestand der großen Pflanzenfresser.
Die Renaturierung beginnt mit kleinen Schritten. Peter Torkler und einige seiner Mitstreiter am Stettiner Haff führen mich in einen dichten Mischwald. Hier haben sie vor einigen Wochen niedrige Dämme weggerissen, die zuvor den Wald vor dem nahen Fluss geschützt haben. Denn jetzt soll der Waldboden wieder Wasser speichern.
„Unser Hauptverständnis ist es, möglichst ungestörte Landschaften zu haben. Und dort, wo zum Beispiel Landschaften – also gerade Fließgewässer, Flüsse, die ja auch oft über Jahrhunderte reguliert worden sind – denen mit sanften, möglichst naturnahen Renaturierungsmaßnahmen einfach einen kleinen Schubser zu geben. Dass sich eben die Dynamik wieder von selbst entwickeln kann.“
Ein Schubser, damit die natürliche Entwicklung wieder einsetzt. Hier im Wald scheint das zu klappen: Schon nach wenigen Monaten ist der Boden wieder feucht geworden.
Noch stehen hier Pilze wie der Knoblauchschwindling, der typisch für trockene Standorte ist. Aber je näher wir einen kleinen Hang hinab zum Fluss gehen, desto dichter wird der Wald – und umso größer die Artenvielfalt.
„Hier sind wir in einem fast mittelgebirgsartigen Tal. Wo eben der Fluss wieder seinen natürlichen Lauf hat. Und auch sehr naturbelassen ist. Auch dank der Forste, die hier gerade an den Hängen keinerlei Bewirtschaftung machen. Wir sehen hier ganz viel Totholz. Sehr viele Pilze. Hier sieht man so kleinere Bereiche, wo Kiesbettenbänke sind. Da sind teilweise auch angelegte oder unterstützte Kiesbänke, die eben als Laichplätze für Forellen und Lachse fungieren.“
Der Mensch kam und Tiere verschwanden
Die Artenvielfalt zu steigern – das ist das Hauptziel der Rewilding-Initiative. Seit Jahrhunderten hat der Mensch die Wildnis zurückgedrängt und Kulturlandschaften geschaffen: Er hat Wälder gerodet, Felder angelegt, Wege befestigt, Siedlungen und Städte gebaut. Viele Tier- und Pflanzenarten haben diese Entwicklungen nicht überlebt.
“Zunächst haben wir im Lauf der Jahrhunderte eine Menge Arten dezimiert. Vor allem die sogenannte Megafauna: die großen Säugetiere und die großen Vögel. Die Menschen haben viele davongejagt, etwa wegen Konflikten mit Schäfern. Deshalb sind viele Arten auf lokaler Ebene verschwunden – und viele auch auf globaler Ebene.“
Henrique Pereira, Naturschutzbiologe am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig.
“Dann sind da die menschlichen Aktivitäten der vergangenen Jahrzehnte, die zu großen Verlusten der biologischen Vielfalt geführt haben. Siedlungsverdichtungen zum Beispiel haben zu einem Rückgang von Insekten und Ackervögeln geführt. Die ländliche Infrastruktur ist für das Aussterben vieler Arten verantwortlich – von Amphibien bis zu Säugetieren. Und Städte ohne Grünflächen sind letztlich biologische Wüsten.“
Pereira begleitet das Rewilding-Projekt am Stettiner Haff wissenschaftlich. Er sieht darin eine Methode, um mit relativ wenig Aufwand viel für die Artenvielfalt zu erreichen. Wenn ein kleines Rewilding-Projekt erst angestoßen sei, könne es problemlos auf ein größeres Gebiet erweitert werden.
„Je größer der Ort ist, umso leichter ist die Pflege. In kleinere Flächen muss man in der Regel stärker eingreifen. Aber je größer das Gebiet ist, umso mehr kann man die Natur sich selbst überlassen und der Mensch muss nicht eingreifen. Ein Beispiel ist Feuer: In einem kleinen Stadtpark kann das Naturschutzmanagement keinen Brand zulassen. Das wäre einfach zu gefährlich für die Leute oder es würde den gesamten Park zerstören. Wenn Sie aber einen großen Wald mit Zehntausenden Hektar bewirtschaften, dann kann das Feuer vielleicht ohne Eingreifen in Teilen der Landschaft seinen Lauf nehmen.“
Rückkehr von Wildtieren weckt Ängste
Die Europäische Union hat in ihrer Biodiversitätsstrategie das Ziel ausgegeben, zehn Prozent der Fläche bis 2030 unter strengen Schutz zu stellen. In Deutschland wollte die Bundesregierung eigentlich bis 2020 auf zwei Prozent der Landesfläche Wildnis zulassen. Allerdings liegt das Ziel noch in weiter Ferne – nur 0,6 Prozent gelten derzeit als wild. Dabei kann die Wildnis auch helfen, die Erderwärmung zu bremsen.
