Willkommen im Club

Von Michael Frantzen |
Das Hochschulbudget wird gekürzt, bei Theatern geknapst: Estland kämpft mit der Krise und fährt einen harten Sparkurs. Nun hofft das Land auf die europäische Gemeinschaftswährung, die 2011 eingeführt wird.
Heiß ist es an diesem Sommermorgen - in Tartu, dem "Oxford des Baltikums", wie die Universitätsstadt im Süden Estlands manchmal genannt wird. Dimitri Selenka lächelt gequält. "Viel zu heiß", meint der 28-Jährige – und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Es ist kurz nach acht. Der schlaksige Familienvater ist seit gut zwei Stunden auf den Beinen – und muss erst einmal warten: Schon am frühen Morgen platzt die "Töötukassa", das Arbeitsamt, aus allen Nähten, sind alle Plätze an den orangenen Schaltern besetzt, die ein bisschen aussehen wie Bienenwaben und an denen meist blondgefärbte Sachbearbeiterinnen stoisch ihre Arbeit verrichten. Dimitri hält seinen Wartezettel hoch: Nummer 28. Wenn er Glück hat, meint er, ist er in einer halben Stunde dran.

"Ich bin hier, weil mein Arbeitsvertrag gestern ausgelaufen ist. Er war auf vier Monate begrenzt. Ich habe auf einer Werft gearbeitet - als Schiffskonstrukteur. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie mich übernehmen, aber daraus ist nichts geworden. Die Werft hat zwar noch Aufträge, aber die meisten laufen in der zweiten Jahreshälfte aus. Na ja, muss ich mir halt etwas neues suchen. Keine Ahnung, ob ich auf die Schnelle etwas finden werde."

Wie Dimitri geht es immer mehr Esten: Gut jeder fünfte steht ohne Job da. Reet Treia kennt die Zahl nur zu gut. Die gelernte Psychologin mit dem Ethno-Schmuck berät im hinteren Bereich der "Töötukassa", in einem Extra-Büro, Unternehmen, die wegen der Wirtschaftskrise Personal abbauen müssen. Zwar schneidet Tartu wegen seiner Universität und den IT-Unternehmen, die sich in ihrem Umfeld angesiedelt haben, bei der Arbeitslosigkeit besser ab als die Hauptstadt Tallinn: Doch auch in der 100.000-Einwohnerstadt schnellte die Quote letztes Jahr von drei auf 12 Prozent hoch – ehe sie sich dieses Jahr bei acht Prozent einpendelte. Schon reden die ersten von einer "Trendwende". "Nur mal nicht so schnell" - hält die Frau vom Arbeitsamt dagegen.

"In gewisser Weise spüren wir die Krise immer noch. Allein in den letzten Monaten sind zwei Großunternehmen in Tartu pleite gegangen. Das kam für uns alle völlig überraschend: Die beiden Firmen galten als sehr effizient. Die eine war ein Bauunternehmen, die andere eine Druckerei, die Kalender und Broschüren für den europäischen Markt hergestellt hat. Denen sind die Aufträge weggebrochen. Außerdem war die Zahlungsmoral der Kunden extrem schlecht. Beide Unternehmen hatten jeweils gut hundert Mitarbeiter. Die stehen jetzt auf der Straße. Also, die Krise macht sich immer noch bemerkbar."

"Die Krise" - dieses Wort nimmt Kristian Haller nur ungern in den Mund. Will ja auch auf den ersten Blick nicht so recht passen in die auf Erfolg getrimmte Welt des Physikers. Der Mittfünfziger ist Vizerektor der "Universität von Tartu". Als solchem steht ihm ein stattliches Arbeitszimmer im strahlend weißen, neoklassizistischen Hauptgebäude in der Altstadt zu. Moderne Kunst an den Wänden. Dazu gediegene Büromöbel plus meterhohe Decken und Fenster, aus denen der Blick auf den hügeligen Universitätspark fällt, wo sich die Studierenden unter jahrhundertealten Eichen auf die nächste Vorlesung vorbereiten. Oder einfach nur in der Sonne vor sich hin dösen.

