William Boyd: "Blinde Liebe"

Intrigenreich durch Europa

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Die Uferpromenade der französischen Stadt Nizza. Im Vordergrund der Buchtitel des Romans "Blinde Liebe" von William Boyd.
Ort der Sehnsucht des Fin de Siècle: Nach Nizza kommt Brodie Moncur immer wieder zurück, um sich von seiner Tuberkulose zu erholen. © Kampa / Imago / Artur Bogacki
Von Rainer Moritz |
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William Boyd erzählt in "Blinde Liebe" im Stil der klassischen russischen Literatur die Geschichte einer Affäre, die nur im Geheimen stattfinden kann. Eine Geschichte aus dem Fin de Siècle, die bis zur letzten Seite spannend bleibt.
Es braucht eine ausgesprochen schlechte Laune oder eine tiefe Abneigung gegenüber einem in der Tradition verhafteten, kühne Experimente meidenden Erzählen, um sich von den Romanen des Schotten William Boyd nicht gefangen nehmen zu lassen. Schon nach wenigen Seiten fühlt man sich in seinem narrativen Kosmos zu Hause und nimmt es nicht krumm, dass hier ein souveräner Autor agiert, der nicht auf jeder dritten Seiten sein Tun reflektiert.

Der Provinz entflohen

"Blinde Liebe", Boyds 15. Roman, umfasst die Jahre von 1894 bis 1906 und lässt seinen Protagonisten Brodie Moncur quer durch Europa, ja am Ende sogar bis ins indische Kaiserreich reisen. Als Mittzwanziger setzt Brodie zu Anfang alles daran, der schottischen Provinz und vor allem seinem Vater zu entfliehen, einem despotischen, dem Alkohol hingegebenen Pfarrer, der seinen Sohn aufgrund seiner dunkleren Hautfarbe als "schwarzen Bastard" tituliert.
Brodie erlernt das Handwerk des Klavierstimmers, kommt beim Edinburgher Instrumentenhersteller Channon & Co. unter und bringt es rasch zu vielbestaunter Meisterschaft. Als ihm angeboten wird, in der Pariser Dependance zu arbeiten, ergreift er diese "Chance seines Lebens" sofort und macht sich an seinem neuen Wirkungsort unabkömmlich.

Werben für Klaviere

Zur Begeisterung des Firmeninhabers entwickelt Brodie eine famose Marketingidee: Er will Verträge mit großen Künstlern schließen, die auf ihren Tourneen exklusiv für Channon-Flügel werben. Erster Partner wird der als "irischer Liszt" gefeierte John Kilbarron, der als "Klaviertiger alter Schule" die Channon-Absätze in die Höhe schnellen lässt.
Kilbarron, den sein rüder Bruder Malachi managt, wird von seiner Geliebten begleitet, der überschaubar talentierten Sängerin Lika Blum. Eine Konstellation, die jedoch alsbald ins Wanken gerät. Denn – der Romantitel suggeriert es – Brodie verliebt sich bedingungslos in die undurchschaubare Schöne. Beide sind fortan gezwungen, ihre leidenschaftliche Affäre vor den Kilbarrons geheim zu halten.

Gefährliche Romanze

William Boyd erzählt diese gefährliche Liaison vor dem Hintergrund des Fin de Siècle, ohne dass das historische Kolorit besonders kräftig hervorträte. Nizza, wohin sich der an Tuberkulose erkrankte Brodie zurückziehen muss, St. Petersburg, Biarritz, Triest und immer wieder Paris sind nur einige der Schauplätze, die Brodie aufsucht. Nicht immer freiwillig, denn als seine Beziehung zu Lika ruchbar wird und es zu einem folgenreichen, meisterhaft beschriebenen Duell kommt, ist Brodie ein Flüchtender, der den Zorn der Kilbarrons fürchten muss.
"Blinde Liebe" ist ein intrigenreicher Roman, der reich an Anspielungen auf die russische Literaturgeschichte ist, mit wenigen Strichen das Ambiente ganz unterschiedlicher Städte und Landstriche nachzeichnet, am Ende kriminalistische Motive einbaut und es immer zweifelhafter werden lässt, ob Brodie in seiner "Verzückung" – so der Untertitel – in seiner Liebesblindheit die "vielen Nuancen" seiner Geliebten zu erkennen vermag.
Was von dieser Liebe letztlich bleibt? Das weiß man, wenn man ohne Ermüdungserscheinungen auf der letzten Seite dieses dichten, vergnüglichen Romans angekommen ist, der alles hat, was man "a good read" nennt.

William Boyd: "Blinde Liebe. Die Verzückung des Brodie Moncur"
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Kampa Verlag, Zürich 2019
507 Seiten, 24 Euro

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