Wimmelbuch für Erwachsene

Ralf Grauel im Gespräch mit Ute Welty |
Die Welt ist zu komplex, um sie einfach zu verstehen - deshalb gibt es für Kinder die so genannten Wimmelbücher, in denen es vor Menschen, Tieren und Dingen einfach nur so wimmelt. So ähnlich funktioniert auch das Deutschland-Buch - nur, dass es dort vor Fakten wimmelt.
Ute Welty: Deutschlandradio Kultur bekommt an diesem Montagmorgen richtig Gewicht, und zwar in Form von zwei Kilo Buch am Stück. "Deutschland verstehen" – das ist ein Lese-, Lern- und Anschaubuch, oder auch ein "Wimmelbuch" für Erwachsene, herausgegeben von Ralf Grauel und Jan Schwochow, und Ralf Grauel ist zu Gast im Studio. Guten Morgen!

Ralf Grauel: Guten Morgen!

Welty: Zwei Kilo, 240 Seiten und unendlich viele Zahlen und Zeichnungen. "Deutschland verstehen" wartet mit Fakten auf über das, was wir lieben und fürchten, erklärt den Reichstag und den Palast der Republik und verrät auch das, was die Deutschen offenbar besonders gut können. Sie, Herr Grauel, können offenbar vor allen Dingen zusammentragen und fleißig sein. Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, das alles zusammenzustellen?

Grauel: Ja, das war es auch. Aber es hat vor allen Dingen irre Spaß gemacht. Wir wollten ja dieses Buch machen, es ist konzipiert als Wimmelbuch für Erwachsene, das soll es auch tatsächlich sein, also ein Buch, in dem man Deutschland entdecken kann, durch Deutschland auf eine Reise gehen kann, also wir wollten so ein Staunbuch machen. Und dann haben wir ganz viele Kollegen angesprochen, Infografiker und Kollegen in Redaktionen, die wir alle kennen, und haben gesagt, gebt uns doch mal eure Grafiken, diese Schaubilder, die Bilder, die ihr nur einmal veröffentlicht und dann sind die wieder weg, dann sind die im Archiv oder in den Schubladen, schickt uns die mal. Das haben die alle gemacht und dann haben wir uns die angeguckt und dann hatten wir viel zu viel Material, das war irre. Und dann haben wir ausgewählt, gesiebt, gesiebt, gesiebt, gesiebt, und dann haben wir umgebaut, umgebaut und so weiter und so fort.

Welty: Aber Sie schmücken sich schon ein bisschen mit fremden Federn, oder?

Grauel: Neee.. Also ja, vielleicht. – Sie wollen jetzt wissen wahrscheinlich, wer mitgemacht hat. Ja, wir haben Grafiken vom "Stern", wir haben Grafiken, die schon mal in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurden, oder in der "Berliner Morgenpost", oder auch in der "Bild"-Zeitung, wobei aber die Hälfte von diesen Grafiken, die bei den anderen Kollegen veröffentlicht wurden, dann wiederum von meinem Mitherausgeber Jan Schwochow kommen und Jan Schwochow wiederum ist der renommierteste Infografiker Deutschlands. Der hat die Infografik-Abteilung vom "Stern" geleitet, der war in einem großen Design-Büro, der hat seit fünf Jahren ein eigenes Büro hier in Berlin, da sitzen zehn Leute und die machen nichts anderes als Infografik.

Welty: Die Kanzlerin verlässt sich auch auf ihn und hat auf dem letzten Weltwirtschaftsgipfel anhand seiner Infografiken die Euro-Krise erklärt. Weiß man etwas über den Erfolg dieser Veranstaltung, hat das irgendjemand besser verstanden mit Hilfe dieser Grafiken?

Grauel: Da gehe ich mal schwer von aus. Zumindest kann ich Ihnen sagen, dass ich die Euro-Krise durch Jans Schaubild besser verstanden habe. Wir reden ja hier jetzt, wenn wir über Infografik reden, nicht über diese kleinen komischen Säulen oder Börsenkurven, …

Welty: Kein Balkendiagramm?

Grauel: …, oder Balkendiagramme oder eine Torte oder so Geschichten, sondern wir reden wirklich über Schautafeln, die komplexe Dinge komplex belassen, die mir aber als Betrachter die Möglichkeit geben, einzusteigen wo ich möchte. Sie können also nicht linear verstehen.

Welty: Noch mal zurück zum Warum. Warum sind Sie hingegangen und haben das alles gesammelt? Ist das eine nicht ausgelebte Sammelleidenschaft als Kind, oder steckt ein anderes Trauma dahinter? Wieso geht jemand hin und versucht, so viel Wissen wie möglich anzuhäufen?

Grauel: Trauma – streichen Sie das A weg, dann sind Sie beim Thema. Ich glaube, es war tatsächlich schon immer mein Traum. Ich habe als Kind eine Weltkarte als Schreibtischunterlage gehabt, ich kann bis heute alle Hauptstädte der Länder dieser Erde auswendig und ich bin schon immer in Trance verfallen, wenn ich ein Bild vor mir hatte, das mir was erklärt. Lustigerweise geht das ganz vielen Leuten so.

Welty: Was ist Ihr Lieblingsfakt, Ihre Lieblingszeichnung im Buch?

Grauel: Oh, das ist schwierig. Es gibt diese Weltkarte, die Welt aus deutscher Sicht, die ist total bescheuert. Wir haben quasi alle Klischees, die wir als Deutsche über die Welt haben, gesammelt und auf einer Karte gemacht. Die ganze USA ist da nur Facebook. Ich persönlich finde die Penis-Vagina-Seite ganz toll. Zum Thema Sex haben wir einfach mal den deutschen Durchschnittspenis erigiert abgebildet und die deutsche Durchschnittsvagina, die ist zehn Zentimeter lang, und auf eine Doppelseite gefasst. Und das Tolle ist: wenn Sie die Seite im Büro zeigen und die Männer schlagen die dann auf, jeder sieht dann diesen Penis und es sagt aber niemand dann, "ach, der ist aber groß", oder "ach, der ist aber klein".

Welty: Wer sich in Fakten begibt, der kann auch darin umkommen, und es gibt immer einen, der das besser weiß. Wie schützen Sie sich vor Fehlern?

Grauel: Wir gucken nach, wir gucken noch mal nach, wir gucken dann noch mal nach, und dann kommt jemand, der noch mal nachguckt, und dann gibt es jemand, der zufällig noch mal guckt, und dann fällt uns noch mal ein Fehler auf. Zu einem Zeitpunkt zum Beispiel ist uns aufgefallen, dass irgendwer im Tiefschlaf eine Grafik gebaut hat, und da war dann die Hauptstadt von Sachsen nicht Dresden, sondern Halle. Also irgendwer hat da eine falsche Hauptstadt eingebaut und das ist ganz spät aufgefallen. Aber so was passiert immer, das kennt ja jeder, der produziert oder schreibt.

Welty: Ralf Grauel, einer der beiden Herausgeber von "Deutschland verstehen". Ich danke fürs Gespräch, das wir aufgezeichnet haben.

Grauel: Bitte schön!

Welty: Und ich möchte noch die Fakten zum Faktenbuch nachtragen. "Deutschland verstehen" erscheint genau heute im Gestalten Verlag, hat 240 Seiten und kostet 29,90 Euro.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.