Kristian Haller hat für so etwas keinen Sinn. Schließlich hat er großes vor:

"Wir konzentrieren uns auf drei Aspekte: Wir müssen – erstens – akademisch Weltspitze sein. Wir müssen in der Lage sein, mit den besten Universitäten weltweit zu konkurrieren. Zweitens müssen wir uns als Universität eines kleinen Landes auf einige Nischen konzentrieren. Also Bereiche, in denen es international eine Nachfrage gibt. Und drittens: Die Nachfrage muss groß genug sein, dass nicht nur internationale Kunden zu uns kommen, sondern auch ausländische Wissenschaftler, um bei uns zu forschen. Alle Bereiche, auf denen wir unsere Hauptaugenmerk werfen, müssen im höchsten Maße international sein."

Betont der Universitätsmann – nur um hinzuzufügen, schon jetzt kämen 15 Prozent der Forschungsgelder aus dem Ausland. Und wenn Haller, dessen Handy innerhalb von fünf Minuten gefühlte zehn Mal klingelt, dann auch noch anfängt, von den 95 EU-Forschungsprojekten zu reden, an denen seine Uni beteiligt ist – von den über 300 internationalen Veranstaltungen letztes Jahr ganz zu Schweigen - dann ist sie auf einmal in weite Ferne gerückt: Die Krise. Doch das täuscht. Auch Hallers Universität ist nicht ungeschoren davon gekommen: Um vier Prozent kürzte der estnische Staat dieses Jahr ihr Budget. Zu allem Überfluss stellt sich jetzt auch noch die Industrie quer.

"Die Unternehmen bestellen nicht mehr so viel bei uns wie noch vor zwei Jahren. Die Aufträge sind zurückgegangen – keine Frage. Unsere Labore beispielsweise haben weniger zu tun. Gott sei Dank sind die Fördergelder aus den internationalen Töpfen und denen der EU konstant geblieben. Da gab es keine Einsparungen. Das hat uns sehr geholfen."

Auf die EU setzt auch das "Estnische Genom Zentrum" der Universität von Tartu. So protzig das Hauptgebäude der Universität daherkommt, so unscheinbar wirkt die Biobank. Wenn nicht gerade ein Hinweisschild den Weg weisen würde, könnte man den schlichten Flachbau unweit vom Arbeitsamt glatt übersehen: Im zweiten Hinterhof, jenseits der Mauern, auf dem Nachbargelände, stapeln sich die Schrottwagen eines Autofriedhofs. Nicht gerade die allerbeste Adresse. Und auf Dauer viel zu klein. Schon seit längerem drängt Institutsleiter Andres Matspalu darauf, in ein geeigneteres Gebäude umzuziehen. Nächstes Jahr ist es so weit.

"Zumindest etwas", meint Matspalu, der mit seinem zerzausten Haar und dem bunten 90er-Jahre-Hemd ein bisschen so wirkt, als habe ihn ein Hollywood-Filmdirektor für die Rolle des zerstreuten Wissenschaftlers gecastet. Auch an seinem Institut haben sie den Gürtel enger schnallen müssen: Zehn Prozent weniger Geld von der Universität gab es dieses Jahr, zwei Sachbearbeiterinnen mussten entlassen werden. "Ohne die EU", erklärt er, "wäre alles noch schlimmer gekommen."

"Letztes Jahr sind wir von der EU als eines von 17 Projekten zu einem regionalen Exzellenzzentrum ernannt worden. Das hatte handfeste finanzielle Vorteile für uns: Es gab 1,3 Millionen Euro aus Brüssel. Wir sind jetzt schon eine der größten Biobanken Europas. 50.000 Menschen sind bei uns mit ihrem genetischen Fingerabdruck gespeichert. Wir erfüllen damit eine wichtige Rolle in Europa. Wir sind Teil eines EU-Netzwerks, wir tauschen uns regelmäßig mit unseren Partnern aus – auch wenn wir immer noch dabei sind, unser Datenbank auszuweiten."

Auf EU-Gelder kann Tiit Ojasoo in der 180 Kilometer von Tartu entfernten estnischen Hauptstadt Tallinn nicht bauen. Aber er ist ja auch nicht Wissenschaftler an Estlands renommiertesten Forschungsinstitut, sondern Direktor von "NO 99", dem angeblich "modernsten Theater von Tallinn". In der alten Hansestadt orientieren sich die jungen Leute gen Norden, nach Finnland; sprechen die meisten fließend Englisch und kommunizieren vorzugsweise in schicken Cafés wie dem "Reval" per Skype, dem Internet-Telefondienst, mit dem Rest der Welt.

