Willam Boyle: "Brachland"

Letzte Ausfahrt Gravesend

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Das Buchcover des Krimis von Willam Boyle, "Brachland". Es zeigt eine Stadtlandschaft bei Nacht. Am oberen Rand steht auf weißem Grund der Name des Autors William Boyle und der Titel "Brachland". Das Buch ist auf der Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur.
© Polar

Willam Boyle

Übersetzt von Andrea Stumpf

BrachlandPolar, Stuttgart 2022

355 Seiten

25,00 Euro

Von Thomas Wörtche · 10.06.2022
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Zwischen Mafia, katholischer Kirche und permanenter Geldnot: William Boyle setzt mit "Brachland" seine Serie über eine Enklave in Brooklyn fort. Wer dieses harte soziale Milieu überlebt, wer stirbt: Das ist nicht von vornherein ausgemacht.
William Boyle ist der literarische Chronist von Gravesend, einem kleinen Zipfel von Brooklyn, ganz unten am Meer. „Brachland“ ist das vierte Kapitel dieses Projekts, das von den „kleinen Leuten“ dort erzählt. Das sind meistens italienischstämmige Menschen, untere Mitteklasse, manchmal hart am Prekariat.
Die Mafia hat das Sagen, aber auch der Obermafioso Big Time Tommy ist eher ein kleines Licht, was ihn nicht daran hindert, Leute umzubringen oder von seinen Schlägertrupps tyrannisieren zu lassen, wenn sie seine Wucherzinsen nicht bezahlen können.

Ex-Cop bei der Mafia

Einer dieser Schläger ist Donnie, einst ein korrupter Cop, wie viele seiner Kollegen, dann Ex-Cop. Er hat einen verschuldeten Lehrer umgebracht, statt ihm nur die Beine zu brechen. Und dieses Ereignis setzt eine Kettenreaktion in Gang, die zwei, drei Jahre später in ein paar Katastrophen endet, die letztendlich alle mit diesem Vorfall zu tun haben, auch wenn das nicht allen handelnden Personen klar ist.
Durchweg alle Personen bei Boyle sind „gebrochene“ Figuren: Donnie, Rosemarie, die klammernde Mutter und ihr Sohn Mikey, dessen Vater Donnie umgebracht hatte, und der mit Donnies Ex Donna und geklautem Mafia-Geld das Weite sucht.
Oder Ralph, der schmierige, korrupte Kumpel von Donnie, der sich – rein platonisch, sagt er – in Antonina verliebt, ein verwirrtes Punkermädchen, die aber letztendlich diejenige sein wird, die aus der Enge von Gravesend herauskommt und etwas aus sich machen kann.

Boyles Brooklyn ist nicht Selbys Hölle

Nicht alle überleben den Roman. Wer lebt, wer stirbt, ist nicht von vornherein ausgemacht. Aber über das Glück, über Scheitern und Verlieren entscheidet das Milieu, in dem sie alle leben. Boyles Brooklyn ist keine Hölle wie bei Hubert Selby, aber es ist eng, die globale Urbanität ist dort nicht angekommen.
Der Zeitgeist manifestiert sich höchstens in den popkulturellen Referenzen, von denen der Roman nur so wimmelt. Und obwohl „Brachland“ Anfang der 1990er-Jahre spielt (und vermutlich mehr Autobiografisches enthält, als Boyle zugeben möchte), ist die herrschende Moral noch extrem konservativ, genauer: katholisch auf der einen Seite, auf der anderen Seite von permanenter Geldnot und organisiertem Verbrechen geprägt.
So gesehen, wäre „Brachland“ schon fast ein klassisch naturalistischer Roman, der die sozialen Verhältnisse (im Originaltitel „City of Margins“ besser gespiegelt) detailrealistisch und ohne jegliche Verklärung penibel beschreibt. Das Milieu begründet in diesem Fall das Genre: Gewalt und Verbrechen sind Gravesend konstitutiv eingeschrieben. Und ein naturalistischer Roman mit diesem Setting kann gar nichts anderes sein als ein Kriminalroman.
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