„Wir brauchen mehr Natur: Mehr Vegetation und mehr Wald, um mehr Kohlenstoff zu speichern. Die Wiederbewaldung ist einer der effizientesten Wege, um das zu erreichen. Der Haupteffekt ist meiner Meinung nach, der Atmosphäre mehr Kohlenstoff zu entziehen.“
Mehr Wildnis zulassen, bedeutet für Einheimische in den Rewilding-Gebieten allerdings, sich in bestimmten Bereichen einzuschränken. Weniger Landwirtschaft und ein zurückhaltender Ausbau der Infrastruktur sind der Preis. Zudem weckt die Rückkehr großer Wildtiere Ängste. Schließlich will nicht jeder freilebende Wisenten im Wald begegnen. Und in vielen Regionen Europas beklagen Tierhalter, dass die zurückgekehrten Wölfe ihre Tiere reißen.
Am Stettiner Haff fährt ein Landwirt zu seinen Tieren, die weit verstreut auf trocken gelegtem Grünland hinter dem Oderdeich weiden. Es sind nur noch wenige Menschen, die hier von der Landwirtschaft leben. Andere arbeiten in kleinen Handwerksbetrieben vor Ort oder pendeln zur Arbeit ins nahe Stettin. In Stepnica wohnt seit 1988 auch Artur Furdyna, der früher als Fischer arbeitete und sich seit vielen Jahren für den Naturschutz engagiert.
„In unserer Region gab es nie viel Industrie. In unserer Gemeinde haben wir nur ein Sägewerk, wo jetzt aber Möbel gebaut werden – das sind aber nur wenige Arbeitsplätze. Aber hauptsächlich haben hier Fischer und Bauern gelebt, die das Grünland über Jahrhunderte als Weideland genutzt haben. Und Forstwirtschaft spielt eine Rolle, denn die Hälfte unserer Flächen sind bewaldet.“
Die Gebiete direkt am Haff gehören zu „Natura 2000“, einem EU-weiten Netz von Schutzgebieten. Bei vielen Einheimischen sind die damit verbundenen Einschränkungen unbeliebt – auch, weil bisher niemand die Chancen erläutert hat. Die Leute von der „Rewilding Oderdelta“-Initiative wollen den Menschen vor Ort klar machen, dass auch sie von der intakten Natur profitieren können.
„In unserer Gegend müssen wir das nicht nur erzählen, wir können es zeigen: Manche Einwohner profitieren von neuen Verdienstmöglichkeiten. Dank der Tourismusentwicklung können wir zeigen, dass es möglich ist, auch innerhalb eines Schutzgebietes mit einer wirtschaftlichen Perspektive zu leben.“
Naturtourismus kurbelt den Tourismus an
Iwona Krepic lebt bereits vom naturnahen Tourismus am Oderhaff. Die studierte Chemikerin hat vor einigen Jahren zusammen mit ihrem Mann die kleine Firma „Oderdelta Safari“ gegründet. Im Herbstwind gleich hinter dem Deich streifen sich zwei Frauen und ein Mann tarnfarbene Umhänge über, unter denen selbst die Gesichter verschwinden. Sie wollen aus nächster Nähe Rothirsche beobachten, die sich hier im Frühherbst zur Brunft einstellen. Iwona Krepic führt sie an die richtige Stelle.
„Naturtourismus heißt bei uns: Wir beobachten mit unseren Gästen die Tier- und Vogelwelt. Mein Mann und ich, wir sind beide Naturführer und zeigen den Besuchern die Wildnis aus nächster Nähe. Das ist unser Geschäft.“
Zur Safari nicht mehr bis nach Afrika fliegen, sondern Wildnis in Europa beobachten. Das spart Fernreisen – und die Touristen lernen ihren Kontinent von einer anderen Seite kennen.