Skype: Eine estnische Erfindung. Den Hinweis kann sich Tiit Ojasoo nicht verkneifen. Es sind gerade die jungen, gut ausgebildeten Leute, die in sein Theater kommen – einen ehemaligen Offiziersclub aus Sowjetzeiten im Zuckerbäckerstil; Leute, die eigentlich nicht ins Theater gehen. Sie kommen, um sich Rainer Werner Fassbinders kontroverses Stück: "Der Müll, die Stadt und der Tod" anzuschauen oder schlagzeilenträchtige Happenings wie die kulturkritische Performance "Wie man einem toten Hasen Bilder erklärt".

Jedes Stück, meint der Direktor des 40-köpfigen Ensembles, solle provozieren; und sich anfühlen, als ob es das letzte sein könnte. Deshalb auch der Name: "NO 99" - Nummer 99. Seit Gründung des Theaters vor sechs Jahren wird runter gezählt. Jede Aufführung erhält eine Nummer, aktuell sind sie bei Nummer 75 angelangt. Bei Null soll Schluss sein mit dem Theater.

"Verglichen mit 2008 mussten wir dieses Jahr mit 17 Prozent weniger Geld vom Staat auskommen. Wir sind halbwegs über die Runden gekommen, weil wir noch Reserven hatten. Aber die sind jetzt aufgebraucht. Wir machen uns schon Sorgen, was nächstes Jahr sein wird. Unser Theater ist klein, beim Personal können wir wirklich nicht sparen. Unsere Gehälter haben wir schon gekürzt. Um durchschnittlich zehn Prozent. Wir haben es sozial verträglich gemacht: Die, die mehr verdienen, müssen mehr abgeben, Kleinverdiener weniger."

Seinen größten Coup landete "NO 99" diesen Frühling: Was ist das nun?, fragte sich halb Estland angesichts der Fernsehbilder eines gut inszenierten Pseudoparteitags. Eine mit allen Wassern gewaschene neue politische Bewegung? Oder gutes Theater? Ende März hatten Tiit und Co. ihr Projekt "Bündnis Einheitliches Estland" ins Leben gerufen – mit professioneller Internetwerbung und einer pathetischen Parteihymne. Zum krönenden Abschluss, dem "Gründungsparteitag", strömten am 7. Mai 7000 "Anhänger" in Estlands größte Halle, die "Saku Suurhall" – um Tiit und seinen als Politikern daherkommenden Schauspielern zu lauschen - und um eine Illusion reicher zu sein: Das ganze war ein Fake, um den etablierten Parteien, all den Marktliberalen und Nationalkonservativen, einen Spiegel vorzuhalten.

"Als wir mit unserer 'Partei' an den Start gegangen sind, haben wir gesagt: Wir gründen eine Partei, wie man sie sich dümmer und arroganter nicht vorstellen kann. Mit lauter populistischen Forderungen. Die Banken sollen ihren Kunden all ihre Hypotheken-Schulden erlassen. Oder: Der estnische Staat soll jedem Bürger kostenlos Land zur Verfügung stellen. Wie sich schnell herausstellte, kamen wir damit ziemlich gut an. Hunderte, ach was: Tausende wollten wissen: 'Und?! Wann gründet ihr endlich eure Partei? Wir würden euch sofort wählen.' Dabei haben wir doch nur versucht, so korrupt und dumm wie die etablierten Parteien rüber zu kommen."

Tiits "Lieblingsfeind": Das ist die neoliberale Regierung von Ministerpräsident Ansip. Als Reaktion auf den Einbruch des Bruttosozialprodukts letztes Jahr um 14 Prozent verordnete sie dem Land einen Sparkurs von fast griechischen Dimensionen: Sozialleistungen und Renten wurden massiv gekürzt; Beamten das Gehalt gestrichen, der Kündigungsschutz kurzerhand abgeschafft.

