William T. Vollmann: "Arme Leute. Reportagen"
Aus dem Englischen von Robin Detje
edition suhrkamp, Berlin 2018
Mit 128 Abbildungen.
448 Seiten 22,00 Euro
Warum, verdammt, bist du arm?
Bittere Erkenntnisse in wunderschöner Sprache: William T. Vollmanns Reportagen fragen nach dem Grund für Armut. Er fragt auch die Betroffenen: von der Straßenhure in Mexiko über die thailändische Putzfrau bis zu den Obdachlosen vor seinem Haus.
Wer ist arm, wer reich? Wie arm ist eigentlich arm? Gemessen an welcher Norm? Und warum sind die Armen arm? Solche Fragen, zu denen es unzählbar viele Abhandlungen, Studien, Berichte, Pamphlete, Parteiprogramme und Thesen gibt, stellte der dichtende Reporter William T. Vollmann an jene, die gewöhnlich niemand fragt: die Armen selbst. Arme in Thailand und Russland, in Vietnam, China, Kasachstan, Pakistan, Jemen und Kongo, in Kolumbien, Afghanistan, Mexiko und Japan. Und in den USA, auf dem Parkplatz vor seinem Haus.
Im ersten Teil seines Buches, das Reportage, Essay und Untersuchung in einem ist, porträtiert er Menschen am unteren Rand der Gesellschaft und denkt über ihre Antworten nach: Eine Putzfrau in Bangkok glaubt, dass alles Schicksal ist, Karma. Eine Straßenhure in Mexiko behauptet, dass alle gleich sind, aber manche Menschen arbeiten hart und nutzen Gelegenheiten und andere können das nicht. Andere anderswo sagen, sie seien arm nach Allahs Willen oder weil die Reichen gierig sind, oder weil ihnen ein Unglück geschah oder weil sie keine Bildung haben und keine anständigen Kleider. Ist es, fragt der Reporter sich und seine Leser, etwa ihr falsches Bewusstsein, das die Armen arm sein lässt und daran hindert, aus dem Elend herauszukommen?
Armut bedeutet auch Unsichtbarkeit
Aufgewachsen ist William Vollmann, Jahrgang 1959, mit dem American Dream, er sympathisiert mit Marx und führt mit Henry Thoreau Amerikas ersten Aussteiger im Munde, für den Besitzdenken der größte Fluch war. Er ist aber zu welterfahren, zu belesen und zu freien Geistes, um irgendein "richtiges" Bewusstsein zu propagieren. Und er nimmt die Menschen, mit denen er in Kontakt kommt, zu ernst. Vor der Theorie kommt die Wirklichkeit, die ihm seine Protagonisten aus aller Welt zeigen.
Vollmann klassifiziert sie und widmet ihnen die Mitte seines Buches unter dem Titel "Phänomene". Armut, das bedeutet Unsichtbarkeit, Unerwünschtsein, Abhängigkeit, Ausgesetztsein, Schmerz, Abstumpfung, Entfremdung. Vollmann ist ein wahrer, wortmächtiger und grüblerischer Empathiker, einer, der zu fremden Menschen Zuneigung fassen kann, der aufrichtig zu verstehen sucht, man könnte auch sagen: Erkenntnis sucht. Auch bei den Taliban und auch bei trinkenden Bettlerinnen.
Hier wird nichts schöngeredet
Gegen Ende seiner vielstimmigen Erkundung stellt er sich dann selbst als "kleinbürgerlichen Immobilienbesitzer" vor, das heißt, er bewohnt in einer nicht so guten Gegend Sacramentos ein ehemaliges Restaurant; den Parkplatz davor bewohnen Obdachlose – seine Gäste.
Er, der "Reiche" wird zum Gegenstand einer Selbstbefragung nach Art Montaignes, den er oft zitiert. Wie ist sein wahres Verhältnis zu "seinen" Armen? Sie verdienen, wie alle Menschen, Respekt, sie riechen unangenehm und benutzen seine Hauswand als Latrine, sie rücken ihm manchmal zu nah, einige von ihnen mag er, mit seinen paar Münzen in ihrer Hand ändert sich für sie nichts. Sein Problem dabei aber ist: Angst. "...weil ich weiß, dass sie etwas von mir wollen, und weil ich glaube, dass sie glauben, dass ich der Feind bin".
Hier wird tatsächlich nichts schöngeredet, aber das Bittere in eine trotzdem wunderschöne Sprache gefasst. Und jede Beschreibung stellt die Frage neu: Warum, verdammt, bist du arm?