„Manche sind überrascht, was wir hier in Europa für eine Tier- und Vogelwelt haben. Wir haben viele Gäste, die glücklich sind, dass sie diese Wildnis mitten in Europa beobachten können.“
Nichts Besonderes für Einheimische
An diesem Abend haben die Gäste Glück: Die Rothirsche lassen sich blicken. Ihre Brunftrufe sind kilometerweit zu hören, bis hinein in die umliegenden Dörfer. Für die Einwohnerinnen und Einwohner ist das Spektakel nichts Besonderes. Touristen aus den Großstädten aber zahlen gutes Geld, um diese Wildnis zu erleben. Davon profitieren nicht nur die Naturführer, sagt Iwona Krepic.
„Wir arbeiten mit Landwirten zusammen und nutzen deren Flächen zum Beispiel für Drachenflug. Die Einnahmen teilen wir mit den Bauern. Das ist natürlich erst ein Anfang. Aber die Einheimischen merken, dass sie von der intakten Natur profitieren können. Sie beschweren sich also nicht nur, weil der Biber, das Rotwild oder der Wolf Schaden anrichten. Ein anderes Beispiel sind die Fischer. Sie können Touristen in ihren Booten mitnehmen und ihnen zeigen, wo man Seeadler beobachten kann.“
Viele Touristen und Touristinnen durchqueren die Region bisher nur auf dem Weg zur polnischen Ostseeküste. Doch manche machen in Stepnica Halt. So wie Konstantin Kreiser.
„Das ist jetzt eine knappe Woche, die ich mit dem Fahrrad von Berlin aus Richtung Swinemünde unterwegs bin. Morgen geht es weiter nach Wollin.“
Kreiser arbeitet beim Naturschutzbund in Berlin. Auf solche öko-affinen Gäste hoffen die Leute am Haff.
„Mich interessieren vor allem die Vögel. Aber auch generell große unzerschnittene Landschaften. Und ein bisschen der Hauch von Wildnis, den man hier noch spüren kann. Den man in Deutschland in vielen Teilen nicht mehr so findet.“ "
Die irrationale Sehnsucht
In Deutschland hat Wildnis seit einigen Jahren Konjunktur. TV-Serien wie „Wildes Deutschland“ oder „Kielings wilde Welt“ feiern Erfolge mit Slow-Motion-Aufnahmen im Breitbildformat und sinfonischer Musik. Bücher wie „Into the Wild“ von Jon Krakauer oder Peter Wohllebens „Das geheime Leben der Bäume“ landen in den Bestsellerlisten. Der moderne Mensch nimmt Wildnis als Gegenwelt zu seiner urbanen, von Technik und Rationalität geprägten Welt wahr.
„Wildnis ist so was wie das mythische Erlebte draußen. Wildnis kann aber auch eine wilde, malerische Landschaft sein. Und gerade im Naturschutzbereich kommt noch so was rein, dass Wildnis faszinierende, dynamische Natur ist.“
Gisela Kangler, hat über den kulturtheoretischen Diskurs zur Wildnis promoviert.
„Dieses mythisch erlebte Draußen, eine unbekannte Wildnis, ist eine Gegend, die wir emotional unmittelbar wahrnehmen. In ihrem ganz anders Sein, in Irrationalität. Und das kann positiv sein, als befreiend spirituell. Kann auch negativ sein, als furchterregend. So was gab es natürlich in der Kulturgeschichte früher vor allem. Aber durchaus auch in der Moderne. Auch wenn wir das dann reflektieren können heutzutage, was wir da so empfinden.“
Mythische Naturbilder in der Romantik
Im Mittelalter taucht der Begriff „Wildnis“ erstmals auf – als das Gegenteil von Kultur. Er bezeichnet alles, was außerhalb der Gesellschaft steht. Nicht nur Wälder oder wilde Tiere, sondern auch Hexen und mystische Wesen. Der Begriff ordnet die Welt in das Innerhalb und das Außerhalb der Gesellschaft. Das ändert sich erst mit der Aufklärung. Seither versuchen Gelehrte und Wissenschaftlerinnen, die Zusammenhänge der Welt zu verstehen und die Unvernunft zu überwinden.
„Das löst dann eigentlich die Wildnis letztlich auf. Wenn man alles naturwissenschaftlich erklären kann, ist nichts mehr unbekannt und unberechenbar und erschreckend.“
In der Romantik entsteht das mythische Bild der Wildnis. Nach wie vor wurde Natur aber auch als Bedrohung wahrgenommen. Begegnungen mit wilden Tieren außerhalb der Dörfer waren gefährlich. Heute kommen wir im Alltag kaum noch mit Wildnis in Berührung. Deshalb sehnen wir uns zuweilen nach dem Nervenkitzel.
