Linktipp: Wilhelm Heitmeyers Buch ist auch in unserer aktuellen Sachbuchbestenliste gelistet.
Über die Folgen der Normendiktatur des Kapitalismus
15 Prozent der Deutschen haben ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Warum erliegen so viele den autoritären Versuchungen? Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer erforscht diese Frage seit mehr als 30 Jahren.
Die Wirtschaft boomt, aber die Einkommen stagnieren. Der internationale Finanzsektor legt ein Pleitendomino hin, und Bürger bezahlen die Rechnung. Erwerbsarbeit wird prekär oder befristet. Der ärmste Teil der Bevölkerung wird praktisch aus der Gesellschaft ausgestoßen. Und eine neue Qualität von internationalem Terrorismus beeinträchtigt das alltägliche Sicherheitsempfinden.
Für Heitmeyer sind das alles typische Kennzeichen der Gegenwart, er nennt sie "Signaturen der Bedrohung". Und Ergebnisse eines "autoritären Kapitalismus". Der sei verantwortlich für Folgeerscheinungen wie soziale Desintegration, Kontrollverlust über das eigene Leben, oder für die Wahrnehmung, trotz Teilnahme an demokratischen Verfahren nichts zu bewirken. Eine Kettenreaktion, die zum Ruf nach Richtungsgebung führt.
Der "autoritäre Kapitalismus"
"Autoritäre Versuchungen sind vor diesem Hintergrund vor allem als Reaktionen auf individuellen oder gesellschaftlichen Kontrollverlust zu interpretieren. Sie erzeugen eine Nachfrage nach politischen Angeboten, die darauf abzielen, die Kontrolle wiederherzustellen, und zwar durch die Ausübung von Macht und Herrschaft sowie über Ausgrenzung und Diskriminierung bzw. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit."
Für Heitmeyer ist der "autoritäre Kapitalismus" deshalb Ausgangspunkt dieser Entwicklung, weil er längst in marktfernen Bereichen den Ton angibt, im Politischen wie im Sozialen, in der Bildung, sogar in Einzelnen, die sich gut verkaufen müssen. Fast nichts mehr, mit dem Menschen zu tun haben, steht nicht unter Evaluierungsdruck. Die Ökonomie hat Land und Leuten ihre Normenstruktur aufgezwungen.
Die AfD - "bloß" rechtspopulistisch?
Heitmeyers Zahlen sind Ergebnis repräsentativer Befragungen. Die Zahlen spiegeln einen fließenden Übergang zwischen rechtem Rand und politischer Mitte. Nach dem internationalen Finanzcrash stieg das rechtsextreme Potential im Westen auf 18, im Osten auf 25 Prozent an. Nach dem Finanzcrash nahm bei den Bestverdienenden die Zustimmung zur AfD signifikant zu – also viele Jahre vor der problematischen Flüchtlingspolitik. Was längst angerichtet war, brachten die Entwicklungen der Jahre 2015 und 2016 dann zum Kochen.
"Dadurch hat sich die emotionale Wucht noch verstärkt, weil zu den ohnehin drängenden Problemen die Unzufriedenheit über ihre fehlende politische Bearbeitung kam ... Beide, frustrierte Bürger und politische Akteure, bewegten sich auf der Aggressions- und Eskalationsspirale zunehmend nach oben. Die Mobilisierungsexperten haben in solchen Situationen leichtes Spiel, weil Wut eine hochgradig aktivierende kollektive Mobilisierungsquelle darstellt, die sie mit ‚verbindenden‘ Feindbildern bloß noch zu kanalisieren brauchen."
Der rechtsextreme Bodensatz, also die schon lange bekannten 15 Prozent, ergänzt durch Neueinsteiger, bildet sich seitdem im Parteienspektrum ab. Der vagabundierende Autoritarismus hat ein Zuhause. Heitmeyer lehnt die Bezeichnung "rechtspopulistisch" für die AfD ab, weil er sie verharmlosend findet. Ebenso wenig trifft nach seiner Meinung die traditionelle Bezeichnung "rechtsextremistisch" auf die junge Partei zu. Um ihre neue Qualität zwischen Parlament, sprachlichen Drohgebärden und rechtem Straßenkampf zu charakterisieren, nennt er sie eine Partei des "autoritären Nationalradikalismus". Sie habe Erfolg, weil Unzufriedene sich von ihr einen krisensicheren Identitätsanker erhoffen und weil sie verspreche, die Unübersichtlichkeit der Gesellschaft auf radikal nationale Weise zu beenden.
Völkisches Anschlussdenken - kein Tabu
Und zwar durchaus mit Hilfe bürgerlicher Eliten. Heitmeyer hat auch Intellektuelle als Fürsprecher roher Bürgerlichkeit ausgemacht. Etwa Thilo Sarrazin, der Muslime aus genetischen Gründen als nachrangige Menschen markierte. Oder Peter Sloterdijk, der vorschlug, das Steuersystem abzuschaffen und Bedürftigen mit freiwilligen milden Gaben zu helfen. Die Autoren mögen kritisiert worden sein, jedoch sorgen sie, laut Heitmeyer, dafür, dass nationalradikale Einstellungen im bürgerlichen Milieu ernsthaft diskutiert werden. Mit dem Ergebnis, dass völkisches Ausschlussdenken kein Tabu mehr ist.
"Genau das ist mit der Entwicklung einer rohen Bürgerlichkeit gemeint: Die soziale Ungleichheit wird in Ungleichwertigkeit verwandelt. Damit wird den Ärmeren die Anerkennung verweigert, die für die soziale Integration zentral ist."
Sloterdijks und Sarrazins Texte entstanden lange vor der Existenz einer AfD. Ihre Botschaften von minderwertigen Muslimen und zu hohen Sozialausgaben wirkten als Scharniere zwischen der Mitte und dem rechten Rand. In der öffentlichen Themensetzung dominiert der rechte Rand inzwischen sogar die Mitte. Das Feld rechts der Mitte wird immer breiter und ausdifferenzierter. Was laut Heitmeyer auch daran liegt, dass konservative Politiker ihre schlechten Wahlergebnisse bei gleichzeitigen Gewinnen der AfD verbessern wollen, indem sie nationalradikale Begriffe und Anschauungen übernehmen. Die Wähler scheinen das Original zu bevorzugen.
Absolute Pflichtlektüre
Gemeinsam sorgen Konservative und Rechte für eine weitere Verschiebung des Sag- und Diskutierbaren nach rechts. Oder anders gesagt: das völkische Argument kommt in der Mitte an.
"Wenn jedoch die Mitte ‚kippt‘, dann stehen weitere Anpassungsleistungen seitens aller parlamentarisch vertretenen Parteien zu befürchten, da letztere womöglich versuchen werden, mit Kontrollversprechen (Statussicherung, kulturelle Kontrolldominanz, Sicherheitskontrollen im öffentlichen Raum etc.) politische Zugewinne zu erzielen."
Will man die Gründe für den Aufwind Rechtsextremer verstehen, dann ist Heitmeyers Langzeituntersuchung ein absolutes Muss. Das Buch glänzt nicht allein mit Meinungen, sondern es zieht Schlüsse aus repräsentativen Befragungen. Und geschrieben ist es in einer sorgfältigen Sprache, die man bei Soziologen nicht allzu oft findet.
Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung 1
Suhrkamp, Berlin 2018
394 Seiten, 18 Euro