Im Nachbarland Lettland flogen wegen ähnlicher Sparmaßnahmen Steine; in Estland blieb es ruhig: Keine Demonstrationen, nicht einmal im Parlament regten sich kritische Stimmen. Es ist genau diese "Apathie", die Oppositionelle wie Tiit mit seiner Pseudopartei in Tallinn auf den Plan ruft.

In Tartu - Estlands inoffizieller "Intellektuellen-Hauptstadt" - weht ein anderer Wind. Mögen Kritiker wie die Theaterleute in Tallinn auch noch so sehr über "neoliberale Kürzungsorgien" lamentieren: Für Kristian Haller von der "Universität von Tartu" ist der Sparkurs "alternativlos". Nur so – doziert der Vizerektor, in dessen Büro sich die Aktenordner mit Statistiken über die "Performance" seiner Universität nur so stapeln – habe sein kleines Land das geschafft, wovon die beiden anderen baltischen Staaten, Lettland und Litauen, nur träumen können: Den Eintritt in den Club der Euro-Länder. Im Juni gab die EU-Kommission grünes Licht, Anfang 2011 löst die Gemeinschaftswährung die estnische Krone ab.

"Der Euro ist auf jeden Fall ein Vorteil für uns. Durch ihn können wir noch besser wirtschaften, der Handel mit den EU-Ländern wird noch einfacher. Für mich ist der Euro eine Art Eintrittskarte. Er ist das Symbol, dass wir im Club der entwickelten Länder angekommen sind. Technisch verändert sich kaum etwas. Unsere Krone war ja von Beginn an erst an die Mark und dann an den Euro gekoppelt. Wir haben schon immer nach den Vorgaben des Euro gewirtschaftet."

In Tartu ist der Euro jetzt schon allgegenwärtig: Überall in der Stadt künden poppige Plakate von der neuen Währung, sind die Preise in den Supermärkten nicht nur in Kronen ausgeschildert, sondern auch in Euro.

"Ich denke, der Euro macht sich jetzt schon positiv bemerkbar. Dass die EU in Brüssel uns in den Euroraum aufgenommen hat, ist ein Vertrauensbeweis."

Findet auch Reet Treia, die Frau von der Töötukassa, dem Arbeitsamt von Tartu .

"Investoren wissen das zu schätzen, sie schöpfen wieder mehr Vertrauen in unsere Wirtschaft. Wir spüren das auch hier in Tartu: Ich bekomme jetzt wieder mehr Anfragen aus dem EU-Ausland von potentiellen Investoren."

Kurz nach halb zehn morgens: Dimitri Selenka hat es geschafft. Er hat endlich seine Unterlagen im Arbeitsamt von Tartu abgeben können. Wenn alles glatt läuft, bekommt der 28-Jährige bald Arbeitslosengeld – maximal ein Jahr. Zehn Minuten hat das Gespräch mit der Sachbearbeiterin gedauert. Nicht gerade lang, aber immerhin hat er jetzt eine Idee, was er vielleicht machen könnte, wenn es nicht klappen sollte mit einem neuen Job.

"Ich habe an der Universität hier in Tartu Chemie studiert, aber nicht abgeschlossen. Unser Sohn ist damals zur Welt gekommen, da wollte ich lieber etwas verdienen. In den Boomzeiten konntest du auf den Werften richtig gut Geld machen. Na ja, die Zeiten sind vorbei. Seit diesem Jahr, habe ich gerade erfahren, bietet der Staat Studienabbrechern an, ihr Studium zu beenden. Ich sollte wirklich meinen Abschluss nachholen. Vielleicht habe ich ja als Chemiker bessere Chancen, einen Job zu finden."

Für sein Studium müsste Dimitri nichts zahlen: Vater Staat erlässt ehemaligen Studienabbrechern die Gebühren. Auf lange Sicht, hat Ministerpräsident Ansip verkündet, solle sich Estland in eine "Wissensgesellschaft" verwandeln. Um ein Zeichen zu setzen, verschonte seine Regierung die Bildungsausgaben im Haushalt 2011 vor Kürzungen. Dimitri kann das nur recht sein. Erst einmal will der junge Este aber nur eines: Möglichst schnell raus aus dem überhitzten Arbeitsamt. Draußen, auf der Treppe, warten schon seine Frau Irina und ihr kleiner Sohn auf ihn.