Vom Menschenkind zum Menschen
Allgemeinwissen als Wert an sich, freier Zugang zu Bildung - beides gilt heute als selbstverständlich, um 1800 musste es noch durchgesetzt werden. Ein zentraler Protagonist dabei: Der Universitätsbegründer Wilhelm von Humboldt.
Im berühmten 216. Athenäums-Fragment des Früh-Romantikers Friedrich Schlegel heißt es:
"Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes [Roman Wilhelm] Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters."
Bis heute klingt das 1798 veröffentlichte Fragment provokant: Ein Bildungsroman soll auf einer Stufe mit der weltbewegenden Revolution stehen?!
Bildungspathos um 1800
Tatsächlich drückt sich in Schlegels Bildungspathos der deutsche Zeitgeist um 1800 aus. Noch vor dem "Meister"-Autor Goethe war es allerdings Wilhelm von Humboldt, der zum deutschen Bildungstheoretiker und -praktiker Nr. 1 avancierte. Auf Schloss Tegel in exklusivem Privatunterricht erstklassig ausgebildet, glaubte Humboldt schon als junger Mann, sein eigener Weg sei der richtige für alle. Er behauptete:
"Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen."
Bildung macht das Menschenkind zum Menschen
Humboldts ganzheitliches Bildungsideal hatte viel mit Selbstverwirklichung zu tun und durchaus individualistische Züge. Er persönlich schwärmte wie andere Neuhumanisten bis zur Verblendung für das griechische Altertum. Zugleich sah der von der Aufklärung und Immanuel Kant geprägte Humboldt in der Bildung, die an keinen utilitaristischen Nutzen gebunden ist, sondern "das Menschenkind zum Menschen" macht, eine geradezu weltumspannende Kraft:
"Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man verlangt, dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, unter ihm herrschen."
Vom Untertan zum gebildeten Bürger
Akute politische Bedeutung bekam Humboldts Bildungskonzept, als Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon 1806 die größten Reformen seiner Geschichte einleitete. Humboldt, der 1808 die Abteilung "Kultus und öffentlicher Unterricht" im Innenministerium übernimmt, soll die Bildungsstruktur in Preußen und letztlich die Menschen selbst umgestalten. Denn im reformierten Staat, das erkennen die Reformer um Karl Freiherr vom Stein und Karl August Fürst von Hardenberg, wird ein selbstständiger, vergleichsweise emanzipierter, kurz: ein gebildeter Bürgertypus gefragt sein – kein bloßer Untertan.
Für Humboldt steht fest: Bildung darf nicht länger an Standeszugehörigkeit gebunden sein und ist etwas anderes als Spezialisten-Ausbildung.
"Es giebt", so proklamiert er, "schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf."
Reflexion und Argumentation statt bloßes Faktenwissen
Auf dieser Grundlage entwickelt Humboldt ein dreistufiges Unterrichtssystem, in dem Volksschule, Gymnasium und Universität die kirchlichen, privaten und städtischen Einrichtungen ablösen. Dabei führt Humboldt modern klingende Begriffe wie "Lernen des Lernens" ein und verblüfft mit dem Ansinnen, auch Handwerker sollten Altgriechisch können.
Bald gibt der organisatorisch begabte Studienabbrecher entscheidende Impulse zur Gründung der seit längerem vorbereiteten Berliner Universität. Sie orientiert sich, wenn auch nicht als erste, am Ideal der akademischen Freiheit und der Einheit von Forschung und Lehre. Reflexion und Argumentation sollen wichtiger sein als schieres Fakten-Bimsen.
Ab 1819 drehte sich in den deutschen Staaten der Wind, es herrschte ein freiheitsfeindliches Klima. Das Konzept Bildung wurde trotzdem zu einem spezifisch deutschen Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte.