William Zimmerman: "Russland regieren. Von Lenin bis Putin"
aus dem Englischen von Claudia Kotte
Verlag Philipp von Zabern Mainz, 2015
512 Seiten, 39,95 Euro
Keine Hoffnung auf Demokratie unter Putin
So kurz die Diktatur des Proletariats nach der Revolution von 1917 war, so kurz dauerte der demokratische Aufbruch nach dem Ende der Sowjetunion. Von Lenin bis Putin, so stellt der amerikanische Politologe William Zimmerman in "Russland regieren" fest, herrschten ununterbrochen autoritäre Regierungen.
William Zimmerman vergleicht Russland nicht mit westlichen Staaten. Vielmehr verfolgt er, wie sich die politischen Systeme der Sowjetunion und der Russischen Föderation im Wandel der Zeit entwickelt haben. Und er unterscheidet dabei zwischen weniger autoritären, voll autoritären und totalitären Phasen.
Das gelingt ihm mit einem detail- und quellenreichen Abriss der Geschichte - angefangen bei der Oktoberrevolution 1917. Spannend - wenn auch nicht immer ganz leicht zu lesen - schildert er beispielsweise, wie Lenin taktierte, um seine Macht kämpfen musste und wie er sich am Ende durchgesetzt hat.
"Die wichtigsten Institutionen der gesamten Sowjetzeit gingen aus einem vierjährigen institutionellen Vakuum von Oktober 1917 bis zum X. Parteitag im März 1921 hervor, als das innerparteiliche Fraktionsverbot und die Neue Ökonomische Politik verabschiedet wurden."
Bald nach der Revolution begann die Repression
Um 1920 leiteten die Bolschewiki die Maßnahmen ein, die zu einer Diktatur über das Proletariat anstelle einer Diktatur des Proletariats führten, schreibt der amerikanische Politikwissenschaftler. Die kommunistische Partei verwandelte sich rasant in einen großen Verwaltungsapparat. Repression war eines der wichtigsten Mittel der Mächtigen.
"Mit Repression und dem Ausbau des Parteiapparats entrechteten, tyrannisierten und schlachteten die Bolschewiki in vielen Fällen diejenigen in Stadt und Land systematisch ab, die sie als ihre Klassenfeinde betrachteten."
In den ersten Jahren der Sowjetunion sei noch eine relativ freie Diskussion innerhalb der Führungselite möglich gewesen, bis diese Ära abrupt geendet habe.
Welche Rolle spielten Partei, Politbüro und Zentralkomitee, welche Rolle die Mitglieder? Wie wurden Funktionäre immer wieder kalt gestellt? Fragen wie diese beantwortet der Russlandforscher an der University of Michigan, indem er darlegt, wie um Macht gerungen, wie Macht erlangt, gesichert und verloren wurde. Dies ist eine der großen Stärken des Buches.
Ausführlich wird auf die Phase der Kulturrevolution, des Großen Umbruchs und des Stalin-Terrors in den 1920er- und 1930er-Jahren eingegangen. Bildung, Wissenschaft und Rechtsprechung, Kunst und Literatur wurden dem Staat untergeordnet. Die Partei trat als Richter über die Wahrheit auf.
Verrat bedeutete Tod unter Stalin
"Da die Unterscheidung zwischen Parteigehorsam und Staatstreue praktisch nicht mehr existierte, war jegliches Abweichen von der Parteilinie nicht nur falsch, sondern Treuebruch und Verrat."
Verrat bedeutete unter Stalin in der Regel den Tod – bis der Diktator selbst starb.
"Dass in einem Machtkampf Unterlegene nicht mehr getötet und unter Umständen nicht einmal mehr ins Exil geschickt oder aus der Partei ausgeschlossen wurden, trug maßgeblich dazu bei, dass sich die Intensität der Politik auf Führungsebene im Zeitraum von 1955 bis 1985 veränderte."
Vielleicht ein wenig zu kurz kommt dieser Wandel in dem Teil, in dem Zimmerman die Phase zwischen Stalin und Michail Gorbatschow analysiert. Dafür folgt darauf der spannendste Teil des Buches: Die Politik rund um den Kreml in der Endphase der Sowjetunion und in den ersten Jahren der Russischen Föderation.
Ausführlich wird die Rolle Gorbatschows als Totengräber der UdSSR und Geburtshelfer Russlands behandelt - genauso wie der Aufstieg Boris Jelzins. Mit ihm habe es schließlich berechtigte Hoffnung gegeben, dass eine Demokratisierung einsetze.
"Verglichen mit den Ereignissen im folgenden Jahrzehnt oder mit anderen post-sowjetischen Ländern schneidet Russland und insbesondere die Präsidentschaftswahl im Jahr 1996 relativ gut ab, wenn wir uns genau ansehen, was das Regime zu diesem Zeitpunkt tat bzw. unterließ, um das Wahlergebnis zu beeinflussen, und wenn wir untersuchen, inwieweit die Bevölkerung in der Lage war, ihre Rolle als Wähler zu spielen."
Aussichten für lebendige Zivilgesellschaft sind düster
Danach wurden demokratische Ambitionen zunichte gemacht. Im Jahr 2000 übernahm Wladimir Putin den Kreml. An der Art, wie er Politik macht und die Zivilgesellschaft drangsaliert, wie er Oligarchen ins Gefängnis brachte oder zur Flucht trieb, wie er Gegenkandidaten jede Chance nimmt oder an der Rolle, die Medien für seine Macht spielen, lässt sich das Russland von heute verstehen.
Ein Tiefpunkt waren für William Zimmerman die Präsidentschaftswahlen 2008. Und auch die Protestwelle vor den Wahlen 2012 vermag sein Urteil nicht abzuschwächen, dass sich da ein autoritäres Regime etabliert habe.
"Zu sehr mangelt es an unabhängigen Institutionen - an uneingeschränkt unabhängigen Gerichten, an wirklich konkurrierenden Parteien neben 'Einiges Russland' bzw. einer möglichen Nachfolgepartei und an unabhängigen Medien - als dass man sich am Ende von Putins derzeitiger Amtszeit ein demokratisches Ergebnis vorstellen könnte."
Zumal die Aussichten für eine lebendige Zivilgesellschaft in den letzten zwei Jahren noch düsterer geworden seien. Aus westlicher Sicht mag diese Entwicklung befremdlich wirken. Im historischen Kontext allerdings lässt William Zimmerman sie als durchaus normal erscheinen.