Wim Wenders über Anselm Kiefer
Obsessiver Künstler und Universalgelehrter: Anselm Kiefer in Wim Wenders Film "Das Rauschen der Zeit". © picture alliance / Everett Collection / Courtesy Everett Collection
Kein ganz typischer Künstlerfilm
Wim Wenders hat seinen Freund Anselm Kiefer in dem Film "Anselm - Das Rauschen der Zeit" porträtiert. Er zeigt einen produktiven, obsessiven Künstler, der sich an der deutschen Geschichte abarbeitet.
Er ist ein ewig Suchender, ein jung gebliebener Wilder, der sich an der deutschen Vergangenheit abarbeitet und immer wieder die NS-Verbrechen und ihre Folgen in gigantomanischen Kunstwerken reflektiert: Anselm Kiefer, Jahrgang 1945, ist einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartskünstler.
Kiefer, der seit 1993 in Frankreich lebt und arbeitet, ist Stammgast bei internationalen Kunstausstellungen wie der Documenta oder der Biennale in Venedig. Seine Werke hängen in zahlreichen Museen Europas, Japans und der Vereinigten Staaten. 2023 wurde er mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.
Auf seinem Ateliergelände in einem Vorort von Paris – 36.000 Quadratmeter in den ehemaligen Lagerhallen eines alten Kaufhauses – entstehen seine großflächigen Kunstwerke. Die Leinwände ätzt er, arbeitet auf ihnen mit Stroh, Holz und Stoff, nur um sie dann mit einem Flammenwerfer wieder zu versengen.
Provokateur mit Hitlergruß
Zumindest in seiner Anfangszeit wurde der Künstler in Deutschland wenig geschätzt. Er galt als unbequemer Provokateur, der bei seinen Auftritten in TV-Sendungen oder in der Öffentlichkeit niemals Ruhe gab, wenn es ums Erinnern an die NS-Zeit und um die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration ging.
Unvergessen ist eine Serie von acht Fotografien und Gemälden, die den Künstler selbst vor Gebäuden der Zeitgeschichte in verschiedenen europäischen Ländern zeigen: Er trägt auf ihnen die alte Wehrmachtsuniform seines Vaters und zeigt den Hitlergruß.
Hommage an den Freund
Kiefers Freund, der Filmemacher Wim Wenders, international ebenso begehrt und renommiert, teilt mit ihm das Geburtsjahr, die Liebe zur Kunst und das Hadern mit dem Nachkriegsdeutschland.
Es war wohl nur eine Frage der Zeit, wann Wenders dem Weggefährten ein Filmporträt widmen würde. Der Film „Anselm – Das Rauschen der Zeit“, der seine Premiere bei den Filmfestspielen in Cannes feierte und nun in den deutschen Kinos läuft, ist eine Mischung aus Spielhandlung, historischen Fernsehaufzeichnungen und Interview-Sequenzen. Auch Kiefers Sohn Daniel und Wenders Neffe Anton kommen zu Wort.
Die eigene Welt, düster und schroff
Der Film vermittelt einen schlaglichthaften Blick auf Kiefer inmitten seiner grotesk-brachialen Skulpturen und Bilderwelten, die sich mit Krieg, Gewalt und den Nachwirkungen der NS-Zeit beschäftigen. Dabei kommt die 3D-Technik des Films sehr eindrucksvoll zur Geltung, findet unser Filmkritiker Patrick Wellinski: „Es wirkt, als würde Kiefer in seiner Kunst leben, als hätte er sich eine eigene Welt geschaffen: düster und traurig, schroff und heftig.“
Der Künstler sinniert im Film über die geologische und kosmische Geschichte der Erde, ihre Rauheit und ihre Ausmaße. Der Mensch, sagt Kiefer, sei in diesem Kontext nur ein Atom: „Das ist nicht einmal ein Tropfen im Regen.“
Blick in den Abgrund deutscher Geschichte
Entsprechend „erdig“ und rau wirken Kiefers Kunstwerke. Seinen furchtlosen Blick in den Abgrund der deutschen Geschichte – seine Lebenserfahrungen – „fräst Kiefer regelrecht in seine Bilder hinein“, sagt Wellinski.
Kiefer ist ein obsessiver Künstler, der die Vergangenheit und ihre Wirkung auf das Heute als sein Lebensthema verfolgt. Für Wim Wenders ist der Freund aber nicht nur ein Künstler, sondern, wie er sagt, „ein Universalgelehrter“.
Celan und Bachmann als Flüstern
In Kiefers Werken finden sich Literaturzitate von Ingeborg Bachmann oder Paul Celan, die im Film im Hintergrund geflüstert werden - wie die Geister, die Kiefers Kunst beseelen.
Diese Werke „lesen“ sich wie ein stetiges Mahnen an Politik und Gesellschaft, verbunden mit der Frage: Ist Kunst nach dem Horror des Nationalsozialismus, nach all dem Morden, noch möglich, und wenn ja, wie?
Für unseren Kunstkritiker Carsten Probst gelingt es dem Film, durch „eine starke atmosphärische Überzeichnung“ eine Entsprechung zu Kiefers Werk zu finden. „Das ist ein typischer Künstlerfilm: Der Künstler, einsam in seinem Atelier, beim Schaffen und Sinnen sozusagen eingefügt in die Präsentation der Werkphasen.“
Das Atelier als Bühne
Teilweise sei Wenders Werk allerdings dann wiederum doch kein typischer Künstlerfilm, weil er sich im Verlauf immer stärker vom Dokumentarischen entferne. Das Atelier und die von Kiefer geschaffenen Kunstorte würden mehr und mehr zur Bühne, auf der Kiefers Lebensphasen rekapituliert würden, so Probst.
Konsequenterweise wird er von verschiedenen Schauspielern dargestellt, von seinem eigenen Sohn zum Beispiel, als junger Anselm: „Am Ende überschneiden sich dann diese Ebenen sogar - der echte, fast 80-jährige Kiefer begegnet sich selbst, quasi als Kind, und verwandelt den Film dadurch endgültig in eine fast traumartige Fantasie.“
mkn, kna