„Zumindest so im Urlaub oder am Wochenende suchen wir dann solche Dinge. Wirklich in unserem Alltag wollen wir es nicht haben. Die großen Hochwasserkatastrophen haben ja wieder einmal gezeigt, das ist ja etwas sehr Wildes: Plötzlich kommt der Fluss und macht alles kurz und klein. Das wünschen wir uns natürlich nicht. Das ist auch nicht die Sehnsucht. Sondern wir wollen, das dann doch irgendwie planbar haben, dass wir da hingehen und einen Abenteuerurlaub machen. Und dann aber wieder wohlbehalten zurückkommen.“
Die Naturwissenschaften definieren Wildnis heute ganz klar – mit Zahlen. Eine wilde Fläche muss mindestens 1000 Hektar groß sein – das sind mehr als 1000 Fußballfelder.
„Da tun wir uns natürlich in so einem dicht besiedelten und stark zersiedelten Land wie Deutschland sehr schwer.“
„Dadurch ist es eben schwierig, große zusammenhängende Gebiete zu finden. Und wir sind deswegen auch im internationalen Vergleich, wenn man sich das anschaut mit der Flächengröße von solchen Schutzgebieten, natürlich auch sehr weit unten.“
Die „Wildnis“ in Deutschland steht unter Schutz
Nationalpark, Biosphärenreservat oder Naturschutzgebiet – viele Flächen, die in Deutschland mit Wildnis assoziiert sind, unterliegen amtlichen Schutzbestimmungen. Aber es geht nicht darum, die Zivilisation als Gegenteil der Wildnis wieder zurückzudrängen.
„Die Zielsetzung ist nicht, wieder einen Urzustand, den es früher vielleicht mal gegeben haben mag, wiederherzustellen. Sondern das ist ein ergebnisoffener Prozess. Wir richten den Blick nach vorne und sagen jetzt: Unter den gegebenen Umständen lassen wir die Natur Herr im Hause sein und Natur, Natur sein lassen.“
In der Döberitzer Heide nur wenige Kilometer hinter der westlichen Berliner Stadtgrenze ist die Wildnis eingezäunt. 3650 Hektar eines ehemaligen Militärgeländes hier gehören der Heinz-Sielmann Stiftung. Ich begleite Hannes Petrischak, der für den Naturschutz verantwortlich ist, auf einer Kontrollfahrt. Dazu muss der Biologe zwei mit dicken Schlössern gesicherte Metalltore öffnen. Dann fahren wir los. Außer den Naturpark-Rangern darf hier niemand rein.
„Wir sind jetzt in der Kernzone. Hier leben Wisente, Przewalski-Pferde und Rotwild. Und diese Tiere können jetzt die Landschaft hier drin weitgehend unbeeinflusst gestalten. Das heißt: Es gibt dieses Projekt auch deshalb, weil man schauen will: Wie schaffen es denn die großen Pflanzenfresser, das die Landschaftselemente, die zum Beispiel offene Flächen beinhalten, auch offenbleiben. Weil sie eben den Aufwuchs fressen. Den Wald licht zu halten. Weil lichte Waldstrukturen auch für viele Arten ganz, ganz wichtig sind.“
Wir rumpeln über schmale Wege durch dichten Mischwald. Dann öffnet sich die Landschaft, der Blick weitet sich bis zum Horizont. Der karge Boden hier erinnert an Wüste.
„Wir sind oben auf der Endmoräne. Und das Ganze ist eiszeitlich mit Flugsanden überlagert worden. Deshalb ist hier dieser Sandboden. Und es fällt ab zu dieser alten glazialen Rinne. Wo man diese grünen Wiesenflächen unten sieht. Das sind Niedermoorböden. Da gibt es Röhrichte in der Mitte und außen rum Pfeifengraswiesen, sind ganz pflanzen- und tierartenreich. Sind mit die besten Wiesen in Deutschland, die es gibt von diesem Typ.“
Unberührte Natur
Mehr als 250 Jahre lang haben Militärübungen diese Landschaft beeinflusst. Während auf manchen Gebieten fast ungestört dichter Mischwald wachsen konnte, haben Panzerfahrten, Explosionen und Feuer die Landschaft an anderen Stellen offengehalten.
