Setz schafft ein "Gleichgewicht des Schreckens"
Sein Thriller "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" zeige eine verborgene Seite unserer scheinbaren Normalität, lobte die Jury des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises. Sie verlieh dem Schriftsteller Clemens J. Setz die mit 30.000 Euro dotierte Auszeichnung - und zog Parallelen zwischen ihm und James Joyce.
Mit ebenso poetischen wie persönlichen Worten bedankte sich der Schriftsteller Clemens J. Setz für die Auszeichnung:
"Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis - und die damit verbundene Aufnahme in eine Reihe von mir verehrter Schriftsteller wie Christian Kracht, Rainald Goetz oder auch Heimito von Doderer - hält mich fest in einer bestimmten Phase. Für einen Augenblick, mitten in meiner Drehung wer weiß wohin, wurde ich angehalten und stehe nun in Verbindung mit ihnen, mit Euch, mit den Preisträgerinnen und Preisträgern der vergangenen Jahre. Ich bin hier, am Leben, wie so vieles vor und nach mir. Ich danke Ihnen von Herzen, für diese Ehrung, für diesen Augenblick..."
Sein Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" hatte neben vielen Lesern und Kritikern zuvor also auch die neun Jurymitglieder überzeugt. In ihrer Begründung heißt es: "Unsere Gegenwart ist noch verrückter, als wir ohnehin glauben. Und es gibt die andere, verborgene und faszinierende Seite unserer scheinbaren Normalität - wir müssen nur genau hinschauen". Ebendas habe Setz getan.
Ein Buch, das völlig aus dem Rahmen fällt
Der Roman erzählt eine Sequenz im Leben der jungen Natalie Reinegger, die bei ihrem ersten Einsatz als Betreuerin eines an den Rollstuhl Gefesselten in dessen Verstrickungen mit einem anderen Mann gerät. Es geht um Stalking, um alle Facetten von Gefühlen und ihre Inszenierungen, um die Vermischung von medialer, fiktionaler und realer Realität. Und, wie es der Kritiker und Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger in seiner Laudation ausdrückt:
"Ein Gleichgewicht des Schreckens herrscht in der "Stunde zwischen Frau und Gitarre" zwischen Männern und Frauen. Auch der Erzähler des Buches, der so unzweifelhaft ein Mann ist, fügt sich in diesen Zusammenhang. An Natalie hat er eine wahre Närrin gefressen. Über hunderte von Seiten hinweg verfolgt er all ihre Bewegungen, ihr ganzes Handeln und Tun. James Joyce war an Leopold Bloom nicht näher dran, als Setz es jetzt an Reinegger ist."
Nicht nur Kastberger, auch andere haben Roman und Autor schon euphorisch gelobt. Aber spielt Setz in einer Liga mit Joyce und Kafka? Jurymitglied und 3Sat-Redakteur Michael Schmitt verschiebt eine solche Einschätzung lieber in die Zukunft.
"Das werden wir in 100 Jahren wissen. Aber das ist ein Buch, das völlig aus dem Rahmen fällt in jeder Hinsicht. Da muss man sich drauf einlassen, man liest ja auch den Ulysses nicht einfach so, weil ich Lust hab, mich mal am Strand mal nett zu unterhalten. Da ist ein Stephen King wahrscheinlich geeignetere Buch, wie es Natalie wahrscheinlich lesen wird. Aber das ist- kann man das Sagen -? ein in Buch, das mit Sicherheit von diesem Jahrzehnt oder von diesem Jahrhundert übrig bleiben wird. Das ist streng in der Art und Weise, wie es ein Motiv immer wieder variiert. Das ist ziemlich großartig."
Der Leser kann sich Setz' Hauptfigur nicht entziehen
Setz ist 33 Jahre alt, lebt in Graz und hatte 2007 mit "Söhne und Planeten" seinen ersten Roman veröffentlicht, danach weitere Romane, Erzählungen und einen Gedichtband. Immer wieder werden seine Sprachmacht gelobt und seine Fähigkeit, die Welt neu zu beschreiben und im Alltag Parallel-Universen zu entdecken. Dabei wird die Welt mit den Menschen darauf oft schonungslos ausgeleuchtet, wie Zellen unter einem Mikroskop. Das Zeitkritische und die fast mitleidlose Reflexion dessen, was ist, verbindet ihn mit dem Namensgeber des Preises, Wilhelm Raabe. 2012 war Setz schon einmal auf der Braunschweiger Bühne, als Laudator für Christian Kracht. Heute zitierte er als Preisträger aus Raabes Erzählung "Die Leute aus dem Walde".
Dass Setz sein Publikum mit eigenen Texten verzaubern kann, wurde am Vorabend deutlich. Setz las aus dem ersten Kapitel von "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre":
"Natalie liebte alles, was weltumspannend war. Livesendungen, Mondphasen oder Stephen King. Sie liebte es , Geräusche und Stimmen aufzunehmen... Sie liebte Magazine und Versandkataloge, die älter waren als sie. Sie liebte ihr eigenes Passfoto..."
Wer den Roman liest, kann sich dieser Figur mit all ihren inneren und äußeren Kämpfen und Triumphen nicht entziehen. Vielleicht sei das die menschlichste unter seinen bisherigen Romanfiguren, sagt Setz:
"Mir erscheint, dass ich sie besser kenne als alle anderen Figuren. Ich habe ja sogar mich selbst mal als Hauptfigur verwendet, aber selbst diesen Clemens Setz im Roman "Indigo" kenn ich nicht so gut wie die Natalie. Jetzt weiß ich nicht, was sie macht - hoffentlich gibt es sie noch irgendwo."
Clemens J. Setz hat sich vor zwei Jahren mit der Fertigstellung des Romans von ihr verabschiedet. Aber auf den mehr als 1000 Seiten des Romans kann man ihr noch jederzeit begegnen.