William Sutcliffe: "Concentr8"

Wehe, wenn sie losgelassen werden

Bei zahlreichen Kindern wird eine Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Zu Recht? (Symbolbild)
In Sutcliffes Dystopie revoltiert eine künstlich ruhig gestellte Generation. © dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
Von Sylvia Schwab |
London in naher Zukunft: "Concentr8", ein Medikament für Kinder und Jugendliche mit ADHS-Syndrom, wurde über Jahre zwangsweise mehr als zehn Prozent aller Kinder verabreicht. Ein Lieferengpass treibt diese künstlich ruhig gestellte Generation auf die Barrikaden.
"Concentr8" ist eine Dystopie, die so nah dran ist an unserer Wirklichkeit, dass sie weitaus mehr verstört als die Dystopien von Suzanne Collins in "Tribute von Panem" oder Mats Wahls "Sturmland".
Sutcliffes Roman spielt in London in einer nicht näher definierten Zukunft. Es herrscht Anarchie, jugendliche Marodeure plündern und zerstören, hilflos versucht die Polizei, die Tumulte in den Griff zu bekommen.
Schnell wird klar, was hinter dem Aufstand steckt: "Concentr8", eigentlich ein Medikament für Kinder und Jugendliche mit ADHS-Syndrom, wurde über Jahre zwangsweise mehr als zehn Prozent aller Kinder verabreicht. Eine politische Entscheidung, um die Ruhe im Land zu bewahren.
Ein Lieferengpass treibt nun diese künstlich ruhig gestellte Generation auf die Barrikaden. Fünf Jugendliche unter ihrem charismatischen Anführer Blaze kidnappen einen städtischen Beamten und verschanzen sich mit ihm in einem riesigen Lagerhallen-Labyrinth. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt William Sutcliffe ein packendes Drama, in dem die Entführer und ihre Geisel, der Bürgermeister, die Polizei und eine Journalistin die Hauptrollen spielen.

Verstörender Blick auf die heutige Realität

Nicht nur die sich soghaft-steigernde Story sorgt für Spannung, sondern auch der verstörender Bezug zur heutigen Realität. Vor jedes Kapitel stellt der Autor ein Zitat aus wissenschaftlichen Untersuchungen, die die Dosierung, Wirkung und gesellschaftliche Relevanz des ADHS-Medikaments "Ritalin" beschreiben. "Concent8" ist eine billigere und wirksamere Variante von Ritalin, seine "positive" wie verheerende Wirkung wird differenziert beschrieben.
Entstanden ist so weitaus mehr als ein mitreißendes Jugendbuch über die verhängnisvolle Union aus Politik, Wissenschaft und Arzneimittelindustrie. Der Roman ist eine Studie über die Entstehung und Wirkung von Macht – im großen wie im kleinen sozialen Gefüge - und ein Gleichnis über die Relativität von richtig und falsch, gut und böse. "Böse" Jugendliche zerstören und kidnappen. Aber letztendlich sind sie nur die Opfer grausamer sozialer Verhältnisse und einer infamen Politik. Der "gute" Bürgermeister dagegen sorgt für Ruhe und Ordnung, indem er eine Generation betäuben lässt.

Macht und Gewalt, Mut und Mitläufertum

Sutcliffe erzählt multiperspektivisch: alle Protagonisten berichten aus ihrer Sicht über die Entführung. Es ist hochinteressant, wie unterschiedlich die fünf Jugendlichen sich selbst und ihre Mittäter und Motive einschätzen. Je weiter man liest, desto schillernder werden die Charaktere. Nur einer ist von Anfang an eindeutig: Blaze, der geborene (Ver-) Führer, ein Machtmensch mit der Energie eines Vulkans, der sich seiner Wirkung voll bewusst ist.
Damit ist William Sutcliffes zweiter Jugendroman nicht nur ein vielschichtiger Thriller mit politischem Impetus, sondern ein Buch, in dem es um Grundsätzliches geht: um Macht und Gewalt, Mut und Mitläufertum - und um Freundschaft. Diese sorgfältig konstruierte Geschichte überzeugt auf ganzer Ebene, auch sprachlich. Ein Buch nicht nur für junge Menschen!

William Sutcliffe: Concentr8
Aus dem Englischen von M. Seibert und K. Kastner
Rowohlt Verlag, Hamburg 2016
302 Seiten, 9,99 Euro

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