Wilhelm Schmid: "Von der Kraft der Berührung"
Berlin 2019, Suhrkamp
101 Seiten, 8 Euro
Ich berühre, also bin ich
05:32 Minuten
Körperliche Berührung ist lebenswichtig, so weiß die jüngere Forschung - in der abendländischen Philosophie hingegen kommt sie kaum vor. In seinem neuen Buch plädiert der Lebensphilosoph Wilhelm Schmid für eine neue Kultur des Berührens.
Benni rastet aus, weil sie jemand im Gesicht angefasst hat. Durch die traumatischen Erfahrungen in der frühesten Kindheit lösen Berührungen bei dem 9-jährigen Mädchen Panikattacken aus. Der deutsche Spielfilm "Systemsprenger" zeigt die existenzielle Bedeutung körperlicher Berührung. Ein Thema, das lange vernachlässigt wurde, wie der Lebensphilosoph Wilhelm Schmid meint:
"Berührung war lange nicht im Fokus, weder der Menschen noch der Forschung. Das hat sich, was die Forschung angeht, seit etwa 30 Jahren geändert. Und von daher können wir heute sehr viel mehr wissen über die Wirkung der Berührung."
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus vor 30 Jahren kamen die erbärmlichen Zustände in rumänischen Waisenhäusern ans Licht, in denen man Kinder vorfand, die mangels körperlicher Zuwendung in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfen waren:
"Dann ging man diesem Phänomen der Berührung mal genauer nach und entdeckte Erstaunliches."
Berührung ist lebenswichtig
In seinem neuen Buch "Von der Kraft der Berührung" regt Schmid eine Kunst der Berührung an. Dass es dabei nicht einfach um Wellness gehe, hätten die wissenschaftlichen Erkenntnisse gezeigt:
"Die wichtigste könnte sein, dass über Berührung das Immunsystem überhaupt erst entsteht am Anfang des Lebens und auch bei Erwachsenen das Immunsystem gestärkt wird über biochemische Wirkungsketten, die auf der Oberfläche der Haut beginnen und durch den ganzen Körper wandern."
Aber auch die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hätten das Thema stärker in den Fokus gerückt:
"Wer es braucht, kann heute auf Kuschelpartys gehen, die es in jeder mittleren oder größeren Stadt gibt – ins Werk gesetzt vor allem von jungen Menschen, die merken, es fehlt ihnen was. Berührung haben sie zwar gelernt, aber nur auf dem Smartphone."
Verbreiteter Mangel an Berührung im Alltag
Sowohl die Digitalisierung als auch die Zunahme von Singles, die zum Beispiel in Berlin die Hälfte der Haushalte ausmachen, hätten ein verstärktes Bedürfnis nach Berührung geweckt. Schmid ist kein Kulturpessimist, er macht sehr pragmatische Vorschläge, wie man dem Mangel an Berührung im Alltag entgegenwirken kann:
"Berührung steht in ausreichendem Maße für jeden Menschen zur Verfügung. Ein Mensch, der alleine lebt, aber auch Menschen, die zusammenleben, können Haustiere haben. Außerdem kann man sich Berührung kaufen – durch Körpertherapie. Fußreflexzonenmassage sind wunderbare Berührungen. Und nicht wenige Menschen gehen zum Friseur, weil dann die Kopfhaut mal ordentlich massiert wird. Auch das Phänomen ist mittlerweile gut erforscht."
Der Körper als Wohnung der Seele
"Open your eyes and just look at each other": Ein Workshop, in dem behinderte und nicht-behinderte Menschen das gegenseitige Anfassen üben. Im halbdokumentarischen Film "Touch Me Not" wird Körperlichkeit auf radikal explizite Art sichtbar.
Es ist wohl kein Zufall, dass der Film den Wettbewerb der Berlinale gewann, der Körper ist in den kulturellen Fokus gerückt. Aber es geht Schmid auch um geistige Berührung – zwischen Menschen ebenso wie durch Bücher, Musik oder Kunst. Geist und Körper ließen sich nicht getrennt voneinander betrachten:
"Die Kunst der Berührung möchte nicht zum Körperkult beitragen, sondern zu einer Körperkultur, die dem Körper wieder das Recht gibt, das ihm zusteht, nämlich, wie das Platon mal sehr poetisch formuliert hat: Der Körper ist die Wohnung der Seele. Ohne Körper erfahren wir das Leben nicht."
Auch bei geistiger Berührung ist der Körper beteiligt
Wenn der Mensch durch Gedanken und Kunst berührt werde, sei der Körper immer unmittelbar beteiligt, sichtbar alleine daran, wie oft man sich beim Lesen durchs Gesicht fahre. Doch leider käme der Körper beim Kunstgenuss oft nicht zu seinem Recht:
"Skulpturen zum Beispiel, auch ich habe oft den Impuls, da möchte ich jetzt gerne das Material anfassen und vielleicht die Formen nachfühlen, aber das darf man nicht, 'bitte nicht berühren'. Ich versteh es ja, aber schade."
Für eine achtsame Kultur des Berührens
Michelangelo stellte die Erschaffung des Menschen dar, indem er Gott den Zeigefinger an Adams Finger halten lässt – so springt der Lebensfunke körperlich über. Die abendländische Philosophie hätte den Körper aber immer ignoriert:
"Deswegen schlage ich auch vor, vielleicht etwas von der cartesianischen Formulierung abzugehen, 'ich denke, also bin ich'. Nur weil ich denke, heißt das, bin ich, lebe ich überhaupt. Das kann nicht stimmen! Wenn ich keinen Körper hätte, dann könnte ich nicht denken und also auch nicht sein. Dem muss also was zugrunde liegen. Und das erfahren wir mit der körperlichen Berührung, sodass wir vielleicht besser formulieren würden: Ich berühre, also bin ich."
Schmid plädiert nicht für eine radikale Umkehr, sondern für einen achtsamen Umgang mit der Körperlichkeit. Denn Berührungen könnten – das zeige die MeToo-Debatte – auch missbräuchlich sein.