William Boyle: Eine wahre Freundin
Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
Polar Verlag, Stuttgart 2020
364 Seiten, 22 Euro
Verwandtschaft und andere organisierte Verbrechen
03:10 Minuten
William Boyle erzählt in seinem neuen Kriminalroman "Eine wahre Freundin" von zwei Frauen, die es nicht nur mit der Mafia aufnehmen.
Auch mit seinem dritten Roman "Eine wahre Freundin" bleibt William Boyle der Chronist der kleinen Leute von Brooklyn. Kleine Leute heißt in diesem Kontext auch immer Mafia, die dort in der Sozialstruktur quasi organisch eingebunden ist. Und Mafia heißt - nicht erst seit den Sopranos - immer ein Vexierspiel mit dem Begriff Familie.
Eine extrem blutige Angelegenheit
Rena Ruggiero ist die Witwe des mittleren Mafiosos Gentle Vic, der vor ihrem Haus erschossen worden war. Ihre Tochter, ihrerseits mit einem Mafioso liiert, will nichts mehr mit ihr zu tun haben, ihre Enkelin Lucia wird von ihr ferngehalten.
Rena ist einsam, deswegen möchte sie aber noch lange nicht von ihrem schmierigen Nachbarn belästigt werden. Sie zieht ihm einen Aschenbecher über den Kopf, klaut seinen Cadillac und macht sich auf, um sich mit ihrer übriggebliebenen Familie zu versöhnen.
Das geht gründlich schief, weil dort der Lover ihrer Tochter auftaucht, der gerade ein paar Mafiakollegen niedergemetzelt hat und sich jetzt mit einem Koffer voller Geld und Renas Tochter absetzen will. Aber seine Nemesis, ein hammerschwingender Killer, ist schon hinter ihm her.
Die Angelegenheit wird extrem blutig, aber da ist schließlich noch die unvermittelt auftauchende Lacey Wolfstein, Ex-Porno-Star und begnadete Betrügerin. Rena und Lacey fühlen sich sofort verbunden und surfen gemeinsam durch die unwahrscheinlichsten Situationen.
Abendmahl zum Abschied
Boyle variiert diese klassische Geschichte um zwei bemerkenswerte Aspekte: Beide Familienkonzepte, das der Mafia und das der bürgerlichen Kleinfamilie, sind dysfunktional geworden. Eine dritte Option erweist sich als tragfähiger: die Wahlverwandtschaft. Diese besteht am Ende auch noch aus einem zufällig aufgesammelten Chauffeur namens Dennis.
Sodann reflektiert der Roman die Rolle von Frauen im Gefüge des organisierten Verbrechens. Rena, die ihrem Gatten eine gute Frau sein will, muss schmerzhaft erkennen, dass sie, indem sie kritiklos in der traditionellen Geschlechterrolle aufgegangen war, den Freiraum geschaffen hat, in dem er seine Untaten im sozialpsychologisch abgesicherten Modus begehen konnte. Von denen hat auch sie materiell profitiert. Mafia und die traditionelle Ehe sind analog toxische Familienkonzepte, die Rena hinter sich lässt und bei einem schon fast sakral inszenierten Abendmahl mit ihren neuen Wahlverwandten zelebriert.
Gewalt als Stilmittel
Zudem kreist Boyles Inszenierung der Geschichte immer wieder um die verschiedenen Modi der Gewaltdarstellung, die in den üblichen Mafianarrativen tradiert sind. Das reicht von schockartiger Eruption über slapstickhafte Passagen bis zu sadistischen Exzessen (der irre Killer mit dem Hammer).
Diese machen deutlich, dass Gewaltdarstellungen immer stilisiert sind, und dass diese Stilisierungen auch da durchschimmern, wo sie parodistisch unterlaufen werden sollen. Aus dieser Falle entkommt Boyle nicht, auch wenn er die anderen Elemente des Romans neu gewichtet, was der große Vorzug des Buches ist.