„Auf diese Weise haben wir hier einen unglaublichen Reichtum an verschiedenen Lebensräumen nebeneinander: Wald und Offenland, feucht und trocken, tiefer gelegene Flächen, höher gelegene Flächen. Mit unterschiedlichem Relief, auch tolle Dünenstrukturen. Und das bewirkt eben eine große Vielfalt an zum Teil sehr, sehr seltenen Arten, die in Deutschland auf der Roten Liste stehen, die oft sogar Rote-Liste-1-Arten sind.“
5500 Tier- und Pflanzenarten haben die Naturschützer hier vor einigen Jahren gezählt – vom Urzeitkrebs bis zum Wiedehopf. Ohne all diese Tiere und Pflanzen könnten auch die großen Wildtiere nicht überleben.
Auf unserer Kontrollfahrt beobachten wir ein großes Hirschrudel, vielleicht 50 Meter entfernt von uns auf einer Wiese. Später lassen sich auch die kompakten, hellbraunen Przewalski-Pferde blicken. Und dann entdecken wir sogar eine kleine Wisentgruppe aus zwei Kühen und einem Jungtier.
Vor gut hundert Jahren ist in Europa der letzte frei lebende Wisent geschossen worden. Erst Zucht – und Auswilderungsprogramme haben dafür gesorgt, dass wieder Exemplare der wilden Rinder in Freiheit leben – mehr als 90 Tiere in der Döberitzer Heide. Die schweren Wisente beobachten uns ein paar Minuten, eine Kuh kommt ganz nah ans Auto.
Dann trotten alle drei langsam in den weitläufigen Wald zurück. Der Elektrozaun um die Kernzone versperrt den großen Wildtieren den Weg auf die nahe Bundesstraße und den Berliner Autobahnring – aber auch den Zugang zur Havel. Deshalb können die Umweltschützer hier nicht wirklich alles sich selbst überlassen. Unterwegs passieren wir einen solarbetriebenen Brunnen.
„Das ist hier eine Tränke für die Tiere. Damit sichergestellt ist, dass die wirklich das ganze Jahr über Wasser zur Verfügung haben. Denn sie können ja nicht abwandern großräumig, zum Beispiel an die Havel.“
Einen Teil des Gebietes bewirtschaften die Mitarbeitenden der Sielmann Stiftung außerdem mit klassischen Naturschutzmethoden. Ab und zu müssen sie den Besenginster entfernen, der sich sonst großflächig ausbreiten würde. Die Wildtiere fressen die giftigen Sträucher nicht, und die Pflanzen überleben die mittlerweile milden Winter. Schafe weiden regelmäßig, um die Heide kurz zu halten. Petrischak bezeichnet das riesige Gelände deshalb nicht als Wildnis.
„Wildnis ist ein wesentlicher Teil unserer Biodiversität. Und auch absolut zu befürworten. Aber genauso ist die Vielfalt der Kulturlandschaft wichtig. Seit der Jungsteinzeit wird Landwirtschaft betrieben. Und oft hat der Mensch mehr Struktur in die Landschaft gebracht zunächst mal. Dadurch, dass er ja diesen Wechsel von Offenland und Wald erst mal so richtig großflächig auch erzeugt hat und unterschiedliche Nutzungsformen etabliert hat.
Und erst die Intensivierung, die Industrialisierung der Landnutzung der letzten Jahrzehnte hat eigentlich dafür gesorgt, dass gerade die Arten, die in der Kulturlandschaft zu Hause sind, dass die auf den Roten Listen sind. In den Roten Listen stehen nämlich nicht in erster Linie Waldarten inzwischen, sondern Offenland-Arten“
Dieser Erkenntnis trägt die Naturlandschaft Döberitzer Heide mit ihrer Mischung aus Wildnis-Elementen und klassischem Naturschutz Rechnung. Aber Deutschland insgesamt muss mehr Wildnis wagen. Das fördert die Biodiversität, bindet Kohlenstoff und bremst so die Erderwärmung. Davon profitiert am Ende vor allem: der Mensch.
Autor: Sven Kästner
Es sprechen: Lisa Hrdina, Lydia Heller, Haino Rindler und Torsten Föste
Regie: Beatrix Ackers
Ton und Technik: Martin Eichberg
Redaktion: Martin Mair